Das Sandkastenspiel
Der Zeitpunkt hätte günstiger nicht sein können. Am Samstag des Bochumer Parteitags der Piraten, nach Stunden eines nur mühseligen Vorankommens in der Tagesordnung, sprang gegen 17 Uhr plötzlich Bernd Schlömer, seines Zeichens Bundesvorsitzender, auf die Bühne. Er überraschte nicht nur die leicht irritierte Veranstaltungsleitung, sondern überrumpelte auch die genervte und etwas ermüdete Mitgliederversammlung mit einem Anliegen, das so gar nicht an diese Stelle des Programmparteitags passen wollte.
In nur wenigen Minuten erfragte er ein Meinungsbild, ob der nächste Parteitag im Frühjahr 2013 der Neuwahl des Bundesvorstands oder doch lieber der Programmarbeit dienen sollte. Abgesehen davon, dass dieses Meinungsbild nicht als Antrag zur Geschäftsordnung gestellt war, abgesehen davon, dass man einen Parteitag auch für Vorstandswahl und Programmarbeit nutzen kann, abgesehen davon, dass alle Anwesenden gerade auf einem Programmparteitag weilten und demzufolge gern Programm machen wollten ... auch ich liess mich überrumpeln und stimmte für den Programmparteitag. Doch wenige Minuten später fragte ich mich, was hier eigentlich gerade geschehen war. Ein Meinungsbild ist kein Parteitagsbeschluss. Hatte tatsächlich zu dieser doch wichtigen Frage keine Diskussion stattgefunden? Und war nicht irgendwo in der Tagesordnung ein Slot für genau diese Frage vorgesehen gewesen? Quasi im Vorübergehen hatte sich der Bundesvorstand, der als wenig harmonierend gilt und aus dem vor kurzem erst zwei Mitglieder zurückgetreten waren, seine Amtszeit um ein paar Monate verlängert. Da die Satzung die Wiederwahl im Kalenderjahr vorsieht, ist das zwar erlaubt, aber für eine Partei, die so viel Wert auf Basisdemokratie legt, doch ein recht merkwürdiger Vorgang.
Doch damit nicht genug. Der geniale Coup schien Bernd Schlömer gewaltig zu Kopf gestiegen zu sein. Denn scheinbar ohne Umschweife lief er nun zu n‑tv und verkündete dort in einem Interview einen "Strategiewechsel". ((http://www.n‑tv.de/politik/Themen-statt-Koepfe-passt-nicht-article7846091.html)) Dabei fielen Sätze wie "Ich glaube, dass das Motto 'Themen statt Köpfe' nicht passt." oder "'Themen statt Köpfe' klappt nicht auf Dauer. ... Es gibt einige, die da skeptisch sind, aber ich glaube, die Mehrheit der Partei steht hinter diesem Strategiewechsel." Selbst dem Journalisten schien das nicht geheuer zu sein, denn er fragte nach: "Gibt es einen Programmpunkt auf dem Parteitag, wo sich dieser Strategiewechsel wiederfindet?" Worauf Bernd Schlömer antwortete: "Nein. Das ist eher Ausdruck einer Strategieentscheidung, die ich tätige und hinter der der Bundesvorstand steht."
Ahja. In einer basisdemokratisch organisierten Partei, die ihre Vorstände als Verwalter sieht, gibt es auf einmal Amts- und Funktionsträger, die Strategieentscheidungen für die ganze Partei treffen. "Strategiewechsel" werden nicht innerhalb der Partei diskutiert, sondern mit den Medien. Diese servieren dann die Vorgaben der Oberpiraten der Basis auf dem Silbertablett. Und wenn ein Bundesvorsitzender der Meinung ist, dass "Themen statt Köpfe" nicht funktioniert, dann ist es eben so. Basta!
Sorry, aber an dieser Stelle müssen wir mal unsere vorpreschenden Amts- und Mandatsträger mit den besten Verbindungen zur Presse ausbremsen. Das Verhältnis dieser bekannten "Gesichter" zu den Medien ähnelt einem Sandkastenspiel. Im Sandkasten sitzen die Oberpiraten wie Kleinkinder, die selbstverliebt sich gegenseitig mit Förmchen bewerfen oder nach eigenem Gusto große Sandburgen bauen. Um den Sandkasten herum stehen Presse und Medien. Sie erfüllen die Funktion der Eltern für die spielenden Kinder. Sie lichten sie ab, lachen über ihr närrisches Tun, schimpfen hin und wieder, pfeifen zurück, wenn es mal in die falsche Richtung geht oder belobigen für brave Anpassung an die Spielregeln. Die Kinder beobachten aus den Augenwinkeln die Reaktionen ihrer Eltern und reagieren entsprechend. Wer weiß, vielleicht springt ja ein Eis heraus. Aber immer dann, wenn sie nicht ihren Willen bekommen, sind sie trotzig und stampfen mit den Füßen auf.
