Die alte Frage nach der Macht
Warum die Piraten — zumindest derzeit — keine Sozialpolitik auf die Beine stellen können
„Es ist nicht wichtig, ob es eine Definition von sozialer Gerechtigkeit gibt oder geben kann — jeder von uns hat eine Vorstellung im Kopf, was soziale Gerechtigkeit ist.” Man könnte anfügen: Und nicht nur im Kopf, sondern vor allem im Herzen, als bloßes unabweisbares Gefühl. Diese Worte von Wilm Schumacher, dem derzeitigen Generalsekretär der Piratenpartei, setzten ein bedenkenswertes Ausrufungszeichen in die Sozialpolitik-Diskussion auf dem Thüringer Plenum. Die zweistündige Debatte hinterließ trotzdem ein vages Gefühl des Unbefriedigtseins, der Inkompetenz, der Hilflosigkeit angesichts einer schier unangreifbaren Komplexität des Themas. Will man Sozialpolitik ändern — und alle sind sich einig, dass diese geändert werden muss — dann spricht man automatisch auch über Finanzpolitik, über Steuern und Haushalte, über Schulden, über Gesundheitsversorgung, Arbeitslosigkeit, Einkommensarten, über den Mittelstand, über Selbständigkeit, Altersversorgung, relative und absolute Armut und den gleichzeitig existierenden Reichtum in der Gesellschaft. All das läßt sich schlecht unter einen Hut bringen. Man ändert ein ganzes systemisches Netzwerk nicht mit einem Fingerschnipsen und ein paar netten Ideen, die der Vereinfachung gewidmet sind.
Die Piratenpartei hat derzeit die allergrößten Schwierigkeiten, sich auf ein Konzept für eine neue Sozial- und Finanzpolitik zu einigen; die engagierten „Sozialpiraten”, die lieber heute als morgen ein BGE einführen wollen und die fast schon fanatischen Skeptiker und Kritiker dieses Konzepts sitzen beide in derselben Partei. Ihre Dichotomie ist Ausdruck einer Ohnmacht einem Thema gegenüber, das die Kräfte von ein paar Tausend Politikidealisten bei weitem übersteigt. Doch woran kann man diese Probleme konkret festmachen:
Die Frage des Systems
Ist eine Regierung, die ihre Politik nicht mehr für die Menschen im Land, sondern für einen abstrakten und lebensfeindlichen „Finanzmarkt” betreibt, noch legitim und demokratisch? Schon 1982, mit dem Zerwürfnis der damaligen sozialliberalen Koalition unter Helmut Schmidt über die zukünftige Wirtschaftspolitik hatte der Neoliberalismus in Deutschland seinen Einzug gehalten und sich unter Helmut Kohl mit Hilfe der opportunistischen Politik der FDP endgültig durchgesetzt. Die Umverteilung von arm zu reich wurde damals nach dem „Wirtschaftswunder” der Nachkriegszeit und den damit verbundenen Sozialstaatskonzepten wieder zu einer hoffähigen Ideologie, die bis zum heutigen Tag jeden Bereich dieser Gesellschaft bis ins Mark durchdringt. Ausdruck dieser Ideologie waren ein Bundeskanzler Gerhard Schröder, der seine Wähler offen betrog, Politik für Bosse und Banken machte und als „Sozialdemokrat” den Sozialabbau wie kein zweiter vorantrieb. Dem sozialen Ausverkauf folgte der wirtschaftliche Ausverkauf des Landes ans Kapital, der vor allem von Angela Merkel umgesetzt wurde. Mit einer Äußerung Josef Ackermanns aus dem Jahre 2003, in der er behauptete, jedes Unternehmen müsse mindestens 25% Eigenkapitalrendite machen, ansonsten sei es selbst ein Übernahmekandidat, war klar geworden, dass wir wieder beim Raubtierkapitalismus schlimmster Prägung angelangt waren, der im Marx'schen Sinne keinesfalls zögern würde, über Leichen zu gehen, um seinen Profit zu vervielfachen. Mit der sogenannten Banken- und Währungskrise und dem derzeitig stattfindenden globalen Verteilungskrieg um Ressourcen und Rohstoffe bestätigt sich diese Behauptung auf eine weitere besonders drastische Art und Weise. In den letzten zehn Jahren stieg nicht nur die Zahl der Armen in Deutschland weiter an, auch das Armen zur Verfügung stehende Einkommen ist dabei zusätzlich noch gesunken. Die immer noch als vermögend geltende Mittelschicht verringert sich dabei stetig. Im Gegensatz dazu nehmen die reichsten 10% der Gesellschaft bereits mehr als 60% des individuellen Nettoeinkommens für sich in Anspruch. In Deutschland ist dabei besonders auffällig, dass die sozialen Unterschiede sich ebenso in Bildungsunterschieden manifestieren: aus ungelernten Arbeiterfamilien schaffen es nur 11 von 100 Kindern, einen höheren Bildungsweg einzuschlagen. Das ist skandalös, unethisch und frustrierend — aber trotz vielfacher gutklingender Lippenbekenntnisse juckt das die herrschende Klasse ansonsten wenig.
