Die Demokratie-Simulanten
"Sind wir nicht die Zukunft Deutschlands, die Pflanzstätte deutscher Parlamente! — Es ist mitunter schwer, sagt Juvenal, keine Satyre zu schreiben." (Friedrich Nietzsche)
"Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen." (Marie-Antoinette)
Zwei Tage lang habe ich tatsächlich gedacht, dass mich die Wahl unseres neuen Bundespräsidenten in der sogenannten Bundesversammlung nichts angeht. Was sollte mich schon daran tangieren, dass ein repräsentativer Grüßaugust durch einen anderen ersetzt wird? Was hat das mit meinem Leben zu tun? Durch das Wasserglas der sozialen Netzwerke tobte der unvermeidliche Sturm, aber der legt sich erfahrungsgemäß schnell wieder und wendet sich der nächsten durchs Dorf getriebenen Sau zu. Aber dann kommt hier und da eine Meldung, ein Kommentar, ein Bericht hinzu und alles zusammen ergibt ein Zustandsbild dieses Landes, das mich mittlerweile nur noch ratlos, erschüttert und zornig zurücklässt. Es gibt viele schwerwiegende gesamtgesellschaftliche Probleme, die dringender denn je einer Lösung bedürfen — aktuell, jetzt und ohne Zeitverzug und im Hinblick auf große Fragen, die schon die nahe Zukunft vorgibt. In der FAZ schreibt sich eine Grundschullehrerin den Frust über die Bildungsmisere an deutschen Schulen von der Seele. Es ist nicht das erste Mal, dass das passiert, andere vor ihr haben schon versucht sich Gehör zu verschaffen. ((Es gibt seit Jahren zahllose Artikel und Berichte von der alltäglichen Bildungskatastrophe, getan hat sich nichts: Studie der OECD, Lehrer stehen mittlerweile am Rande der Verzweiflung, Aufstand der Eltern, Verfall mit Ansage oder NRW-Schulen in einem erbärmlichen Zustand)) An der Bildungsausgestaltung der nachfolgenden Generationen hängt viel. Unsere Kinder müssen den Herausforderungen der Umweltzerstörung trotzen, mit dem rasanten Technologiewandel umgehen, die Digitalisierung verstehen und menschenwürdig nutzen, Fragen von Krieg und Frieden, Migration, Hunger und Elend, Macht, Geld und Demokratie beantworten. Die Politik reagiert darauf nicht. Die Politik tut nichts. Je nach ideologischem Farbmäntelchen wird hier und da auf Landesebene ein bisschen herumreformiert, meistens mit desaströsen Folgen. Werte, Erziehung, Wissen und Wissenschaft sind mittlerweile verpönt. Wichtiger ist es, Zehnjährige über die Vorteile des Analverkehrs und wandelbare Geschlechtsidentitäten aufzuklären.
Dies ist nur ein Thema von vielen. Die Energieerzeugung der Zukunft mit allen Chancen und Risiken, Industrie 4.0 mit dem drohenden Verlust von Hunderttausenden Arbeitsplätzen und einer notwendigen Anpassung der gesamten Arbeitskultur und Arbeitswelt, Weltwirtschaft und Freihandel als Segen für eine globalisierte Welt oder als Selbstbedienungsladen für Monopole und Konzerne zu Lasten der Menschen — egal was man sich im Detail anschaut, die Politik hat keine zukunftsorientierten Antworten. Die Politik tut nichts. Alles läuft weiter wie bisher.
