Freiheit ist ein flüchtiges Gut
Die Freiheit ist ein flüchtiges Gut. Sehr flüchtig sogar. Vielen Menschen scheint das nicht bewußt zu sein. Immer wieder fallen mir Ereignisse, Themen und Medienberichte auf, an denen dieser merkwürdige Umstand mehr als deutlich wird.
Beispiel 1: In der Sendung "stern tv" vom 5. Oktober wird der Fall des Kindsmörders Magnus Gäfgen aufgerollt. Der Polizist, der vor neun Jahren Gäfgen im Verhör Folter androhte, um den Aufenthaltsort des entführten Jakob von Metzler herauszufinden, spricht vor der Kamera. Der Fall läßt ihn immer noch nicht los. In Folge einer Klage des Täters vor dem Europäischen Gerichtshof wurde er wegen Nötigung verurteilt. Die Öffentlichkeit ist entsetzt. Schließlich wollte er ja nur das entführte Kind retten. Es bestand höchste Lebensgefahr. Dass das Kind schon tot war und jede Hilfe zu spät kommen würde, konnte man zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Sicher ein schwieriger und verzwickter Fall. Aber worauf ich hinaus will: Folter scheint völlig legitim und gewünscht zu sein. In einer Umfrage in der Sendung und auf der Homepage sprechen sich weit über 80 % der Zuschauer dafür aus, dass sich der Polizist im Recht befand und die Anwendung der "verschärften Verhörmethoden" gerechtfertigt gewesen wäre. Der Polizist spricht selber von einer Grauzone, in der er gehandelt habe.
Beides ist falsch. So falsch wie es falscher nicht sein könnte. Es gibt keine Grauzone und keine Rechtfertigung für Folter. Es gibt nur ein Folterverbot und das steht sogar im Grundgesetz. Dieses Verfassungsgebot wurde nicht für spezielle Fälle geschaffen, sondern für die Allgemeinheit, zum Schutz der Gesellschaft vor totalitären Tendenzen und Diktaturen, für unser aller Würde und Recht auf körperliche Unversehrtheit, gegen jegliche Hybris staatlicher Gewalt.
Beispiel 2: Verschiedene Medien berichten über den Amtschef des englischen Premierministers Oliver Letwin, der verschiedene Geheimdokumente zerrissen in einem Londoner Park im Papierkorb entsorgte. Ein Journalist beobachtete ihn dabei, fischte die Schnipsel heraus und stellte fest, dass die weggeworfenen Papiere unter anderem Angaben zur sogenannten "Überstellung von Terrorverdächtigen" enthielten. Was ist mit dieser Überstellung gemeint? Auf den Punkt gebracht bedeutet diese Maßnahme, Menschen in Länder zu bringen, die es mit den Menschenrechten nicht so genau nehmen und sie dort in Verhören zu foltern. Im Grunde ein ungeheuerlicher Vorgang: Politiker, Polizeibehörden und Geheimdienste in demokratischen Ländern der sogenannten "Freien Welt" lassen Gefangene mit Geheimflügen in ausländische Folterkeller transportieren, um sie dort ungestört von politischen Empfindlichkeiten quälen zu können. Wer nun denkt, die Engländer spinnen und im sauberen Deutschland kann diese Ungeheuerlichkeit nicht vorkommen, der irrt. Denn schon 2005 hatte das ARD-Magazin "Kontraste" enthüllt, dass deutsche Behörden wie das BKA im Libanon foltern ließen, um an gewünschte Informationen heran zu kommen.
Die Medien, die über den Fall Letwin berichteten, schienen das allerdings überhaupt nicht schlimm zu finden. Immerzu war von einem weiteren "Skandal" im englischen Politgeschäft die Rede, doch nur nach und nach begriff ich, dass sie damit nicht die Folterflüge ins Ausland meinten, sondern die Nachlässigkeit des englischen Politikers, der nicht für die Augen der Öffentlichkeit bestimmte Dokumente einfach in einen Papierkorb entsorgt hatte. Wow! Das muss man sich erstmal auf der Zunge zergehen lassen. Scheinbar haben wir uns schon an Dinge gewöhnt, die so schrecklich sind, dass man sich eigentlich niemals an sie gewöhnen sollte.
