
Der verwaltete Eros (Teil 2)
Vor nicht allzu langer Zeit habe ich einem Blogpost ein Zitat von Hakim Bey vorangestellt: "Wir haben keine Begierden. Wir sind die Opfer von Mißbrauch." Der Text beschäftigt sich mit den medialen Auswüchsen von Heuchelei und Doppelmoral im Bereich der Sexualität. Es ist genau diese unsägliche Doppelmoral, die sich durch alle derzeitigen Diskussionen über angeblichen oder tatsächlichen Sexismus zieht. Schräge bunte Mädchen, augenscheinlich ohne jegliche Lebenserfahrung queerfeministisch dahertheoretisierend, glauben Männer für alles und jedes verantwortlich machen zu können — alte weiße Männer, versteht sich. [1] Kommen dagegen Hunderttausende junge Männer aus mittelalterlichen Kulturen ins Land, die schon in ihrer Kindheit auf eine unterdrückte, tabuisierte, gewalttätige Sexualität konditioniert wurden, verfällt diese Art von kämpferischer Feministin in eine merkwürdige Kaninchenstarre, in der sie unfähig ist, auch den krankhaftesten Frauenhass und die damit verbundenen Verletzungen der Würde von Frauen auch nur im Ansatz zu thematisieren. [2]
Gelegentlich taucht die Ansicht auf, ins Extrem gesteigerte Kampagnen wie #metoo würden unbedacht die sexuellen Freiheiten gefährden, die vorherige Frauengenerationen gerade erst erstritten hatten. Das stimmt zwar, aber es geschieht nicht unbewusst und nebenher, sondern gewollt und absichtlich. Wir steuern ungebremst auf eine Gesellschaft ähnlich der des Viktorianismus zu, in der man angeblich sogar die geschwungenen Beine von Klavierflügeln verhüllte, um keine obszönen Gedanken zu provozieren. [3] Doch anders als im England des 19. Jh. geht es heute nicht mehr nur ausschließlich um eine besonders krasse Form puritanischer Hypermoral. Zu den regulatorischen Absichten des Staates und der Unterdrückung durch Religion gesellen sich in bester Einvernehmlichkeit der kapitalistische Warenfetischismus, sowie verschiedene totalitäre Ideologien [4] hinzu, die von der Formung eines neuen, quasi reinen Menschen träumen, dessen Haltung und Gesinnung nicht nur unbefleckt von falschen Meinungen und Gedanken ist, sondern auch von unkontrollierbaren Fantasien und Begierden. Wenn wir diese vier als getrennte Akteure personifizieren, so vereint sie die Überzeugung, dass Sexualität nicht als glückbringend, bereichernd, lebensbejahend, gesund, natürlich usw. betrachtet werden darf, sondern als eine Gefahr, die verschiedenen Sicherheitsdoktrinen und Kontrollen zu unterwerfen ist oder gar als Krankheit oder Pathogen, die oder das man ausmerzen muss. Der Kapitalismus bildet da eine gewisse Ausnahme von der Regel, da er nicht auf die Unterdrückung oder Eliminierung von Sexualität abzielt, sondern auf deren Verwertung. Der sexuelle Akt zwischen zwei oder mehreren Menschen bedarf keiner kapitalistischen Vermittlung und ist daher dem kapitalistischen System suspekt. Der "Markt" verlangt zwingend danach, jeden Bereich des menschlichen Lebens in Profit zu verwandeln. Sich liebende und sexuell begehrende Menschen tun verrückte Dinge. Sie sind schlechte Arbeitssklaven, abgelenkt, ungehorsam und stellen andere Werte in den Mittelpunkt ihres Handelns. Sie müssen daher von ihrem Begehren entfremdet und der "symbolischen Vermittlung" der "Totalität" unterworfen werden. [5] Statt auf eine befriedigende Art und Weise meine Lust auszuleben, kaufe ich mir frustriert als Ersatz ein neues Handy oder das zwölfte Paar Schuhe. Sahnetorte, Handtaschen oder Aktien gehen auch. Die ungefilterte, unvermittelte und nicht symbolhafte Begegnung mit Menschen wird durch die Begegnung mit Waren ersetzt. [6]
Man muss sich außerdem vergegenwärtigen, dass der virtuelle Raum der perfekte Ort der Entfremdung von sich selbst ist. Ich weiß, das wird den Netzenthusiasten und Digital Natives nicht gefallen. Bey schreibt in "Grenzverletzungen": "Der virtuelle Raum schlägt vor, dass das Leben nicht im Körper, sondern im Geist sei. Und der Geist ist ... unberührt." Vielleicht ist hier das eigentliche Problem der nachwachsenden Generationen angesiedelt, deren Leben von klein auf auch im Virtuellen stattfindet. Die virtuelle Existenz ist gefahrlos, nichtinfektiös, irreal, anonym, meta- oder asexuell und bietet eine ganze Reihe symbolischer Vermittlungen an, nach denen unsere Frustration so dringend verlangt. [7] Mit nur wenig Aufwand