Und da sind wir wieder bei der Bundespräsidentenwahl. Im Jahr einer richtungsweisenden Bundestagswahl. In einem Land voller offener Fragen und Probleme. In einem Klima wachsender religiöser und ideologischer Gewalt, in dem immer mehr Menschen wie tickende Zeitbomben durch die Gegend laufen und Affekte, Empfindlichkeiten und Ressentiments weitaus mehr Aufmerksamkeit generieren als Vernunft und tragfähige Gedanken. In einer solchen Situation glaubt allen Ernstes eine Schar von Polit-Versagern, Promis, zwangsfinanzierten Medienleuten und Selbstdarstellern, die nichts als ihre Eitelkeit zu bieten haben, dem Volk ein weiteres Mal eine solche Demokratie-Simulation vorspielen zu können! Was für eine Arroganz. Was für eine bodenlose Frechheit. Die Abgehobenheit, mit der man — einfach weiter so! — an den Bedürfnissen und Nöten des eigenen Volkes vorbei und in vollkommener Ignoranz aller wichtigen Herausforderungen einer zukunftsfähigen Gesellschaft die eigenen hohlen Rituale zelebriert und glaubt, der normale Mensch auf der Straße würde es schon nicht bemerken, spottet jeder Beschreibung und macht sprachlos.
In den immer gleichklingenden und nichtssagenden Reden — so auch in der Bundesversammlung — wird neuerdings der Zusammenhalt der Gesellschaft beschworen. Man suhlt sich genüßlich in seinem eigenen schwammigen Rhetorik-Salat und weiß doch ganz genau, dass überall im Land gerade das Gegenteil passiert. Wer den lautesten Aufschrei produziert, sitzt in den Talkshows. Extremisten, radikale Randgruppen, angeblich Diskrimierte, Hobby-Ideologen, Gender-Aktivisten, die Zahl derjenigen, die einer ganzen Gesellschaft — koste es, was es wolle — ihren Stempel aufdrücken wollen, wächst Tag für Tag. Von beiden Außenseiten des politischen Spektrums wird Druck auf die Mitte ausgeübt, der mittlerweile jedes erträgliche Maß überschritten hat. Dort in der Mitte lebt die große Mehrheit der Gesellschaft, die den Laden am Laufen hält, wie man so schön sagt. Das Leben dieser Frauen und Männer dreht sich nicht um Parlamente, USA-Präsidenten-Erlasse oder Diätenerhöhungen, sondern zielt auf das eigene Auskommen, einen vernünftigen und gut bezahlten Job, eine Versorgung im Alter, die eigene Familie, das Aufwachsen der Kinder, eine bereichernde Beziehung, die Sicherheit vor Kriminalität und Gewalt. Und ja, natürlich, auch die Ansammlung von etwas Vermögen, für die nachfolgende Generation.
Die Bedürfnisse dieser stabilisierenden Mitte, an der sich die klügeren Akteure vergangener Politgenerationen immer orientierten, haben für heutige Politik-Schauspieler im Theater der Selbstgefälligkeiten jedwede Relevanz verloren. So wie kürzlich das Socialmedia-Marketing der Telekom auf Twitter verkündete, dass ein Vater für eine Familie völlig irrevelant wäre, so halten die politischen Lenker und Vordenker unserer Gesellschaft die Ziele, Sorgen und Nöte der Mehrheit der Menschen, die in dieser Gesellschaft leben, für gestrig, überholt, konservativ und überflüssig. Modern sind nicht der Mann und die Frau, die täglich für das Wohl ihrer Familie hart arbeiten, Steuern erwirtschaften und ansonsten wenig herumzutönen haben. Modern ist die mit öffentlichen Fördergeldern gepäppelte Gender-Professorin, die für Sternchen in Wörtern kämpft und der widerspenstigen Öffentlichkeit erklärt, warum das Tragen eines Kopftuchs für alle, nicht nur muslimische Frauen der Inbegriff der feministischen Frauenbefreiung darstellt. Modern ist der maasmenschenähnliche Absolvent von Studiengängen der Soziologie, Politikwissenschaften oder Jura, der das Herumsitzen auf Parteischulen mit Arbeit