Beispiel 3: Der Chaos Computer Club veröffentlicht seine Untersuchungsergebnisse zu staatlicher Schnüffelsoftware, landläufig Bundestrojaner genannt — auch wenn diese Überwachungstools wahrscheinlich vorrangig auf Weisung der Landeskriminalämter eingesetzt wurden und das wohl nicht zu knapp. Die veröffentlichten Informationen und Hintergründe stinken zum Himmel. Deutsche Behörden haben sich über das Grundgesetz und die eindeutige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinweggesetzt, das lediglich die Überwachung von Telekommunikationsverbindungen in einzelnen schweren Fällen erlaubt, bei denen Gefahr für Leib und Leben vieler Menschen oder den Staat an sich besteht. Der Bundestrojaner kann allerdings viel mehr, z.B. am laufenden Band Screenshots vom überwachten privaten Rechner ziehen und an einen Server in den USA (außerhalb Deutschlands und der EU!) weiterleiten. Doch das ist nicht alles. Die Software kann weitere Programme oder Daten nachladen und auf dem Computer installieren (also auch falsche Beweise!), Tastatureingaben mitschneiden und — soweit vorhanden — Mikrofon und Webcam aktivieren, um den Raum, in dem der Computer steht, optisch zu überwachen. Die Rechtslage ist klar. Das Ganze ist grundgesetzwidrig. Auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht ist klar wie Kloßbrühe. Sie wurde getroffen, um den innersten privaten Lebensbereich der Menschen vor dem staatlichen Zugriff zu schützen.
Trotzalledem haben wir auch hier wieder ganz schnell besagte Grauzone. Gestandene Politiker wie Friedrich, Uhl oder Hermann behaupten allen Ernstes, dass der Staat solche Methoden braucht, dass man sie notwendigerweise einsetzen muss und dass die Behörden rechtlich und moralisch richtig gehandelt haben. Doch etwas wird nicht dadurch wahrer, dass man es mit möglichst viel Verve und oft in die Kameras spricht. Es gibt das Grundgesetz und diese und andere Politiker scheren sich einen Scheißdreck darum. Sie sind für jeden offensichtlich an der Aufweichung der bestehenden Rechtslage interessiert und ihr Verfassungsbruch wird von der Öffentlichkeit gnädig aufgenommen und von der herrschenden politischen Klasse wie ein Kavaliersdelikt behandelt. So gut wie niemand denkt daran, solche Leute, die absichtlich und sehenden Auges der Demokratie schaden, zum Teufel zu schicken.
Diese wie andere Beispiele besorgen mich sehr. Über viele hundert Jahre hinweg haben Menschen Freiheit und Menschenrechte unter unglaublichen Mühen und Opfern erkämpft und nicht selten diesen Kampf mit ihrem Leben bezahlt. Sie taten das für sich selbst, für ihre Kinder und nachfolgende Generationen. Aber nun leben wir selbst in einer solchen — noch — freien Gesellschaft und haben kein Gefühl mehr dafür, wie verdammt wichtig diese Freiheit für uns selbst und unsere eigenen Kinder ist. Wie verdammt wichtig es ist, sie zu erhalten und zu bewahren. Fast nebenbei wird das geltende Recht in Frage gestellt, wie ein Schwamm durchlöchert und mit Fragezeichen versehen, die dort keinen Platz und keine Berechtigung haben. Es besorgt mich, dass viele Menschen dazu neigen, dies zu tolerieren, tatenlos zuzusehen und Freiheit nicht als unschätzbares und unbezahlbares Gut ansehen, sondern als eine Art Zeitgeistphänomen, das man einfach opfern kann, wenn es einem in den Kram paßt.
Wacht mal auf, Leute! Totalitäre Diktaturen, Terrorregimes gleich welcher politischen Couleur, Todesschwadrone, Gesinnungszwang, Hinrichtungen, Folter und Geheimgefängnisse sind kein Schnee von gestern und auch nicht weit entfernt. Sie können schon wortwörtlich morgen hier und jetzt wieder schmerzhafte Realität sein! Menschen, seid nicht so naiv zu glauben, dass der Krug immer an euch vorübergeht. Ehe man es sich versieht, sind es nicht nur die ach so bösen Extremisten, Terroristen, Kinderschänder und Neonazis, die angeblich jede Strafe und Tortur verdient haben. Es sind dann eure eigenen Männer und Frauen, eure Söhne und Töchter, es sind die freiheitsliebenden Menschen unter euch, die sich zu laut empören, immer wieder gegen staatliche Willkür aufbegehren und bereit sind eure Freiheit zu verteidigen. Und natürlich ihr selbst.
Aber dann ist es zu spät.
Quellen:
- http://www.stern.de/tv/sterntv/ortwin-ennigkeit-ueber-den-fall-jakob-von-metzler-wie-weit-darf-ein-polizist-gehen-1734910.html
- http://www.gerhard-wisnewski.de/Terrorismus/News/Libanon-Gestaendnisse-aus-dem-Folterkeller-der-deutschen-Polizei.html
- http://www.sueddeutsche.de/politik/peinliche-panne-in-london-der-park-der-minister-und-sein-muell‑1.1163669
- http://www.ccc.de/de/updates/2011/staatstrojaner