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Die Wortemacher des Krieges

Die Wortemacher des Krieges

15. November 2022 Comments 0 Comment
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Viel­leicht ist es ja doch mehr als nur ein Zufall. Nach­dem ich die — zum Bes­ten der deut­schen Lite­ra­tur zäh­len­den — Novel­len von Ste­fan Zweig gele­sen hat­te, nahm ich als nächs­tes Zweigs auto­bio­gra­phi­schen Text mit dem Titel "Die Welt von Ges­tern — Erin­ne­run­gen eines Euro­pä­ers" zur Hand. Und wäh­rend ich noch dabei bin, die­ses Buch — mit gro­ßem Inter­es­se — zu Ende zu lesen, kann ich schon sagen, dass es etwas ganz Beson­de­res ist. Das liegt nicht nur dar­an, dass es den gestress­ten, ver­wirr­ten und aus dem Gleich­ge­wicht gera­te­nen Men­schen der Gegen­wart eine erstaun­li­che und uner­war­te­te Sicht eröff­net, näm­lich auf die Welt des Vor­kriegs­eu­ro­pas zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts. Ste­fan Zweig liegt es fern, die­se Zeit zu roman­ti­sie­ren, ja er kri­ti­siert klar und deut­lich die Pro­ble­me des kai­ser­li­chen Öster­reich, das er als jun­ger Mann durch­leb­te: das star­re und wert­lo­se Bil­dungs­sys­tem, die prü­de Sexu­al­mo­ral, die Unter­drü­ckung der Jugend oder die unmo­der­nen und ver­fehl­ten Ansich­ten zu Gesund­heit, Sport oder Ernäh­rung. Aber genau­so klar ersteht vor unse­ren Augen eine Gesell­schaft, die unbe­schwert, wei­test­ge­hend frei, poli­tisch unein­ge­engt, geis­tig, künst­le­risch und kul­tu­rell unglaub­lich inter­es­siert und mit einer erstaun­li­chen Lebens­freu­de und Zuver­sicht geseg­net war.  Sei­ne Schil­de­run­gen bil­den einen fas­zi­nie­ren­den Kon­trast zu unse­rer heu­ti­gen, angeb­lich so moder­nen und auf­ge­klär­ten Gesell­schaft und las­sen den Ver­dacht auf­kom­men, dass wir es seit­dem kei­nes­wegs mit einem gesell­schaft­li­chen Fort­schritt, son­dern eher mit einer ste­ti­gen Abwärts­ent­wick­lung in allen Berei­chen des mensch­li­chen Daseins zu tun haben.

"Der Haß von Land zu Land, von Volk zu Volk, von Tisch zu Tisch sprang einen noch nicht täg­lich aus der Zei­tung an, er son­der­te nicht Men­schen von Men­schen und Natio­nen von Natio­nen; noch war jenes Her­den- und Mas­sen­ge­fühl nicht so wider­wär­tig mäch­tig im öffent­li­chen Leben wie heu­te; Frei­heit im pri­va­ten Tun und Las­sen galt als eine — heu­te kaum mehr vor­stell­ba­re — Selbstverständlichkeit ..."

Doch davon abge­se­hen und weit dar­über hin­aus, zu sei­ner eigent­li­chen, unmit­tel­ba­ren Wucht schwin­gen sich die Erin­ne­run­gen Ste­fan Zweigs in jenem Zeit­ab­schnitt auf, als eine sorg­lo­se, man kann ruhig sagen sat­te und zum Deka­den­ten nei­gen­de Gesell­schaft von heu­te auf mor­gen vom Ers­ten Welt­krieg über­rascht wird. Dem mit vie­len Intel­lek­tu­el­len und Lite­ra­ten Euro­pas freund­schaft­lich eng ver­bun­de­nen Zweig muss es als Hor­ror erschie­nen sein, wie eine hoch­ge­bil­de­te, zivi­li­sier­te und zufrie­de­ne Gesell­schaft sich selbst über Bord warf, um in die blan­ke Bar­be­rei zu stür­zen. Der Hass war auf ein­mal nicht nur gesell­schafts­fä­hig gewor­den, er wur­de regel­recht ein­ge­for­dert und wer nicht wil­lens war, ihn über­zeu­gend dar­zu­bie­ten, gehör­te zu den Defai­tis­ten, war ein schwäch­li­cher Pazi­fist und arbei­te­te der Sache des Fein­des zu.

