Parallelwelt
Ein Tag im Berliner Abgeordnetenhaus
Wenn man als Pirat seinen Urlaub in bzw. in der Nähe von Berlin verbringt, was liegt dann näher, als der Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus mal einen Besuch abzustatten? Oder noch besser gleich mal in den Alltag eines Piratenabgeordneten hinein zu schnuppern? Wie praktisch, es gibt ja Twitter ... Ein paar Minuten später hab ich die Antwort von @schmidtlepp alias Christopher Lauer, der kein Problem mit meinem Ansinnen hat.
Wir verabreden uns für Montagmorgen im Abgeordnetenhaus in der Niederkirchnerstrasse in der Nähe des Potsdamer Platzes. Wenn man aus dem beschaulichen Thüringen kommt, ist schon die morgendliche Odyssee durch den verstopften Berliner Stadtverkehr eine Tortur für die Nerven. Prompt komme ich zu spät, macht aber nichts. Christopher Lauer hat mich informiert, dass sein erster Termin an diesem Tag die Sitzung des Innenausschusses ist, zu dem ich mich auch einfinden soll. Am Eingang eine Kontrolle wie am Flughafen, der Sicherheitsdienst ist jedoch locker und freundlich, alles Routine. Ich betrete vor Beginn der Sitzung den Saal und werde gleich vom nächsten Sicherheitsbeamten herausgefischt, der mir irgendwie an der Nase ansieht, dass ich hier nur Gast bin. Personalausweiskontrolle, dann kann ich bleiben. Um mich herum ein Haufen Journalisten, Mitarbeiter der Verwaltungen und Fraktionen. Die erstaunliche Medienpräsenz klärt sich auf: Herr Körting, Innensenator a.D., soll in der Sitzung zur NSU-Affäre angehört und befragt werden. Da er erst später eintrifft, lichten Fotografen schonmal seinen leeren Sitzplatz und sein Namensschild ab. Ich bin im deutschen Politikalltag angekommen.
Die Sitzung beginnt. Zum Thema NSU und den Aktivitäten eines V‑Mannes, in die auch das Berliner LKA involviert war, wird ein umfangreicher Fragenkatalog der Grünen und Linken durch die Vertreter des Senats beantwortet. Oder besser gesagt nicht beantwortet. In ermüdender Wiederholung wird immer wieder gleich vorgetragen: darüber kann nichts Verbindliches gesagt werden, das wird zur Zeit noch geprüft, das unterliegt der Geheimhaltung. Die Verwaltung mauert was das Zeug hält, das kriegt man auch als ungeübter Beobachter nach fünf Minuten mit. Christopher Lauer wird ungeduldig und hakt ein, man solle doch lieber nur die Fragen verlesen, auf die es wirkliche Antworten gibt und nicht die Zeit der Abgeordneten stehlen.
Zwischendurch erscheint Herr Körting, der 2011 nach mehr als 10 Jahren Amtstätigkeit als Innensenator nicht wieder angetreten war. Die Fotografen überschlagen sich und müssen aus dem Innenbereich des Sitzungsraumes vertrieben werden. Der rhetorisch perfekte Politiker gibt ein wenig Blabla zum Besten und antwortet dann auf Fragen der Opposition. An dieser Stelle fällt mir auf, dass überhaupt nur die Opposition nachfragt. Die Koalition scheint keinerlei Interesse an der Aufklärung der Verfehlungen in Verbindung mit dem NSU-Komplex zu haben. Das fällt auch Christopher Lauer auf, der das den SPD-Abgeordneten um die Ohren haut und von einem "unwürdigen Verhalten" spricht. Überhaupt stellen die Piraten die in meinen Augen besten Nachfragen. Wie kann es sein, dass Herr Körting auf der einen Seite V‑Leute für unverzichtbar hält, auf der anderen Seite aber betont, wie unglaubwürdig und zweifelhaft deren Informationen oft sind? Wie kann es sein, dass ein V‑Mann 10 Jahre lang geführt wird, zwischendurch straffällig wird und der Innensenator weiss davon nichts? Die Widersprüche sind auch für Aussenstehende wie mich offensichtlich. Zum Schluss kippt die Veranstaltung in einen offenen Schlagabtausch. Eine recht junge Grünen-Abgeordnete flippt regelrecht aus, wird immer lauter und macht ihrem Unmut über die ausweichenden Antworten Luft. Es wird chaotisch im Saal. Erst jetzt, wo sich die Koalition angegriffen fühlt, äußern sie sich. Ein wenig erinnert mich das an den Jenaer Stadtrat: die Opposition läuft mit ihren Anträgen und Fragen gegen die Wand, die "Regierungskoalition" wiegelt ab. Auf unterschiedlichen politischen Ebenen scheint das Gleiche abzulaufen.
Nach der Vertagung des Ausschusses stürzt Christopher Lauer mit mir im Schlepptau in die Kantine, um schnell etwas zu essen. Die nächsten Termine warten, alles ist etwas hektisch. Schnell hackt er noch einen Beitrag zum Ausschuss in den Blog der Fraktion. Die Piraten-"Basis" ist anspruchsvoll und möchte wissen, was die Fraktion so treibt. Ich mache mich mit ein paar Fragen bemerkbar, aber es ist wenig Zeit. Der Fraktionsvorstand wartet, um über Personalfragen zu beraten. Das ist vertraulich, ich muss draussen bleiben und suche mir einen Coffee Shop am Potsdamer Platz, um die Pause zu überbrücken.