All das ist keineswegs eine Folge falsch regulierter Stellschrauben einer wie auch immer gearteten Sozialpolitik, sondern gehört zum Wesen des kapitalistischen Systems, in dem wir alle gezwungen sind zu (über)leben. Die Probleme verschwinden daher nicht wie von selbst, wenn wir eine andere Partei wählen oder uns auf einem Parteitag für eine andere Steuerpolitik entscheiden. Auf den Punkt gebracht: Wir müssen nicht das Steuersystem vereinfachen, um sie zu lösen, sondern das ganze System in den Gulli spülen. Dies ist vielen Piraten klar, beileibe aber nicht allen. Viele glauben tatsächlich daran, dass man nur hier und da ein vernünftiges Konzept aufstellen müsse, um alles zum Besseren zu wenden. Man kann sich jedoch nicht auf der einen Seite im kapitalistischen System und seinem pseudodemokratischen Parlamentarismus gemütlich einrichten und den „freien Markt” preisen und auf der anderen Seite die sozialen Auswüchse dieses Systems beklagen und an einigen wenigen, besonders auffälligen Baustellen bekämpfen wollen. Es wird Zeit, dass sich die Piraten dieser Dissonanz bewußt werden und entscheiden, wie sie damit umgehen wollen.
Die Frage der Macht
Man kann keine Revolution aus dem Nichts erfinden. Das hat das Mehr-Demokratie-Camp auf dem Berliner Alexanderplatz recht deutlich gezeigt. Man kann keine systemimmanenten Probleme dadurch lösen, dass man sich hinstellt und sagt, laßt uns doch endlich etwas ändern. Ein gesellschaftliches System ist dafür zu komplex und viel zu viele Faktoren spielen dabei eine Rolle. Das Scheitern der Linken in der Frage einer grundlegenden gesellschaftlichen Veränderung liegt darin begründet, dass man sich keinen passenden Menschen für ideologische Träume und gesellschaftspolitische Utopien heranzüchten kann. Logischerweise endete aus diesem Grund diese Art von Weltanschauung regelmäßig damit, sich das jeweils gewünschte Menschenbild gewaltsam und ohne Rücksicht auf Verluste herbeizuzwingen.
Sich mit systemimmanenten Problemen herumschlagen zu wollen, bedeutet jedoch letztendlich trotzdem, sich mit systemimmanenter Macht auseinandersetzen zu müssen. Lenins Machtfrage „Wer wen?” ist noch immer nicht so einfach von der Hand zu weisen. Wer sich die Youtube-Videos von der gewaltsamen Räumung des Demokratie-Camps durch die Polizei ansieht, versteht was ich meine. Es wird auf der einen Seite klar, dass politisches Märtyrertum — ganz im Sinne des ontologischen Anarchisten Hakim Bey — keinerlei Sinn macht und dass auf der anderen Seite das System nicht verschwindet, nur weil wir das inbrünstig wünschen oder auch nur für sinnvoll erachten. Wenn man den agierenden Polizisten befohlen hätte, den demonstrierenden Mob einfach niederzuschießen und wie Müll wegzukarren, hätten sie das ohne mit der Wimper zu zucken getan und die Medien wären hinterher nicht müde geworden zu behaupten, was für gefährliche terroristische Elemente das doch gewesen sein müssen. Machen wir uns nichts vor. So funktioniert das System.
Wenn wir geneigt sind anzunehmen, dass die augenscheinliche himmelsschreiende Ungleichverteilung des fraglos existierenden Reichtums in dieser Gesellschaft zum Wesen des Systems gehört, müssen wir uns über kurz oder lang mit diesem System anlegen oder es auf andere Weise unterminieren. Dann ist das möglichst baldige Ende dieses Systems unser Ziel und nichts anderes. Unsere diesbezügliche Schwäche sollte jedem bewußt sein. Piraten leben in der seltsamen Vorstellungswelt, dass die Mächtigen schon von selbst das Ruder aus der Hand geben, wenn ihnen nur genug vernünftige Argumente für eine notwendige Veränderung entgegengehalten werden. Diese Blauäugigkeit ist naiv und sie kann im Ernstfall sogar gefährlich sein.