verwechselt, noch nie eine Stunde in einem Unternehmen an der Werkbank zugebracht hat und dann allen erzählt, wie wichtig es ist die Freiheiten der Demokratie einzuschränken — wahlweise wegen Trump, Fake-News, Geschlechter-Diskriminierung oder dem heldenhaften Kampf gegen den Nationalsozialismus. Modern ist nicht der Elektrofacharbeiter, der auf der Abendschule eigenfinanziert seinen Meister macht, um mit einer eigenen kleinen Firma Ausbildungsplätze zu schaffen, sondern der Antifa-Aktivist, der — kein Fußbreit! — die Welt rettet, in dem er Autos abfackelt, Sitzblockaden abhält und antiimperialistische Barcamps organisiert. Modern ist nicht die Universitätsdozentin, die für einen Appel und ein Ei den Lehrbetrieb ihres Instituts schmeißt, sondern der Student, der zwar nichts weiß und nichts kann, aber das Leben eines vermeintlich sexistischen oder rassistischen Uni-Profs zur Hölle macht. Modern sind nicht der Feuerwehrmann, die Pflegekraft auf der Intensivstation, der LKW-Fahrer, der Tiefbauer und erstrecht nicht der Polizist. Modern sind die selbsternannten Experten in den Talkshows, die mit Pseudo-Antworten auf Fragen einer Realität reüssieren, mit der sie nicht das Geringste zu tun haben. Modern ist ein showtauglicher Oliver, der mit zwei Kilo buntem Tand und Tünnef zur Olivia mutiert, seiner Bundeskanzlerin die Hand auf die Schulter legt und für PETA spendet.
Fasst man das alles einmal gemeinsam ins Auge, dann kann man sich schwerlich eines gewissen Zynismus erwehren. Ich bin überzeugt davon, dass funktionierende und florierende Gesellschaften immer auf einem sensiblen Gleichgewicht aufbauen. Vielleicht ist dieses Gleichgewicht genauso logisch und mathematisch nachvollziehbar wie bei vielen physikalischen und chemischen Phänomenen, ich weiß es nicht. Es erscheint mir allerdings sicher, dass die gegenwärtigen Demokratie-Simulanten an der Spitze der Gesellschaft dieses Gleichgewicht auf eine Weise aufs Spiel setzen, die nur zur Katastrophe führen kann. Ähnlich muss es an europäischen Königshöfen zugegangen sein, wo man am Vorabend von Revolutionen und Kriegen immer noch meinte, den nächsten Hofball planen zu können. Auch die Bundesversammlung war so ein peinliches Zusammentreffen eines Hofstaates weitab vom Volk. Es wurde ein neuer König gewählt, der genauso wenig zu sagen hat wie der alte und hinter dessen Rücken die selben Akteure die Strippen ziehen wie vorher. Man pries in den höchsten Tönen die Demokratie, die man gerade dabei ist in großem Maßstab abzubauen. Man redete, gab sich die Hand, klatschte oder klatschte nicht, lächelte und machte Selfies. Es hat sich nichts geändert. Nicht mal die Ignoranz gegenüber der Einsicht, dass sich etwas dringend ändern muss.
Update 16.02.2017:
Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (also für alles außer Männer) hat die Zeichen der Zeit erkannt und möchte im Jahr der Bundestagswahl die wirklich drängenden Probleme des Landes — insbesondere für Familien — endlich angehen. In einer Zeit, in der sich immer mehr Menschen von der Politik enttäuscht abwenden und sich nicht mehr repräsentiert fühlen, hat das Bundesministerium und seine Ministerin Manuela Schwesig von der SPD ein offenes Ohr für die Bedürfnisse, Nöte und Sorgen der Mitte der Gesellschaft:
P.S.: Ich hätte gern dieses Foto mit dem Beitrag kombiniert, aber leider gibt es da ein Copyright und der Erwerb der Lizenz überschreitet meine finanziellen Möglichkeiten.
Titelbild: Puppentheater, Collection Gugelmann (Quelle: Wikimedia, Public Domain)
Foto im Text: Quelle Twitter hier und offenbar das Original hier