
Die Wortemacher des Krieges
Vielleicht ist es ja doch mehr als nur ein Zufall. Nachdem ich die — zum Besten der deutschen Literatur zählenden — Novellen von Stefan Zweig gelesen hatte, nahm ich als nächstes Zweigs autobiographischen Text mit dem Titel "Die Welt von Gestern — Erinnerungen eines Europäers" zur Hand. Und während ich noch dabei bin, dieses Buch — mit großem Interesse — zu Ende zu lesen, kann ich schon sagen, dass es etwas ganz Besonderes ist. Das liegt nicht nur daran, dass es den gestressten, verwirrten und aus dem Gleichgewicht geratenen Menschen der Gegenwart eine erstaunliche und unerwartete Sicht eröffnet, nämlich auf die Welt des Vorkriegseuropas zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Stefan Zweig liegt es fern, diese Zeit zu romantisieren, ja er kritisiert klar und deutlich die Probleme des kaiserlichen Österreich, das er als junger Mann durchlebte: das starre und wertlose Bildungssystem, die prüde Sexualmoral, die Unterdrückung der Jugend oder die unmodernen und verfehlten Ansichten zu Gesundheit, Sport oder Ernährung. Aber genauso klar ersteht vor unseren Augen eine Gesellschaft, die unbeschwert, weitestgehend frei, politisch uneingeengt, geistig, künstlerisch und kulturell unglaublich interessiert und mit einer erstaunlichen Lebensfreude und Zuversicht gesegnet war. Seine Schilderungen bilden einen faszinierenden Kontrast zu unserer heutigen, angeblich so modernen und aufgeklärten Gesellschaft und lassen den Verdacht aufkommen, dass wir es seitdem keineswegs mit einem gesellschaftlichen Fortschritt, sondern eher mit einer stetigen Abwärtsentwicklung in allen Bereichen des menschlichen Daseins zu tun haben.
"Der Haß von Land zu Land, von Volk zu Volk, von Tisch zu Tisch sprang einen noch nicht täglich aus der Zeitung an, er sonderte nicht Menschen von Menschen und Nationen von Nationen; noch war jenes Herden- und Massengefühl nicht so widerwärtig mächtig im öffentlichen Leben wie heute; Freiheit im privaten Tun und Lassen galt als eine — heute kaum mehr vorstellbare — Selbstverständlichkeit ..."
Doch davon abgesehen und weit darüber hinaus, zu seiner eigentlichen, unmittelbaren Wucht schwingen sich die Erinnerungen Stefan Zweigs in jenem Zeitabschnitt auf, als eine sorglose, man kann ruhig sagen satte und zum Dekadenten neigende Gesellschaft von heute auf morgen vom Ersten Weltkrieg überrascht wird. Dem mit vielen Intellektuellen und Literaten Europas freundschaftlich eng verbundenen Zweig muss es als Horror erschienen sein, wie eine hochgebildete, zivilisierte und zufriedene Gesellschaft sich selbst über Bord warf, um in die blanke Barberei zu stürzen. Der Hass war auf einmal nicht nur gesellschaftsfähig geworden, er wurde regelrecht eingefordert und wer nicht willens war, ihn überzeugend darzubieten, gehörte zu den Defaitisten, war ein schwächlicher Pazifist und arbeitete der Sache des Feindes zu.
"Schockweise regneten Gedichte, die Krieg auf Sieg, Not auf Tod reimten. Feierlich verschworen sich die Schriftsteller, nie mehr mit einem Franzosen, nie mehr mit einem Engländer Kulturgemeinschaft haben zu wollen, ja mehr noch: sie leugneten über Nacht, daß es je eine englische, eine französische Kultur gegeben habe. (...) Noch ärger trieben es die Gelehrten. Die Philosophen wußten plötzlich keine andere Weisheit, als den Krieg zu einem 'Stahlbad' zu erklären, das wohltätig die Kräfte der Völker vor Erschlaffung bewahre. Ihnen zur Seite traten die Ärzte, die ihre Prothesen derart überschwenglich priesen, daß man beinahe Lust hatte, sich ein Bein amputieren zu lassen, um das gesunde durch solch ein künstliches Gestell zu ersetzen. Die Priester aller Konfessionen wollten gleichfalls nicht zurückbleiben und stimmten mit ein in den Chor; manchmal war es, als hörte man eine Horde Besessener toben ..."
Wieder leben wir in Zeiten eines europäischen Krieges und wie bekannt uns diese Beschreibung vorkommt, nicht wahr? Heute dürfen wir auch wieder toben und hassen, ja müssen es angeblich — für einen höheren Zweck, für unsere "Werte", im Dienste einer inbrünstig beschworenen "Solidarität". Und wieder gibt es keine Alternative zum Krieg, zum letztendlichen Sieg über den Teufel, das Böse, den Feind, der vernichtet werden muss, ohne Gnade bekämpft und so weiter und so fort. Jeden Tag kann man es in den Zeitungen lesen und jeden Tag schallt es über die Lautsprecher und flimmert über die Mattscheiben. Die Propaganda kennt keine Pause. Sie ist nur laut und verschweigt all das, was die Menschen nicht sehen und nicht begreifen sollen.
