Prima Zeiten für Demagogen
Dieser Tage wird viel über die Gewalttaten und Morde der Zwickauer Neonazi-Gruppe berichtet und diskutiert. Dabei handelt es sich um bruchstückhafte Erkenntnisse und Puzzlesteine, die jetzt mehr oder weniger zufällig ans Tageslicht kommen und für mediale Aufmerksamkeit sorgen. Nach 13 Jahren Versagen der Sicherheitsbehörden kann man ja leider kaum von Ermittlungsergebnissen sprechen, die dieser Gewaltinszenierung ein Ende gesetzt hätten. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall, da man von 13 Jahren finanzieller und organisatorischer Unterstützung für die rechte Szene zumindest durch Verfassungsschutzämter ausgehen muss.
Im Schatten des Schreckens suhlen sich jetzt allerdings Demagogen jeglicher Couleur, die die Chance nutzen, ihre Ideologien zu propagieren, ihre Interessen voranzubringen und — gelinde gesagt — die Dinge in die "richtige" Richtung zu lenken. So übertönen sich die Sicherheitspolitiker gegenseitig mit ihren Forderungen — mehr Sicherheitsbehörden oder Sicherheitsbehörden zusammenlegen, Zusammenarbeit zwischen BKA und Verfassungsschutz, neue Datenbanken und Zentralregister, neue Überwachungsmaßnahmen, die Wichtigkeit von V‑Leuten in der Szene, die Gefahr des Terrors, des Terrors, des Terrors ... und natürlich die Vorratsdatenspeicherung, was sonst.
Die Rufe nach mehr staatlicher Gewalt, mehr Sicherheit, mehr Geheimdienst kommen aus derselben Ecke, die jahrzehntelang mit Steuermitteln die rechte Szene unterstützt, aufgebaut und radikalisiert hat. Erst durch den regelmäßigen Zufluß von Geldern des Verfassungsschutzes an V‑Leute, die selbst immer Teil des Milieus waren, wurden organisatorische, agitatorische und logistische Strukturen geschaffen, die soetwas wie die Zwickauer Nazizelle erst möglich gemacht haben.
Aber die neue, immer gern gesehene Hau-Drauf-Mentalität mit prima Feindbildern, die von den eigentlichen gesellschaftlichen Problemen ablenken, täuscht über noch viel Schlimmeres hinweg. Zum Beispiel über den weiter andauernden Ausverkauf dieses Landes. Während die Mittel in Kriege, Sicherheitsarchitektur und Überwachungsbehörden flossen (man denke nur an die Kosten des sogenannten Staatstrojaners), wurden sie — man könnte sagen im gleichen Atemzug — aus Bildung, Kultur, Jugend- und Sozialarbeit, Aussteigerprojekten, Schulen, Bürgerinitiativen, Vereinen und überhaupt aus den mittleren und kleinen Kommunen abgezogen. Rechtsradikale, gewaltbereite Jugendliche fallen weder vom Himmel, noch springen sie aus einem fremden Raum-Zeit-Kontinuum. Sie sind die Söhne und Töchter der haarsträubenden Verhältnisse, die von jenen Leuten vorangetrieben werden, die dieser Tage am lautesten nach neuen Sicherheitsmaßnahmen schreien. Zur Hölle mit ihnen und zur Hölle mit jenen, die in diesen Chor mit einstimmen, weil es so schön politisch korrekt ist und sich dabei alle so "gut" und so "gemeinsam" fühlen!