kann ich sie zudem so filtern, dass mir darin nichts Unerwartetes, Feindliches oder Erschreckendes mehr begegnet. Die sprichwörtliche Filterbubble der virtuellen Nischen und Plattformen wird so in einem schleichenden Prozess infantiler Regression zum Uterus, in dem ich wieder Fötus sein darf — warm, weich, abgegrenzt und sicher. Werde ich darin gestört und sei es auch nur durch ein falsches Wort ("Hassrede"), reagiere ich wie ein kleines verzogenes Kind mit störrischer Aggression. Diese Aggresssion kann sich in voller Wucht ausleben und entladen, weil sie ebenfalls virtuell bleibt. Auf offener Straße sich gegen einen brutalen Vergewaltiger zu wehren, erfordert Mut und Kraft. Im Netz herumzuplärren, erfordert nicht mehr als einen passenden Hashtag.
Das alltägliche Leben mit seinen Unwägbarkeiten findet jedoch hier statt, nicht hochgeladen in die Clouds und Netzwerke. Alle oben genannten Akteure ersetzen das Blut in den Adern ihrer verunsicherten Zöglinge durch Angst. Der Staat erzeugt Kontrolle durch die Angst vor (juristischer) Strafe und sozialem Abstieg. Die Religion bietet ein ganzes Arsenal an Ängsten, Höllen und Verdammnis an, falls man nicht gewillt ist, sich dem "Willen Gottes" zu unterwerfen. Im Kapitalismus werden die Menschen durch die Angst vor Ausgrenzung aus der schönen bunten Warenwelt getrieben. Angst ist hier immer Verlust — Verlust an Eigentum, Status, Geld, Macht, Leistungsvermögen. Totalitäre Ideologien schliesslich bieten kollektivistische Ängste an, Verbannung aus der schützenden Masse, Angst das Falsche zu denken, Angst nicht angepasst genug zu sein, Angst vor Überwachung und Denunziation. Diese Ängste, fehlende Selbstwahrnehmung, übersteigertes Identitätsdenken bei gleichzeitiger identitärer Verunsicherung, die Weigerung erwachsen zu werden und für sich selbst Verantwortung zu übernehmen — all das führt dazu, dass jedes Kompliment und jeder Kontaktversuch (und sei er auch noch so schüchtern oder tölpelhaft) nun als Frontalangriff und Grenzüberschreitung angesehen werden. "Die Grenze ist keine Haut, die gestreichelt werden kann, sie ist eine Barriere." [8] Sie trotzdem zu berühren, bedeutet eine Verletzung, ein Verbrechen, eine Kriegshandlung — keinesfalls aber Verbindung, Liebe, Harmonie oder Übereinkunft. Gesunde, normale, natürliche Beziehungen gibt es nicht mehr. In der feministischen Doktrin, die die Deutungshoheit über diese Dinge beansprucht, ist alles Missbrauch. Jeder übt Missbrauch aus oder kann zum Opfer von Missbrauch werden. [9]
In der neuen Gesellschaft von heute mit ihrem dichotomischen Hang zur technokratischen Rationalität auf der einen Seite und einer ausufernden, angstbesetzten Irrationalität auf der anderen Seite ist das Unbewusste zu einer Art Irrglauben geworden. Damit ist auch die Verdrängung ins Unbewusste verdrängt worden und hat einer falschen Pseudo-Vernunft Platz gemacht, die ihren perfekten Ausdruck in verschiedenen "richtigen" Gesinnungen findet. Der totalitäre Zeitgeist glaubt allen Ernstes, die korrekte ideologische Überzeugung über die Biologie stellen zu können. [10] Wir finden hier die Parallele zur Religion, die den einzig wahren und alleinseligmachenden Glauben über die schnöde materielle Existenz und lebendige Erfahrung des Einzelnen stellt. Aber das Unbewusste ist per definitionem dem Bewusstsein und daher auch der "Vernunft" entzogen. Es kann nicht vernünftig geregelt werden. Die bürokratische Verwaltung von Sexus und Eros läuft regelmässig ins Leere. [11] Der Gedanke, man könnte erotische und sexuelle Beziehungen zwischen Menschen auf der Grundlage von Einverständniserklärungen und Verträgen regeln, ist dumm, absurd und widerspricht jeglicher Lebenserfahrung. Gerade Erotik wird ja durch das Unbestimmte, Vage und Schwebende erst erzeugt. Sie besteht aus Andeutungen, bildhaften und poetischen Versprechungen, Versuchungen und Verlockungen, emotionalen und physischen Signalen jenseits der Sprache. Bevor wir uns auf irgendeinen Paragraphen verständigen könnten, ist der Entscheidungsprozess im Unbewussten längst abgeschlossen. Wie und wofür wir uns entscheiden, dafür sind wir selbst verantwortlich. Aber es ist natürlich einfacher, nach Staat, Gesetzen und antidiskriminierenden Initiativen zu schreien, als sich einzugestehen, dass man einfach nur in die Sch... gegriffen hat.
