
Schön ist's im Burgund
oder wie die Verwaltung das Hirn der Jenaer Stadträte vernebelte.
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Seit nun fast zehn Jahren treibe ich mich in der Jenaer Kommunalpolitik herum und habe in dieser Zeit nicht wenige fragwürdige oder amüsante Situationen erleben dürfen. Was allerdings in der gestrigen Sitzung des Stadtentwicklungsausschusses ablief, ist in der Tat an Skurrilität kaum noch zu überbieten. Der Vorhang des Theaters hob sich und die Vorstellung begann, indem die Ausschussvorsitzende im Auftrag der Verwaltung der Piraten-Stadträtin Dr. Heidrun Jänchen eine förmliche Rüge aussprach, weil sie den Gegenstand einer nichtöffentlichen Beratung aus der letzten Sitzung in ihrem Blog öffentlich gemacht hatte. Das gefährliche Geheimnis, von dem die Jenaer Stadtgesellschaft auf gar keinen Fall etwas hätte erfahren dürfen, war die geplante Entschlammung des Naturteichs am Erlkönig. Was für ein Skandal. Der russischen Beeinflussung des amerikanischen Wahlkampfs mindestens ebenbürtig. Als nächstes vertagte man das derzeitige heiße Eisen des Jenaer Stadtrates, die Bekenntnisaufforderung des neuen Oberbürgermeisters zu "Wachstum und Investitionen", die Jena auf mehr Expansion und Geldverschwendung trimmen soll. Ich begriff erst später, warum das eine "gute" Idee war. Die Dissonanz zu anderen Tagesordnungspunkten wäre sonst wohl himmelsschreiend gewesen. Nachdem man die Erneuerung eines Kinderspielplatzes durchgewunken hatte, wurde als nächstes eine Beschlussvorlage von Heidrun Jänchen beraten, die sich das Ziel setzt, die Ausbreitung von invasiven Arten (etwa der berüchtigten Zackenschote) im Zuge von Baumaßnahmen zu verhindern.
Der eindeutigen gesetzlichen Forderung, zugunsten einer bewahrenswerten Biodiversität invasive Arten zu bekämpfen, genügen andere Kommunen (etwa in Sachsen-Anhalt) mit konkreten Maßnahmenkatalogen — von der Information der Bauherren angefangen, über die Untersuchung von Vorkommen invasiver Arten auf Baugrundstücken bis hin zur Lagerung, Behandlung oder ggf. Dekontamination von Erdaushub. Da in dieser Vorlage das Wort Klima nicht vorkommt, wurde sie auch nicht von den Grünen, sondern von einer Piratin eingebracht und hatte daher von vornherein keine Chance. Was woanders längst praktiziert wird, ist in Jena unmöglich umzusetzen. So beeilten sich überraschend viele Vertreter der Verwaltung und des Eigenbetriebs KSJ zu erklären. Und natürlich würde es Geld kosten. Das würde es über kurz oder lang zwar sowieso, entweder durch verschärfte gesetzliche Anforderungen oder durch notwendig werdende Bekämpfungs- oder Pflegemaßnahmen, aber gottseidank nicht jetzt, sondern erst in der Zukunft. Alle Fraktionen überboten sich gegenseitig darin, Ziel und Ansinnen der Vorlage zu loben, natürlich mit dem Hintergedanken sie nichtsdestotrotz abzulehnen. Um dabei nicht gänzlich der Lächerlichkeit anheim zu fallen, sprach man sich allerdings für die Erarbeitung eines Informationsflyers (Pkt. 001 der Vorlage) aus. Mit sichtlicher Genugtuung, es der Einreicherin mal richtig gegeben zu haben, lehnte man sich zurück und wartete, was diese nun mit ihrer Vorlage tun würde. Die ließ nur die ersten beiden Punkte abstimmen, was weitere formale Verwicklungen auslöste, denn damit beraubte sie ja die anderen des Vergnügens, die zurückgezogenen Punkte durchfallen zu lassen. ((Der Gerechtigkeit halber muss man sagen, dass "die anderen" immer CDU, SPD und Grüne bedeutet. Linke und Bürger für Jena stimmten zu, was angesichts der Mehrheitsverhältnisse und in alter Tradition einer unsäglichen Stadtratskoalition die Vorlage auch nicht rettete.)) Zum Schluss hatte man einen Informationszettel beschlossen, was die Zackenschote entlang der gesamten Saaleaue sicher ganz schön erschrecken wird.