Die Frage der Globalisierung
Bei der Frage der Einführung eines Bedingungslosen Grundeinkommens wurde auf dem Plenum in einem Nebensatz geäußert, dass dieses Einkommen natürlich allen und jedem zur Verfügung stehen müsse, unabhängig von Wohnsitz, Nationalität und Staatsbürgerschaft. Hier scheint der grüne, 68iger Multikulti-Kosmopolitismus durch, der heute in nicht wenigen Köpfen völlig unreflektiert anzutreffen ist — einfach weil es en vogue ist und weil man fair und weltoffen und gemeinschaftlich denken möchte und Nationalgefühl stets mit irgendeiner Art von fehlender Bildung und Extremismus in Zusammenhang gebracht wird. Mit anderen Worten, wir haben uns alle lieb und wenn wir allen Ernstes ein Recht auf sichere Existenz und gesellschaftliche Teilhabe beschliessen — und genau das haben wir getan — dann können wir schlecht Menschen aufgrund ihrer Sprache, Herkunft, Nationalität oder sonst einem Kriterium ausschließen. Man kann ja auch schlecht soziale Gerechtigkeit fordern und gleichzeitig sozial ungerecht sein. Das alles klingt gut und ich bin wie jeder andere Pirat geneigt, mich diesen Vorstellungen anzuschließen. Doch die reale Welt ist leider nicht so einfach wie in unseren bunten Fairtrade-Träumen und die Probleme fangen gerade dort erst an, wo wir meinen, sie bereits gelöst zu haben.
Als vor kurzem in Großbritannien Kinder und Jugendliche auf die Straßen gingen, Autos und Häuser anzündeten, alles kurz und klein schlugen und plünderten, was ihnen unter die Finger kam, handelte es sich um Stadtviertel, in denen bis zu 39 verschiedene Sprachen gesprochen werden. Die Generation, die dort völlig unreflektiert und ohne jedes politische Programm ihrer Wut freien Lauf ließ, entstammte nicht dem multikulturellen Vergnügungspark, wie ihn sich linke und grüne Wohlstandsintellektuelle vorstellen, sondern einer familiären und sozialen Hölle aus Gewalt, Armut, Perspektivlosigkeit, Rassismus und Überlebensängsten, wie man sie sich schlimmer kaum vorstellen kann. Die Verhältnisse, auf die ich hier Bezug nehme, sind ein ernstzunehmender Fingerzeig auf „Global Brutal”, jene Entwicklung, die durch den weltweiten Monopolkapitalismus rücksichtslos vorangetrieben wird und im wahrsten Sinne des Wortes alles eigenen Gewinnmaximierungs- und Machtinteressen unterwirft.
Während wir auf einer Insel des Wohlstands darüber nachdenken, wieviel Geld wir monatlich bedingungslos an jeden Bürger auszahlen könnten, werden die Ufer dieser Insel bereits jetzt von einem Ansturm zwangsglobalisierten „Menschenmaterials” umtost, der jeden Tag an Intensität zunimmt. „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu bauen”; niemand berichtet darüber, dass diese Mauern um Europa längst gebaut wurden, real, rechtlich, militärisch, ökonomisch, wie auch immer. Wir beschäftigen längst Spezialeinheiten, die an den Grenzen unentwegt Abertausende Flüchtlinge abfangen, abweisen, zurückschicken oder in Lagern internieren. Während wir bei Bier und Mate darüber diskutieren, ob wir lieber den Einkommens- oder besser den Mehrwertsteuersatz verändern sollten, gehen in Spanien, Frankreich, Griechenland, Irland, Portugal, Italien Hunderttausende auf die Straße, deren Leben gerade den einträglichen Spekulationen des Finanzmarktes geopfert wurden, vom Rest der Welt ganz zu schweigen, der längst zu einer Freihandelszone der besonderen Art degradiert wurde. Auf den „kommenden Aufstand” hingewiesen, reagieren Piraten häufig hilflos oder unwirsch, ja neigen sogar dazu, sich auf die Seite des Staates zu schlagen und die Gewalttätigkeiten auf den Straßen zu beklagen und zu verabscheuen, ohne deren Hintergründe näher zu beleuchten. Man kann jedoch nicht ins Wasser springen ohne nass zu werden und kann nicht sauber bleiben, wenn man freiwillig in einen Tümpel aus Morast und Unrat steigt, um ihn zu reinigen.