Zweitausend Jahre brachiale sexuelle Repression durch die monotheistischen Hochreligionen hat gezeigt, dass sich der Eros nicht einfach so ausschalten und verdrängen lässt. Der Preis, den man für den Versuch bezahlt, ist hoch. Unterdrückte Sexualität erzeugt Scharen von Dämonen, deren Kräfte ganze Gesellschaften ins Wanken gebracht haben. Das Psychopathologische feiert überall dort fröhliche Urständ, wo das Natürliche nicht wohl gelitten ist. Während man in der Viktorianischen Epoche den Anblick eines weiblichen Unterschenkels für absolut sündhaft und inakzeptabel hielt, konnten sich die begüterten Gentleman in den Armenvierteln der Städte an jeder Hausecke Mädchen jeden Alters für ihr Vergnügen kaufen. [12] Während für eine gestandene Politikerin unserer Tage die Zuschreibung "jung und schön" bereits eine erschütternde Anmaßung darstellt, kann sich ein Großteil der Frauen mittlerweile nicht mehr vorstellen, ohne Pfefferspray und Alarm joggen zu gehen. Doppelmoral und Zwiedenken. Der "puritanische Impuls" [13], auf Reinheit und Reinigung zielend, hält den lüsternen Blick auf eine Frau für Objektifizierung und selbst die Andeutung eines Blickes in der Kunst [14] für sexistisch und unerträglich. Gleichzeitig wird jedoch ebenso der Blick auf offensichtlichste sexuelle Gewalt in den Schatten verdrängt. Tritt sie auf, ist sie immer nur Einzelfall, nur von regionaler Bedeutung, Beziehungstat — quasi zu vernachlässigen. Der Retusche von Nacktheit oder Erotik folgt die politische Retusche einer ganzen Gesellschaft. Das eine kann ohne das andere nicht gedacht werden. Was nicht sein darf, das nicht sein kann.
Wer halbwegs nachdenken kann, weiß, dass er sich "der ungeheuren Unordentlichkeit des Organischen" [15] nicht entziehen kann. Schon es zu versuchen, ist ein Akt der Heuchelei. Wenn wir den falschen Propheten folgen, die nichts anderes können, als ihren Selbsthass in die Gesellschaft zu tragen, befinden wir uns auf dem Holzweg und entfernen uns stetig von unserer Freiheit. Es ist, wie Hakim Bey schreibt, "‚genau‘ hier, in diesem ungenauen Gebiet der Widersprüche und des ‚vulgären Existentialismus‘, wo der schöpferische Akt der Autonomie und der Selbst-Verwirklichung vollbracht werden muß." [16] Solange wir leben, atmen und lieben, befreit uns von dieser individuellen Aufgabe niemand — erstrecht nicht diejenigen, die vorgeben uns befreien zu wollen.
"Der wahre Fluch der Zivilisation ist Einförmigkeit — nicht Vereinigung." [17]
Der verwaltete Eros (Teil 1) findet sich hier.
