Alle Jahre wieder...
Einige Gedanken zum plakativen Schwachsinn
Noch nie zuvor in meinem Leben war ich so in den Wahlkampf einer Partei involviert wie in diesen Tagen. Als eher zynischer Beobachter des Wahltheaters der etablierten Parteien waren deren Kampagnen für mich immer so überzeugend und nachvollziehbar gewesen wie Erntenachrichten aus Nordkorea. Nun bin ich seit vier Jahren Pirat, stehe selbst an Infoständen, rede mit frustrierten und politikerverdrossenen Bürgern, versuche als ehemaliger Nichtwähler Leute zu überreden doch zur Wahl zu gehen und opfere ganze Abende, um mit Kabelbindern in der Hand durch Jena zu ziehen und Plakate an den Lichtmasten dieser Stadt aufzuhängen. Ich tue das mit einem gewissen ungesunden Maß an Idealismus, aber der zynische Beobachter in mir hat sich nicht in Luft aufgelöst und grinst so frech wie eh und je.
Die Stadt ist voller Plakate. Alle Zufahrtsstraßen, wichtige Kreuzungen und Plätze, Straßenbahnhaltestellen, das gesamte Stadtzentrum – die Öffentlichkeit ist bis zum Bersten mit den Konterfeien verschiedenster Politiker überfüllt. Der Blick hat kaum eine Ausweichmöglichkeit. Die Materialschlacht hat begonnen. Wer hat die Größten, die Auffälligsten, wer kann sich die meisten Plakate leisten. Das Fragezeichen hinter diesem Satz lasse ich weg, weil es keinen vernünftigen Menschen gibt, der darauf eine Antwort hören möchte. Seit gut einem viertel Jahrhundert erleide ich nun diese schöne bunte Welt der bundesdeutschen Parteiendemokratie und ich habe noch nicht ein einziges Mal erlebt, dass irgendeine Partei irgendetwas anders gemacht hätte. Der Wähler wird nach wie vor mit den gleich grinsenden, wohlwollend lächelnden, schlipstragenden, ernst drein blickenden oder alternativ jovialen Gesichtern beleidigt wie vor zwanzig Jahren schon. Die Aussagen sind so trivial, falsch, lächerlich und leer wie immer. Nur das es mittlerweile Mode geworden ist, hier und da gänzlich auf irgendeine Aussage zu verzichten. Wozu auch? Das Nichtssagende hat sich in nichts sagen aufgelöst.
Die dreiste Oberflächlichkeit, mit der potentielle Wähler auf die eigene politische Seite gezogen werden sollen, kennt keine Grenzen. Oder doch, sie grenzt letztendlich ans Idiotische und Absurde. Parteien, die jahrzehntelang, selbst in konjunkturstärksten Zeiten, die Staatsverschuldung ins Unermessliche getrieben haben, versuchen sich als Schuldenbremser zu präsentieren. Parteien, die sich in der Regierungsverantwortung alle Mühe gegeben haben, den Sozialstaat zu demontieren und die Arbeitswelt neoliberal umzugestalten, wollen auf einmal Mindestlöhne und soziale Gerechtigkeit. Die Mitte der Gesellschaft, die man jahrelang durch die eigene Politik in den Ruin getrieben hat, wird als besonders schutzwürdig postuliert. Andere beschwören Zusammenhalt und Gemeinsamkeit, aber dieses vorgeblich so harmonische Miteinander wird nur an einer einzigen Person festgemacht, mit der alles steht oder fällt. Wieder andere bedienen Träume von der Revolution oder Träume vom immerwährenden Ressentiment, je nachdem wie weit links oder rechts außen man sich im Spektrum bewegt. Die Wahrheit wird beschworen, die Zukunft, die Familie, natürlich Sicherheit und Arbeit und Wohlstand. Der plakative Wahnsinn wird den Leuten so selbstverständlich um die Ohren gehauen, dass man platt vor Staunen ist.
Die Piraten bewegen sich in diesem Zirkus auf eine Art und Weise, die körperliche Schmerzen bereiten muss. Denn sie sind auf der einen Seite die einzige ernstzunehmende Partei, die das Polittheater der Etablierten in Frage stellen, ja im Grunde überwinden will. Piraten – so sie denn ihren eigenen Anspruch ernst nehmen – stehen auf der Seite der Bürger und nicht der Politiker. Sie kämpfen gegen Abgeordnetenbestechung, Lobbyismus und Korruption. Etablierte Parteienpolitik ist das Gegenteil, sie basiert auf Lobbyismus und Korruption. Aber um überhaupt wahrgenommen zu werden und sich dem Wähler als Alternative zu präsentieren, verhält sich die Piratenpartei tatsächlich wie eine Partei. Sie mischt den Zirkus nicht auf, sie brennt keine Plakate an, sie hängt selber welche auf.