Wem das alles langweiliger und unverständlicher politischer Formalfoo ist, der sei getröstet. Denn der Diaabend hatte noch nicht begonnen. Aufgerufen wurde die Berichtsvorlage "Entwicklungskonzept Freiraumstruktur Jena", die einen grandiosen Auftritt des sattsam bekannten Stadtarchitekten Dr. Lerm ermöglichte. Ziel des Konzepts, an dem seit Monaten mit Hilfe eines Landschaftsarchitekturbüros gearbeitet wird, ist die Schönheit, die Eigenart, die kulturelle Prägung, den Erholungswert, die Struktur, Gestaltung, Elemente usw. der landschaftlichen Umgebung Jenas zu bewahren, ggf. auch dort wieder herzustellen, wo sie drohen verloren zu gehen. Dafür möchte Herr Dr. Lerm seine schon früher verbrochene formatio jenensis ((Ich habe in der Vergangenheit mehrfach darüber geschrieben, beispielsweise hier oder hier)) auf den freien Raum übertragen und quasi ästhetische Landschaftsversatzstücke miteinander kombinieren, um ein harmonisches und ansprechendes Landschaftsbild zu erreichen. Hier eine Baumgruppe, da eine Hecke, dort ein kleines Feld, in Sichtweite ein farbig abwechslungsreicher Waldsaum, aus dem ein freigestellter Fels hervorleuchtet. Geradezu genialisch die Idee, das alles in einem Piktogramm aus drei Flächen, Linien und Punkten zu vereinen! Da kommt nicht jeder drauf. Eine geschlagene Stunde lang präsentierte der Stadtarchitekt Bilder, Aberdutzende Bilder: aus Frankreich, Italien, Österreich, dazwischen New York und der eigene Lermsche Garten in der Freiberger Straße in Dresden. Der wie weiland Narziss in das eigene Bildnis verliebte Dr. Lerm schwang sich zu immer ungeahnteren Höhen der ästhetischen Verzückung auf, warf hier und da sogar eigene Ölgemälde ein, in denen er mit selbstredend genialem Pinselstrich die Röthhangstruktur herausgearbeitet und Hecken mit Nadelbaumanteil skizziert hatte. Meine Aufmerksamkeit kollabierte in dem Augenblick, als er sichtlich ergriffen Wildbret auf einem gewundenen Lichtungsweg präsentierte und das Wort Genuss erwähnte. Erbarmungslos folgte weiter ein Landschaftsidyll nach dem anderen und da hatten wir nach einem gefühlten Hunderterstapel von Folien noch nicht mal das vollständig bebaute Gebiet auch nur angerissen. Was in Gottes Namen hatte all das mit Jena und dem Saaletal zu tun? Über den dahindämmernden Stadträten und sachkundigen Bürgern legte sich ein schwerer Nebel der Müdigkeit und der Selbsttäuschung.