Literatur:
- Hakim Bey, Grenzverletzungen, Hadit Verlag, Albersdorf 2004
- Hakim Bey, Primitive und Extropianer. In: Der Golem Nr. 2, Hadit Verlag, Albersdorf 2000
- Walter, Mein geheimes Leben. Ein erotisches Tagebuch aus dem Viktorianischen England. Haffmans und Tolkemitt 2011
Titelfoto:
A Police officer issuing а womаn а ticket for wearing a bikini on a beach at Rimini, Italy, in 1957. (Quelle: Twitter History Lovers Club)
- Ein schönes Beispiel für diese Generation ist Hengameh Yaghoobifarah, z. B. mit Texten wie http://www.taz.de/!5455690/ oder http://www.taz.de/!5474132/ Man beachte die geradezu religiöse Lossprechung von der Sünde der sexuellen Gewalt für "Men of Colour" am Anfang des zweiten Artikels, da ein Outing diese "Polizeigewalt" oder "Deportationen" aussetzen würde. Dieses Paradigma fand bereits seine reale Manifestation in Gestalt von Flüchtlingshelferinnen, die vergewaltigt wurden, aber dieses Verbrechen verschwiegen, um keine rassistischen Vorurteile zu befördern![↩]
- Gegenüber der eigenen Überzeugung und Ideologie, in diesem Fall der "Buntheit", "Vielfalt" und der zwangsglobalisierten Einheitskultur tritt der Wert des Lebens realer Frauen in den Hintergrund.[↩]
- Angeblich deshalb, weil dies wohl doch nicht historisch nachweisbar ist, was der verbreiteten Prüderie keinen Abbruch tat. Gesichert ist dagegen, dass man das Wort leg (Bein) vermied und lieber limb (Gliedmaße) dafür benutzte. Siehe hier.[↩]
- Wie so oft unterscheidet sich die ganz weit rechts stehende Ideologie nicht wirklich von der ganz weit links.[↩]
- Begriffe, die Hakim Bey in seinem System des ontologischen Anarchismus immer wieder benutzt. Totalität beschreibt die Gesamtheit der manipulativen Mechanismen (besonders im Medienbereich), die die gegenwärtige Entfremdung und Unfreiheit des Menschen erzeugen und zu kommerziellen Zwecken weiter ausbauen. Die Situationisten der 68iger Bewegung nannten dies treffend „Spektakel“. In „Involution“ schreibt Bey: „Die Totalität isoliert Individuen und macht sie kraftlos, indem sie nur illusionäre Modi des sozialen Ausdrucks anbietet, Modi, die scheinbar Befreiung und Erfüllung versprechen, aber letztlich nur mehr Vermittlung und Entfremdung erzeugen.“ Die symbolische Vermittlung (im Original symbolic mediation) beschreibt in diesem Zusammenhang Erscheinungen und Akte, durch die eine lebendige, kreative Existenz zu einem „Abklatsch“ ihrer selbst wird. Solche Akte sind meist medialer, simulativer und konsumorientierter Art. Schein statt Sein.[↩]
- Diese Ware kann jedoch, wie im Falle der Prostitution, auch wieder ein Mensch sein.[↩]
- Computerspiele, soziale Netzwerke, Foren, Online-Shops, Pornografie ...[↩]
- Hakim Bey, Grenzverletzungen[↩]
- "Mißbrauch ist universell. Es gibt nur Mißbrauch." — Bey, Ebenda[↩]
- Die sogenannte "Genderwissenschaft" oder Gender Mainstreaming ist nichts anderes.[↩]
- Oder um mit Adorno zu sprechen: "Erster und einziger Grundsatz der Sexualethik: Der Ankläger hat immer unrecht." Es sollte dabei einleuchten, dass Adorno nicht den Ankläger in einem Gerichtsprozess gegen einen Sexualverbrecher meint, sondern den moralischen Ankläger.[↩]
- Die ausufernde Prostitution in dieser Zeit, die aufgrund der Armut auch vor Kindern nicht halt machte, ist heute historisch gesichert. Passende Lektüre dazu: Walter, Mein geheimes Leben.[↩]
- Hakim Bey, Primitive und Extropianer[↩]
- siehe den Fall des Gomringer-Gedichts an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin[↩]
- Bey, Grenzverletzungen. Im Original messy, was auch soviel wie Schmuddligkeit bedeutet. Der vollständige Satz lautet: "Das Leben – und der Körper – sind ‚voller Löcher‘, durchdringbar, grotesk – ad hoc-Konstruktionen, die bereits von einem unsauberen Empirizismus kompromittiert, dem ‚Getriebenwerden‘, dem ‚Relativismus‘ anheimgegeben sind und der ungeheuren Unordentlichkeit des Organischen."[↩]
- Bey, Grenzverletzungen[↩]
- Bey, Ebenda[↩]
One thought on “Der verwaltete Eros (Teil 2)”