Das Problem, das ich dabei sehe, ist nicht das schlechte Gewissen. Ganz im Gegenteil. Ich fand es immer makaber und unerträglich, dass Kriminelle, Mörder, Betrüger und Ausbeuter den „kleinen Mann” an Ehrlichkeit, Arbeitsamkeit, Moral und Sparsamkeit gemahnen. Die Art und Weise unseres politischen Systems, international zu agieren und sich mit den anderen Wölfen um den kleiner werdenden Kuchen zu prügeln, ist dafür verantwortlich, dass in Äthiopien und Somalia Zehntausende verhungern (während im selben Land nur wenige Kilometer weiter arabische und chinesische Investoren große Mengen Lebensmittel produzieren) — nicht wir mit unseren Wochenendeinkäufen, unseren Kleinwagen und unserer Weigerung Glühbirnen durch „Sparlampen” zu ersetzen. Jeder, der einen Funken Verstand hat und über die Verhältnisse in dieser Welt nachdenkt, wird sein Leben anpassen, so gut er es vermag und helfen wo er kann. Doch das ändert am System gar nichts und darum geht es sowieso nicht.
Es muß darum gehen, dass wir Sozial- und Finanzpolitik global denken müssen, in einem internationalen politischen System, das menschenfeindlicher kaum sein könnte. Eine Einladung an alle Armen dieser Welt auszusprechen, doch an unserem BGE teilzuhaben, erscheint angesichts des Berges von Problemen, die in Wirklichkeit zu lösen sind, lächerlich und irreal. Es ist ein schöner Gedanke für ein Hippie-Lagerfeuer, nachdem man sich sattgegessen hat und sich dem Wein und ein paar Joints widmet. Es ist jedoch keine geeignete Art und Weise, politische Veränderungen herbeizuführen. Dafür brauchen wir in der Tat einen viel weiteren Horizont. Die Frage ist, ob uns das bewußt ist und in welcher Weise wir einen solchen umfassenderen Horizont anstreben und erlangen können.
So weit ich persönlich von linken Überzeugungen und Ideologien auch entfernt sein mag — mal mehr und mal weniger — so sehr achte ich Die Linke für ihren politischen Mut auszusprechen, was auch Ziel der Piraten sein sollte: Den Kapitalismus zu überwinden.
Quellen:
- http://www.crp-infotec.de/01deu/finanzen/grafs/vermoegen_verteilung.gif
- http://www.dw-world.de/dw/article/0,,5686427,00.html
- http://www.suite101.de/content/wohlstand-und-armut-die-verteilung-des-bip-in-deutschland-a112063
- http://www.zeit.de/zeit-wissen/2006/06/Essay_Allmendinger.xml
- http://www.youtube.com/watch?v=bVWayUygRr0
- http://www.youtube.com/watch?v=fwzUR7kaEzg
2 thoughts on “Die alte Frage nach der Macht”
Hallo Frank,
Dein Zitat von Wilm stimmt meinem Gedächtnis nach (a) nicht ganz und ist (b) aus dem Zusammenhang gerissen. Er sprach (a) von der "Würde des Menschen" statt von "sozialer Gerechtigkeit" und (b) es ging es darum, dass wir das auch "undefiniert" verwenden können, um damit zu arbeiten, ohne eben erst philosophische Abhandlungen schreiben zu müssen.
Definieren solltest Du aber vielleicht, was Du unter dem System verstehst, das Du überwinden willst — also dem Kapitalismus. Ich denke allerdings, dass die Leute, die den "Kapitalismus" in Gänze überwinden wollen, es sich zu einfach machen. Das liegt aber daran, dass mir nie einleuchtend der Problemkern dargelegt wurde und die Alternativen dazu. Und solange ich den Problemkern nicht kenne, bin ich gern bereit, zu versuchen den Kapitalismus lebenswerter bzw. menschenfreundlicher zu machen. Mit Bildung, mit Armutsbekämpfung, mit Korruptionsbekämpfung, mit Demokratie.
Gruß,
Stephan
Die Aussage von Wilm hab ich anders in Erinnerung, aber der Sinn ist für mich derselbe.
Im übrigen würde ich die "mentalitätskritische Wahrnehmung" des Kapitalismus bevorzugen. Ich zitiere mal aus Wikipedia:
"In der mentalitätskritischen Wahrnehmung steht Kapitalismus für ein ausschließlich an einer kapitalistischen Rationalität orientierten Denken, das auf Profit und die optimierte Verwertung der eingesetzten Produktionsmittel abzielt, ohne dabei Aspekte der Nachhaltigkeit, der Ethik und möglicher sozialer Verwerfungen zu berücksichtigen.”
siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Kapitalismus