So wie Friedrich Nietzsche einmal schrieb : Man bleibt nur gut, wenn man vergisst. ((Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Sommer 1888 20 [148])) Vergessen war, dass man gerade erst den einst mit Obstbäumen bestandenen Hausberghang der kommerziellen Ausschlachtung durch Grundstücksmakler und Immobilienhändler preisgegeben hatte. Vergessen war die Planung und bevorstehende Ausführung des Gewerbegebiets "Auf dem Sande" in Maua auf einem lieblichen Hang direkt am Berg. Vergessen war die gegen erheblichen Widerstand aus der Bevölkerung nun erneut forcierte Bebauung des Jenzigfußes, mit dem ein landschaftliches Kleinod Jenas und viele Kleingärten den Baggern überantwortet werden. Vergessen war die Verhunzung des Burgwegs und die verpfuschte Betonwüste am Friedensberg und ebenso, dass die Schweizer Höhe diesen bald ebenso nachfolgen wird. Wenn man genug Weinberge aus dem Burgund gesehen hat, kann man nicht mehr klar denken. Einst konnte man durch eine wunderbare Halle hochstämmiger Linden auf einer romantischen Allee zum Bismarckturm wandeln. Als man in einem geradezu barbarischen Akt alle Stämme gekappt hatte, blieben Baumruinen zurück, die jahrelang einen herzzerreissend verkrüppelten Anblick boten und von denen nicht wenige gänzlich abstarben. Das Entwicklungskonzept präsentierte uns diesen Skandal nun als bewahrenswerten Bestand von Kopfbäumen. Selbst das bemerkte man nicht. Ich fragte mich, welche Drogen die Erarbeiter wohl genommen hatten? Es war, als hätte man sich flaschenweise am Wein der jetzigen und zukünftigen Jenaer Weinberge berauscht. Das Schwelgen kannte kein Ende oder wie es ein anderer Sachkundiger Bürger neben mir ausdrückte: Wir mussten wenigstens keinen Eintritt bezahlen.
Es folgte noch irgendetwas mit Schäfern und Ziegendrift und Workshops mit Bauern, die über Hecken in der Landschaft nicht erbaut sind. Und das natürlich für alles gar kein Geld da ist. Was bleibt, wird ein neues denkwürdiges Werk aus der Reihe "Schriften zur Stadtentwicklung" sein, in dem Dr. Lerm mit sicher großer Befriedigung seinen Namen lesen wird. Wenn der letzte Hang bebaut und die Stadt bis zum letzten Winkel verdichtet wurde und man seinen Rausch, in einem dynamischen Oberzentrum zu leben, ausgeschlafen hat, wird man vielleicht — aber nur vielleicht — bemerken, dass die schützens- und bewahrenswerte Freiraumstruktur Jenas über eine Reihe von intellektuell ambitionierten Fotos, Karten und Schemata in einem Band leider nicht hinausgekommen ist, sondern ganz im Gegenteil weiter gelitten hat. In etwa so ähnlich wie bei der Entwicklungskonzeption für die ländlichen Ortsteile Jenas, in der man vor der Überformung der ländlichen Strukturen warnt — was beispielsweise Maua keineswegs vor der radikalsten Überformung bewahrt hat, die man sich nur vorstellen kann. Aber an all diesen schönen Selbstbeschäftigungsprojekten, die in immer wieder neue bunte Konzepte gegossen werden, labten und laben sich Scharen von Verwaltungsangestellten, Ingenieuren, Gutachtern, Studienerstellern, Landschaftsarchitekten und Beratungsunternehmern. Wie in der großen Politik, so in der kleinen. Auf das Ergebnis kommt es gar nicht an. Hauptsache, man hatte eine Bühne für die eigenen Eitelkeiten und verdient prächtig dabei.
Nachdem die Verwaltung die Ausschussmitglieder um den Verstand geredet hatte, blieben noch ein paar Minuten einer bleiernen Diskussion, in der die meisten ihren Dank für die schöne Präsentation aussprachen. Ja, in der Tat, im Burgund ist's schön. Da kann man ja auch mal hinfahren. Und dann strebte man auseinander, hinaus ins Dunkel, froh dem Theater endlich entronnen zu sein.
Titelfoto: Weinberg in Pouilly-Fuisse, Frankreich — © Can Stock Photo / phbcz