Natürlich können wir 10 — 20 % unserer Jugend einfach aufgeben, nur weil sie in zwangsentvölkerten, tristen Landstrichen ohne Aussicht auf Sinn, Arbeit, Auskommen, Kultur und Bildung groß geworden sind. In Familien, in denen es nicht darum geht, ob man den Kindern als nächstes ein iPhone oder doch erst den neuen PC kauft. In Städten, die sich nicht mal mehr ein Stadtmuseum, geschweige denn ein Theater leisten können. In Dörfern, in denen überhaupt nur noch die NPD Feste feiert und zu Wahlen Plakate aufhängt — weil ja das wahre deutsche Leben in Berlin, München, Hamburg oder Stuttgart tobt, nicht aber an der polnischen Grenze, wo selbst die letzten Firmen, die nach der Wende noch ein paar Fördermittel abgegriffen haben, längst nach Osten weitergezogen sind. Wir sind nicht automatisch auf der richtigen Seite, wenn wir Antifa-Sticker tragen, Nazi-Aufmärsche stören oder an Betroffenheitsdemos teilnehmen. Mitnichten.
Wir haben eine Gesellschaft zu gestalten, die so demokratisch, so sozial, so bildungsorientiert, so kulturbeflissen, so solidarisch ist, dass sie keinen Nährboden für menschenverachtende und gewaltverherrlichende Ideologien bietet. Darin liegt die wirkliche Chance, nicht in der Gegengewalt, nicht in der Ausgrenzung, nicht in der bewußten Ignoranz der Probleme und Ursachen, die den beklagten Verhältnissen zugrunde liegen. Sich selbstgerecht in die Brust zu werfen und markige Sprüche von sich zu geben, ist eine tolle Propagandastrategie, aber hilft niemandem. Die Gräben verlaufen doch mitten durch unsere Gesellschaft. Wollen wir die Menschenketten quer durch die Familien ziehen, quer durch die Landkreise, um die ach so aufgeklärten Städte herum?
Die Piraten waren mal angetreten, jenseits von Rechts und Links zu agieren — sachorientiert, problembewußt, immer mit dem Ziel der besten Lösung. Es ist keine gute Zeit, diesen — tatsächlich völlig neuen, man könnte auch sagen revolutionären — Politikansatz zu verlassen und auf den "Zug der Opportunisten" aufzuspringen. Dazu gehört — leider — auch die derzeitige "Wir haben es ja schon immer gewußt"-Attitüde der Linken, das dämliche, falsche und selbstgefällige "Auf unserer Seite bist du bei den Guten"-Gebaren, mit dem nun faktisch im Stundentakt die Medien und Social-Media-Portale bombardiert werden. Der Gipfel dieser Blödheit besteht darin zu behaupten, es hätte keine Todesopfer linker Gewalt gegeben. Von welchem Zeitraum reden wir da eigentlich? Von ein paar Monaten, von den letzten 13 Jahren oder diesem Jahrhundert? Ich bin in einem Staat mit linker Ideologie groß geworden, in dem Menschen auf freiem Feld wie Wild abgeknallt wurden, nur weil sie eine Grenze überqueren wollten. Es gab also keine Opfer linker Gewalt? Es gab keine chinesische Kulturrevolution, keinen Stalinismus mit Millionen von Opfern, kein Pol-Pot-Regime? Gab es auch keine RAF und keine Rote Brigaden? Keine Gulags und Umerziehungslager? Oder hab ich da was falsch verstanden und es ist ja nur der Schwarze Block und die Antifa gemeint, die jeden 1. Mai dafür nutzt, ein paar Polizisten vor sich her zu treiben und zu verprügeln und bei diesem Geschäft noch nie bis zum bitteren Ende gekommen ist?
Überlassen wir doch die Neandertaler-Reflexe anderen. Die Piraten sollten sich hüten vor diesen medialen Scheingefechten. Sie sollten sich hüten vor den Rattenfängern mit ihren — selbstverständlich immer richtigen und immer wahren — Ideologien und Heilslehren. Sie sollten sich wieder auf das besinnen, was sie am besten können: reale, wirklichkeits- und bürgernahe Politik zu machen. Es gibt keine richtige und keine falsche Seite, es gibt nur die Zukunft — und die will gestaltet werden.
Klar machen zum ändern!