So wie Stephan Urbach als Wahlleiter des Parteitages. Nachdem ein Antrag zur Inklusion dreimal abgestimmt wurde ((zweimal davon mit überwältigender 2/3‑Mehrheit, nach erneuter Ermahnung beim dritten Mal endlich durchfallend)), bis der Willen der trotzigen Kinder erfüllt war, belehrte @herrurbach die Versammlung, doch das nächste Mal besser aufzupassen, was man da gerade abstimmt. Einen objektiveren und neutraleren Wahlleiter kann man sich kaum vorstellen. Er hätte stattdessen auch gleich allen erklären können, wie sie denn abzustimmen haben, damit er persönlich zufrieden ist. Er und Philip Brechler warfen kurz darauf "krank" und "erschöpft" das Handtuch, allerdings wiederum nicht erschöpft genug, um nicht noch — nach tosendem Dankesapplaus der Versammlung — dem Cicero ein Interview zu geben. ((http://www.cicero.de/berliner-republik/das-ist-nicht-meine-partei/52668)) Darin erklärte Herr Urbach allen Parteimitgliedern, wie sie zu ticken haben ("Wir sind eine linke Partei."), stampfte trotzig mit dem Fuß auf ("Das ist nicht meine Partei."), drohte mit einem Austritt, den er unterschrieben und wieder zerrissen hatte, beklagte die "Geldelite" (zu der er selbst offenbar auch gehört), nur um kurz darauf freudig zu betonen: "Ja, ich würde gern für den Bundestag kandidieren." Außerdem nutzten beide — wie viele andere Amts- und Mandatsträger auch — ihre nicht vorhandene Autorität, um das Konzept der Ständigen Mitgliederversammlung zu pushen. ((Keiner der Befürworter der Ständigen Mitgliederversammlung, denen doch angeblich die Beteiligung aller und die konsequente Basisdemokratie so am Herzen liegt, beklagte sich über den Alleingang des Bundesvorsitzenden und seinen "Strategiewechsel".)) Dafür hatte die Energie dann doch noch gereicht. Unreifer geht es kaum noch. ((Das Interview wäre eigentlich eine sehr gute Gelegenheit gewesen zuzugeben, dass die einzige weibliche Veranstaltungsleitung Miriam Seyffarth eine deutlich professionellere Leistung als ihre männlichen Kollegen abgeliefert hat, dabei nicht zusammengebrochen ist und auch kein Bedürfnis verspürte, sich bei Journalisten auszuheulen!))
Leider lernen Menschen aus Fehlern nicht. Vermutlich hätte ich diesem Kindergarten auch keine Zeile gewidmet, wenn ich nicht gerade über die Geschichte der Grünen lesen würde. ((Jutta Ditfurth — Krieg, Atom, Armut. Was sie reden, was sie tun. Die Grünen. — Rotbuch Verlag 2011)) Im Jahre 1999 — lange nachdem linke und alternative Grüne die Partei verlassen hatten — schrieben einige jüngere "Realos" (darunter Namen wie Matthias Berninger, Tarek Al-Wazir, Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir) einen offenen Brief an ihre eigene Partei. (("Bündnis 90/Die Grünen haben eine zweite Chance verdient", Juni 1999 — http://basisgruen.gruene-linke.de/gruene/bund/allgemein/zweite-chance.htm)) Darin beklagten sie den "Muff von 20 alternativen Jahren", schlugen "eine teilweise Auswechslung der Mitgliedschaft" vor, bezeichneten das "Ritual der alternativen Bewegung" als "Plunder", den es "zu entsorgen" gilt und legten Wert darauf, dass die Grünen "eine Partei, wie andere auch" seien. Was mir jedoch im Zusammenhang mit dem Thema dieses Beitrags besonders interessant erscheint, ist folgende Passage: "Ohne von der Öffentlichkeit respektierte Repräsentantinnen und Repräsentanten sowie das notwendige Mindestmaß an Loyalität gegenüber diesen Personen wird sich der Erfolg nicht wieder einstellen." Jutta Ditfurth nennt diesen Brief das "öffentliche Bekenntnis zu Anpassung und Unterwerfung". Für die Unterzeichner hat es sich gelohnt. Alle sind in der Partei und im parlamentarischen System aufgestiegen, haben lukrative Posten ergattert und geben nun den Ton an. Herzlichen Glückwunsch, wenn man schon seine Ideale verrät, muss es sich wenigstens lohnen.
Die Piratenpartei läuft nun genauso Gefahr, den Weg der "Anpassung und Unterwerfung" zu gehen und das Terrain der Basisdemokratie selbsternannten Meinungsführern, Strategiewechslern und Ideologen zu überlassen, die sich auf der einen Seite alternativ und rebellisch geben, auf der anderen Seite aber kein Problem damit haben, die Medien gezielt für ihre Zwecke einzusetzen. Ob das ein Automatismus von neuen gesellschaftlichen Bewegungen oder gezielte Einflußnahme von außen ist, weiß ich nicht. Es ist letztendlich auch egal, weil es immer an derselben Stelle endet. Wir sollten die Menschen, die meinen, sie müssten die Partei ihrem Macht- und Egotrip opfern, mal auffordern, die Journalisten und Kameras beiseite zu schieben. Denn gleich dahinter warten verzweifelt viele Millionen Bürger auf eine neue Politik — in einem Land, in dem die Demokratie, soziale Teilhabe und Gerechtigkeit vor die Hunde gehen. Das ist unsere eigentliche Aufgabe.