Diese Zeilen schreibt Franz Werfel im August 1914 in sein Lied "Die Wortemacher des Krieges". Und in diesen Tagen überbieten sich Politiker und Journalisten wieder gegenseitig darin, Wortemacher des Krieges sein zu dürfen. "Hunderte Russen zu Dünger gemacht" begeisterte sich der BILD-Reporter Julian Röpcke, es wird von "Secondhand-Kriegsverbrechern" (Biermann) geschwafelt oder von "Lumpenpazifisten" (Lobo) und mit Enthusiasmus überreicht man den Friedenspreis (!) des deutschen Buchhandels einem ukrainischen Extremisten, der in seinem prämierten Buch Russen als "Tiere", "Unrat", "Schweine" und "Horde" bezeichnet. Diffamierung, Entmenschlichung, Hetze und Verrohung blühen vor allem dort, wo man entweder keine Argumente hat oder ihnen ausweichen will. Die Parallelen zur kriegslüsternen Zeit zu Beginn des Ersten Weltkrieges sind so frappierend, dass es schmerzt.
"Keine Stadt, keine Gruppe, die nicht dieser grauenhaften Hysterie des Hasses verfiel. Die Priester predigten von den Altären, die Sozialdemokraten, die einen Monat vorher den Militarismus als das größte Verbrechen gebrandmarkt, lärmten womöglich noch mehr als die andern, um nicht nach Kaiser Wilhelms Wort als 'vaterlandslose Gesellen' zu gelten. Es war der Krieg einer ahnungslosen Generation, und gerade die unverbrauchte Gläubigkeit der Völker an die einseitige Gerechtigkeit ihrer Sache wurde die größte Gefahr."
Und wie schon beim Thema Corona reißt die schrill tönende Maschinerie der Propaganda Gräben mitten durchs Private, spaltet Familien und Freundschaften. Gegen den Krieg an sich zu sein oder zum Frieden aufzufordern, ist schon verdächtig und verachtenswert; man muss sich auf eine Seite schlagen. An Seiten gibt es aber nur die, an deren Sieg auf keinen Fall zu zweifeln ist und die des Feindes. Im letzteren Fall ist man ein Verräter, ein "Putin-Troll" und wird aufgefordert, doch gleich nach Russland zu ziehen. Je platter und primitiver, umso besser.
"Allmählich wurde es in diesen ersten Kriegswochen von 1914 unmöglich, mit irgend jemandem ein vernünftiges Gespräch zu führen. Die Friedlichsten, die Gutmütigsten waren von dem Blutdurst wie betrunken. Freunde, die ich immer als entschiedene Individualisten und sogar als geistige Anarchisten gekannt, hatten sich über Nacht in fanatische Patrioten verwandelt und aus Patrioten in unersättliche Annexionisten. (...) Kameraden, mit denen ich seit Jahren nie einen Streit gehabt, beschuldigten mich ganz grob, ich sei kein Österreicher mehr, ich solle hinübergehen nach Frankreich oder Belgien. Ja, sie deuteten sogar vorsichtig an, daß man Ansichten wie jene, daß dieser Krieg ein Verbrechen sei, eigentlich zur Kenntnis der Behörden bringen sollte ..."
An Denunzianten gab es in den deutschsprachigen Ländern offenbar noch nie einen Mangel. Mich haben diese bitteren Sätze Stefan Zweigs bis ins Mark getroffen, denn ich kann keinen Unterschied zu heute entdecken. Zwei brutale Weltkriege sind über Europa hinweggefegt, haben es in seiner liebenswerten und kulturell hochstehenden Form zerstört und Millionen Tote und unsägliches Leid verursacht, aber die Menschen haben alles vergessen. Trotz aller immerwährenden Beteuerungen hat man nichts aus der Geschichte gelernt. Das selbstgerechte und gefällige "Nie wieder!", das einem in Friedenszeiten unablässig um die Ohren gehauen wurde, verstummt sehr leicht. Die Menge taumelt wieder blind denjenigen hinterher, die am lautesten schreien und am wenigsten unter den Auswirkungen des Krieges zu leiden haben. Die Kriegstrommeln und das Waffenklirren klingen nicht anders als zu Zeiten Stefan Zweigs. Es spricht sehr für diesen Autor, dass er sich damals nicht einfach so ein- und unterordnete, sondern seine Stimme gegen den Wahnsinn erhob. Ich bewundere ihn dafür.
"Ich hatte den Gegner erkannt, gegen den ich zu kämpfen hatte — das falsche Heldentum, das lieber die andern vorausschickt in Leiden und Tod, den billigen Optimismus der gewissenlosen Propheten, der politischen wie der militärischen, die, skrupellos den Sieg versprechend, die Schlächterei verlängern, und hinter ihnen den Chor, den sie sich mieteten, all diese 'Wortemacher des Krieges', wie Werfel sie angeprangert in seinem schönen Gedicht."
Alle Zitate aus: Stefan Zweig; Die Welt von Gestern — Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt/M. 2019
Titelbild: Stefan Zweig an seinem Schreibtisch in Salzburg, um 1925 — die Bildquelle konnte nicht ermittelt werden, vermutlich gemeinfrei