"Schock­wei­se reg­ne­ten Gedich­te, die Krieg auf Sieg, Not auf Tod reim­ten. Fei­er­lich ver­schwo­ren sich die Schrift­stel­ler, nie mehr mit einem Fran­zo­sen, nie mehr mit einem Eng­län­der Kul­tur­ge­mein­schaft haben zu wol­len, ja mehr noch: sie leug­ne­ten über Nacht, daß es je eine eng­li­sche, eine fran­zö­si­sche Kul­tur gege­ben habe. (...) Noch ärger trie­ben es die Gelehr­ten. Die Phi­lo­so­phen wuß­ten plötz­lich kei­ne ande­re Weis­heit, als den Krieg zu einem 'Stahl­bad' zu erklä­ren, das wohl­tä­tig die Kräf­te der Völ­ker vor Erschlaf­fung bewah­re. Ihnen zur Sei­te tra­ten die Ärz­te, die ihre Pro­the­sen der­art über­schweng­lich prie­sen, daß man bei­na­he Lust hat­te, sich ein Bein ampu­tie­ren zu las­sen, um das gesun­de durch solch ein künst­li­ches Gestell zu erset­zen. Die Pries­ter aller Kon­fes­sio­nen woll­ten gleich­falls nicht zurück­blei­ben und stimm­ten mit ein in den Chor; manch­mal war es, als hör­te man eine Hor­de Beses­se­ner toben ..."

Wie­der leben wir in Zei­ten eines euro­päi­schen Krie­ges und wie bekannt uns die­se Beschrei­bung vor­kommt, nicht wahr? Heu­te dür­fen wir auch wie­der toben und has­sen, ja müs­sen es angeb­lich — für einen höhe­ren Zweck, für unse­re "Wer­te", im Diens­te einer inbrüns­tig beschwo­re­nen "Soli­da­ri­tät". Und wie­der gibt es kei­ne Alter­na­ti­ve zum Krieg, zum letzt­end­li­chen Sieg über den Teu­fel, das Böse, den Feind, der ver­nich­tet wer­den muss, ohne Gna­de bekämpft und so wei­ter und so fort. Jeden Tag kann man es in den Zei­tun­gen lesen und jeden Tag schallt es über die Laut­spre­cher und flim­mert über die Matt­schei­ben. Die Pro­pa­gan­da kennt kei­ne Pau­se. Sie ist nur laut und ver­schweigt all das, was die Men­schen nicht sehen und nicht begrei­fen sollen.

Die Dumm­heit hat sich der Gewalt geliehen,
Die Bes­tie darf has­sen, und sie singt.
Ach, der Geruch der Lüge ist gediehen,
Daß er den Duft des Blu­tes überstinkt.
 

Die­se Zei­len schreibt Franz Wer­fel im August 1914 in sein Lied "Die Worte­ma­cher des Krie­ges". Und in die­sen Tagen über­bie­ten sich Poli­ti­ker und Jour­na­lis­ten wie­der gegen­sei­tig dar­in, Worte­ma­cher des Krie­ges sein zu dür­fen. "Hun­der­te Rus­sen zu Dün­ger gemacht" begeis­ter­te sich der BILD-Repor­ter Juli­an Röp­cke, es wird von "Second­hand-Kriegs­ver­bre­chern" (Bier­mann) geschwa­felt oder von "Lum­pen­pa­zi­fis­ten" (Lobo) und mit Enthu­si­as­mus über­reicht man den Frie­dens­preis (!) des deut­schen Buch­han­dels einem ukrai­ni­schen Extre­mis­ten, der in sei­nem prä­mier­ten Buch Rus­sen als "Tie­re", "Unrat", "Schwei­ne" und "Hor­de" bezeich­net. Dif­fa­mie­rung, Ent­mensch­li­chung, Het­ze und Ver­ro­hung blü­hen vor allem dort, wo man ent­we­der kei­ne Argu­men­te hat oder ihnen aus­wei­chen will. Die Par­al­le­len zur kriegs­lüs­ter­nen Zeit zu Beginn des Ers­ten Welt­krie­ges sind so frap­pie­rend, dass es schmerzt.

"Kei­ne Stadt, kei­ne Grup­pe, die nicht die­ser grau­en­haf­ten Hys­te­rie des Has­ses ver­fiel. Die Pries­ter pre­dig­ten von den Altä­ren, die Sozi­al­de­mo­kra­ten, die einen Monat vor­her den Mili­ta­ris­mus als das größ­te Ver­bre­chen gebrand­markt, lärm­ten womög­lich noch mehr als die andern, um nicht nach Kai­ser Wil­helms Wort als 'vater­lands­lo­se Gesel­len' zu gel­ten. Es war der Krieg einer ahnungs­lo­sen Genera­ti­on, und gera­de die unver­brauch­te Gläu­big­keit der Völ­ker an die ein­sei­ti­ge Gerech­tig­keit ihrer Sache wur­de die größ­te Gefahr."