Wenn wir das nicht schaffen, werden uns unsere zukünftigen Funktionäre von ihren einträglichen Positionen herunter Sätze wie diese sagen:
"Habt mehr Mut, Eure Fehler zuzugeben. Ja, ihr wart für ein anderes System. Ja, ihr habt den ebenso wackeren wie erfolglosen Kampf mit dem Kapital geführt. Ja, für euch waren Unternehmer Bestandteile des Reichs des Bösen. Das war damals falsch, es ist es noch heute und eigentlich wißt ihr das ja auch. Steht endlich dazu und macht nicht jede eurer Reden zu einem edlen Ritt durch die Irrungen und Wirrungen eurer Lebensirrtümer. Zumindest uns als zweite Generation interessiert es nicht, wie ihr euren Frieden mit der sozialen Marktwirtschaft gemacht habt. Hauptsache, es ist so. Für uns stellte sich die Systemfrage nur kurz, dann war für uns klar, daß wir ja zu diesem System sagen..."
Ich weiß nur, dass nicht nur die Grünen damals, sondern auch wir mittlerweile viele Leute haben, die allzu gern "ja zu diesem System" sagen würden. Aber wir sollten uns immer und immer wieder daran erinnern, dass wir als Piraten angetreten sind, dieses System zu verändern.
4 thoughts on “Das Sandkastenspiel”
Das mit Bernd habe ich nicht in dem Sinne mitbekommen. Da der BuVo ja sowieso selbst entscheiden KANN wann was gemacht wird, fand ich ein Meinungsbild durchaus nicht unangebracht. Auch wenn es etwas plötzlich kam und die Antwort im Grunde absehbar war, nur die Deutlichkeit vielleicht nicht.
Aber was der Urbach abgezogen hat, das hat mich richtig wütend gemacht. Auf der Bühne nach dem Verkünden des Ergebnisses, das hat schon gereicht. Aber mit dem Interview danach bin ich heilfroh wenn er austritt. Da gibt einige Dinge die das überfällig machen. "Seine" "linke" Partei, die ihn nichtmal mehr sofort erkennt ... TSCHÜSS!
Danke Frank!
Das Meinungsbild kam doch nicht überraschend, Bernd hatte es mehrfach angekündigt, z.B. bei der Aussprache am Vortag und in der Begrüßungsrede:
2012-11-24 10:16:20
Bernd: Der BuVo hätte gerne ein Meinungsbild von euch, welchen Inhalt der nächste Parteitag haben soll. Programm oder Vorstandswahl. ???? Ich möchte euch deshalb bitten, die vielen Gespräche abseits der Agenda auch dafür zu nutzen, zu klären, welchen Verlauf der nächste BPT haben soll. Ich werde heute nachmittag um 17 Uhr ein entsprechendes Meinungsbild einholen. ???? Aber jetzt: Machen wir Politik, bevor uns der Hausmeister rausschmeißt. Und jetzt: Frau Oberbürgermeisterin...
Wenn du von der Frage überrascht wurdest, dann warst du also schlecht informiert. Ich wusste, worum es ging, als Bernd um 17 Uhr ans Mikro kam.
Davon abgesehen hätte der Vorstand die Basis nicht fragen müssen. Laut Satzung wird die Entscheidung, wann Parteitage abgehalten werden und ob mit der Ankündigung von Vorstandswahlen eingeladen wird, vom Vorstand getroffen. Ausnahmen sind außerordentliche Parteitage, die von einem Quorum der Mitglieder selbst einberufen werden können.
Auch die Abkehr von "Themen statt Köpfe" wurde am Vortag bei der Aussprache diskutiert. Es gab keinen Widerspruch.
Ganz davon abgesehen steht nirgendwo geschrieben, dass sich Piraten an die Strategievorgaben eines Vorstands halten müssen. Es gilt noch immer das piratische Mandat.
Ich weiss das mit der Satzung und dem Entscheidungsrecht des Vorstands. Darauf kommt es aber an dieser Stelle nicht an. Werden wir in Zukunft die Richtung für die Partei bestimmen, in dem bestimmte Personen in kleinen Kreisen, sinnigerweise bei Anwesenheit der Presse, ihre Vorgaben machen? Eigentlich dürfte es sich von selbst verstehen, dass Basisdemokratie etwas anderes bedeutet.
1. Bernd sprang nicht plötzlich auf die Bühne. Er hatte es in seiner Eröffnungsrede angekündigt, das tun zu wollen.
2. Ich zitiere die Bundessatzung: "Die Mitglieder des Bundesvorstands werden vom Bundesparteitag mindestens einmal im Kalenderjahr gewählt." Er handelt im Rahmen der legitimen Möglichkeiten — und wollte sich hierbei ein Feedback einholen. Und gerade für Wahlen macht diese Regelung auch Sinn.
3. Man hätte es geschickter machen können, bspw. GO-Antrag Änderung der TO (es gab dafür einen Antrag)