Der Versuch, sich von den professionalisierten Kampagnen der anderen zu unterscheiden, kommt schüchtern daher. Es werden zwar Gesichter präsentiert, aber diese sind namenlos, unbekannt, beliebig. Jeder könnte auf so einem Plakat stehen. Versteht der Bürger diese Botschaft? Piraten haben keine bezahlten Dienstleister, die mal schnell über Nacht Tausende von Plakaten über die Städte verstreuen. Sie machen alles selbst – kleben, transportieren, verteilen, aufhängen, abhängen – in ihrer Freizeit. Die Materialschlacht haben sie schon verloren, bevor sie begonnen hat. Sie können und wollen nicht auf die dicken Spendenkoffer der Industrie und Lobbyverbände zurückgreifen oder – wie die FDP – sich über Tricks beim Steuerzahler bedienen. Es fehlt Geld ohne Ende. Egal wieviel Plakate sie hängen, es sind immer zu wenig. Der allgemeine Dummenfang ist Piraten zuwider. Aber wie werden sie sonst vom Wähler wahrgenommen?
An unseren Infostand in der Stadt kommt ein Journalist einer großen thüringischen Tageszeitung. Nach kurzem Gespräch lässt er durchblicken, dass es in der Redaktion die eindeutige Order gibt, über Piraten nicht zu schreiben. Die Netzwerke der Mächtigen funktionieren prächtig. Unabhängiger Journalismus existiert nur auf dem Papier. Etwas Ähnliches berichtet der Fraktionsvorsitzende der Piraten im Landtag NRW. In einer Debatte zur Beamtenbesoldung beobachtet er, wie Redakteure ihre Kameraleute anweisen, die Kameras auf Standby zu schalten, wenn er beginnt zu reden. Kritische Gegenöffentlichkeit wird ausgeblendet. Morgen lesen wir wieder in der Zeitung, dass man ja von Piraten nichts hört, die sowieso nichts tun und daher im Grunde unwählbar sind. Anderes Beispiel: Wir hängen Plakate in Kahla auf. Bürger beobachten uns dabei und sprechen uns an: Ich würde euch ja wählen, sagt ein älterer Mann. Aber im Fernsehen sieht man euch immer nur vorm Computer sitzen. Eigentlich sind wir ganz normale Menschen, erwidere ich. Aber im Stillen denke ich, dass die sorgfältig ausgewählten und manipulierenden Fernsehbilder mächtiger sind. Durch sie werden viele Millionen Gehirne gewaschen, da können wir noch so viele Buttons mit "Denk selbst!" verteilen.
Ab und an bricht sich der Volkszorn seine Bahn. An sozialen Brennpunkten wie in Jena-Lobeda werden Plakate der Parteien heruntergerissen und beschädigt. Dabei wird kein Unterschied gemacht, Piratenplakate sind da auch dabei. Leute, ihr habt meine vollste Sympathie. Niemand lässt sich gern für blöd verkaufen. Niemand kann es euch verdenken, dass euch der Zirkus in seiner Gänze ankotzt und ihr dabei nicht differenzieren könnt oder wollt. Wenn man im Fernsehen zuhören muss, wie 7000-Euro-im-Monat-Politiker darüber schwafeln, ob man den Hartz-IV-Satz um 5 Euro anheben sollte oder nicht, denkt man nicht mehr darüber nach, ob Gerald Albe ein besserer Direktkandidat als Volker Blumentritt ist. Man hat nur noch Resignation oder Hass oder beides im Blut.
Der Kindergarten der politischen Kontrahenten geht indessen weiter. Das sorgfältig inszenierte Links-Rechts-Theater suggeriert dem Wähler, dass er sich entscheiden muss, auf welcher Seite er steht. Pragmatische, sozialliberale, bürgerorientierte Alternativen wie die Piraten gehen dabei unter. Sie werden nur als weitere überflüssige Nuance im verabscheuungswürdigen Spiel um die Macht wahrgenommen. Vielleicht werden wir demnächst haarscharf die 5%-Hürde überspringen und in den Bundestag einziehen. Das wäre ein großer Erfolg. Es würde mich sehr freuen und mit ein wenig mehr Hoffnung erfüllen. Vielleicht werden wir es nicht schaffen und die Medien werden süffisant über unser Versagen schreiben und dass wir es ja nicht geschafft haben, den Wähler zu überzeugen. Es ist schön, Leidenschaft und Ideale zu haben. Zu viele Illusionen sollten wir uns dagegen nicht leisten.
Solange die alten Spielregeln gelten, überzeugen auch die anderen mit ihrem infantilen Schwachsinn niemanden. Es gehen immer weniger Leute zur Wahl, immer mehr schlagen ihr demokratisches Recht aus. Übrig bleiben irgendwann die untrennbar miteinander verketteten Vollidioten. Die einen, die weiter ihre bunten Plakate ohne Botschaften hängen, die anderen, die darauf hereinfallen und weiter ihr Kreuz bei "Volksvertretern" setzen, hinter denen schon lange kein Volk mehr steht und die nichts und niemanden vertreten wollen außer ihre eigenen Interessen. Wenn es soweit ist, sollten wir als Piraten vielleicht darüber nachdenken, uns ganz bewusst aus dieser Art von Wahlkampf herauszuhalten. Und öffentlich begründen, warum wir dies tun. Ich glaube, das wäre dann die deutlich bessere Alternative.