Und wie schon beim The­ma Coro­na reißt die schrill tönen­de Maschi­ne­rie der Pro­pa­gan­da Grä­ben mit­ten durchs Pri­va­te, spal­tet Fami­li­en und Freund­schaf­ten. Gegen den Krieg an sich zu sein oder zum Frie­den auf­zu­for­dern, ist schon ver­däch­tig und ver­ach­tens­wert; man muss sich auf eine Sei­te schla­gen. An Sei­ten gibt es aber nur die, an deren Sieg auf kei­nen Fall zu zwei­feln ist und die des Fein­des. Im letz­te­ren Fall ist man ein Ver­rä­ter, ein "Putin-Troll" und wird auf­ge­for­dert, doch gleich nach Russ­land zu zie­hen. Je plat­ter und pri­mi­ti­ver, umso besser. 

"All­mäh­lich wur­de es in die­sen ers­ten Kriegs­wo­chen von 1914 unmög­lich, mit irgend jeman­dem ein ver­nünf­ti­ges Gespräch zu füh­ren. Die Fried­lichs­ten, die Gut­mü­tigs­ten waren von dem Blut­durst wie betrun­ken. Freun­de, die ich immer als ent­schie­de­ne Indi­vi­dua­lis­ten und sogar als geis­ti­ge Anar­chis­ten gekannt, hat­ten sich über Nacht in fana­ti­sche Patrio­ten ver­wan­delt und aus Patrio­ten in uner­sätt­li­che Anne­xio­nis­ten. (...) Kame­ra­den, mit denen ich seit Jah­ren nie einen Streit gehabt, beschul­dig­ten mich ganz grob, ich sei kein Öster­rei­cher mehr, ich sol­le hin­über­ge­hen nach Frank­reich oder Bel­gi­en. Ja, sie deu­te­ten sogar vor­sich­tig an, daß man Ansich­ten wie jene, daß die­ser Krieg ein Ver­bre­chen sei, eigent­lich zur Kennt­nis der Behör­den brin­gen sollte ..."

An Denun­zi­an­ten gab es in den deutsch­spra­chi­gen Län­dern offen­bar noch nie einen Man­gel. Mich haben die­se bit­te­ren Sät­ze Ste­fan Zweigs bis ins Mark getrof­fen, denn ich kann kei­nen Unter­schied zu heu­te ent­de­cken. Zwei bru­ta­le Welt­krie­ge sind über Euro­pa hin­weg­ge­fegt, haben es in sei­ner lie­bens­wer­ten und kul­tu­rell hoch­ste­hen­den Form zer­stört und Mil­lio­nen Tote und unsäg­li­ches Leid ver­ur­sacht, aber die Men­schen haben alles ver­ges­sen. Trotz aller immer­wäh­ren­den Beteue­run­gen hat man nichts aus der Geschich­te gelernt. Das selbst­ge­rech­te und gefäl­li­ge "Nie wie­der!", das einem in Frie­dens­zei­ten unab­läs­sig um die Ohren gehau­en wur­de, ver­stummt sehr leicht. Die Men­ge tau­melt wie­der blind den­je­ni­gen hin­ter­her, die am lau­tes­ten schrei­en und am wenigs­ten unter den Aus­wir­kun­gen des Krie­ges zu lei­den haben. Die Kriegs­trom­meln und das Waf­fen­klir­ren klin­gen nicht anders als zu Zei­ten Ste­fan Zweigs. Es spricht sehr für die­sen Autor, dass er sich damals nicht ein­fach so ein- und unter­ord­ne­te, son­dern sei­ne Stim­me gegen den Wahn­sinn erhob. Ich bewun­de­re ihn dafür.

"Ich hat­te den Geg­ner erkannt, gegen den ich zu kämp­fen hat­te — das fal­sche Hel­den­tum, das lie­ber die andern vor­aus­schickt in Lei­den und Tod, den bil­li­gen Opti­mis­mus der gewis­sen­lo­sen Pro­phe­ten, der poli­ti­schen wie der mili­tä­ri­schen, die, skru­pel­los den Sieg ver­spre­chend, die Schläch­te­rei ver­län­gern, und hin­ter ihnen den Chor, den sie sich mie­te­ten, all die­se 'Worte­ma­cher des Krie­ges', wie Wer­fel sie ange­pran­gert in sei­nem schö­nen Gedicht."

Alle Zita­te aus: Ste­fan Zweig; Die Welt von Ges­tern — Erin­ne­run­gen eines Euro­pä­ers, Frankfurt/M. 2019
Titel­bild: Ste­fan Zweig an sei­nem Schreib­tisch in Salz­burg, um 1925 — die Bild­quel­le konn­te nicht ermit­telt wer­den, ver­mut­lich gemeinfrei


Gesellschaft
Frieden, Europa, Ukraine, Krieg, Propaganda, Zweig

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