Natürlich werde ich bei meiner Rückkehr ins Abgeordnetenhaus erneut gefilzt. Die Räume der Piratenfraktion sind übrigens ganz oben unterm Dach untergebracht, wer eine rauchen will, muss jedesmal 5 Stockwerke runter und wieder hoch. Das Büro von Christopher Lauer, immerhin auch Vorsitzender seiner Fraktion, ist klein, spartanisch eingerichtet, mit Dokumentenstapeln zugestellt. Kreative Arbeitsatmosphäre — nope. Jeder drittklassige Sachbearbeiter in einem börsennotierten Unternehmen hat freundlichere Arbeitsbedingungen.
Eine Fraktion ist allerdings auch wie ein kleines Unternehmen zu betrachten. Die Infrastruktur muss stimmen, der Laden muss laufen. Mitarbeiter zu Hauf. Persönliche Mitarbeiter der Abgeordneten, in der Geschäftsstelle, Pressereferenten, Juristen, IT-Leute, alles muss organisiert und im Auge behalten werden. Prompt erscheint als nächster Termin eine Mitarbeiterin des Piratenabgeordneten im Büro. Rechnungen werden gegengezeichnet, eine endlose Liste von Terminen abgestimmt. Es ist unglaublich, wieviele Institutionen eine Sehnsucht danach haben, einen Abgeordneten bei einer ihrer Veranstaltungen zu begrüßen. Empfänge, Gala-Veranstaltungen, Vernissages, Workshops, Unternehmerverbände, Behindertenvereine, Kriegsgräberfürsorge, Kulturorganisationen, Stiftungen, Kongresse — die Termine nehmen kein Ende. Darunter auch — ein Schelm der Böses denkt — ein Politik-"Forum" eines Glücksspielautomatenherstellers. Christopher Lauer klickt wie wild in seinem Kalender herum, wählt aus, sagt da zu und hier ab. Die Sachbearbeiterin kümmert sich um den Schriftverkehr. Der Tag ist mittlerweile schon weit fortgeschritten und für Christopher Lauer ist die Luft raus, wie er sagt.
Das Telefon klingelt. Eine Redakteurin der FAZ ist am Apparat und möchte Näheres über die heutige Ausschusssitzung wissen. Der Pirat plaudert ungezwungen, stellt auf Laut, damit ich mithören kann. Ist das ein Interview? Muss man nicht aufpassen, was man sagt? Christopher winkt ab. Das war nur eine informelle Recherche, Journalisten klopfen die Situation nach allen Seiten ab. Richtige Interviews lässt er sich vor Veröffentlichung zum Gegenlesen vorlegen. Auch diese Telefongespräche gehören zum Abgeordnetenalltag. Wieder eine halbe Stunde verstrichen.
Endlich kommen wir ein bisschen mehr ins Gespräch. Ich frage, wo eigentlich die konzeptuelle Arbeit bleibt? Gesetzesinitiativen, Beschlussvorlagen, strategische Inhalte? Christopher winkt zum zweiten Mal ab. Dafür sind die Referenten da. Ich würde ja sehen, wieviel Zeit am Tag effektiv für die eigentliche Arbeit bleibt. Die Abstimmung innerhalb der Fraktion ist schwierig, man müsse den anderen vertrauen, dass sie in ihrem Fachbereich und im jeweiligen Ausschuss ordentliche Arbeit leisten und ihre Sache voranbringen. Termine, Fraktions- und Ausschusssitzungen, Plenum, Repräsentanz, Orga-Kram, Bürokratie — ich beginne zu begreifen, dass Politik unter diesen Vorgaben wenig berauschend ist. Spass macht es trotzdem, sagt da der Schmidtlepp. Wie heute morgen im Ausschuss, wenn man die Gelegenheit hat, die Koalition öffentlich vorzuführen. Obwohl immer nur in der Opposition zu sein, irgendwie meschugge macht, wie man ja an den Grünen im Haus sehen könne. Ich frage noch danach, welche Fehler eine neugegründete Fraktion machen könne und denke im Stillen schon ein wenig an Thüringen 2014. Auf die Auswahl der Leute kommt es an, sagt Christopher. Man müsse sich genau ansehen, wen man aufstellt. Wer vorher ein Schwätzer ist, würde das dann auch in der Fraktion sein und nichts zustande bringen. Wer vorher schon gearbeitet und Dinge bewegt hat, wird das auch in einem Mandat tun. Außerdem müsse man zusammenarbeiten können. Leider würden sich die Leute zu oft von den Schwätzern blenden lassen.
Der Tag ist zu Ende und ich bedanke und verabschiede mich. Als ich auf der Strasse stehe, kommt es mir so vor, als ob ich gerade aus einer Parallelwelt wieder aufgetaucht bin. Abgesetzt im realen Leben. Um mich herum Tausende von Menschen, die von ihrer Arbeit kommend nach Hause hasten. Leute, die Abfallbehälter nach Flaschen absuchen. Japanische Touristen, die die Hochhäuser am Potsdamer Platz ablichten. Studentinnen, die ihr Bafög als Verkäuferinnen in den Fastfoodketten aufbessern. Alles hinterlässt in mir einen zwiespältigen Eindruck. Ich habe grosse Lust auf Politik. Ich möchte gern an notwendigen Veränderungen in dieser Gesellschaft mitwirken. Aber so? Ich verstehe, warum so oft davon geredet wird, dass Politiker den Bezug zum normalen Leben und den Sorgen und Nöten der Menschen verlieren. Die Parallelwelt mit ihren eigenen Gesetzen und Regeln fordert ihre Opfer. Ich nehme mit, dass man über die Schnittstelle zwischen beiden Welten dringend nachdenken muss. Das reicht mir erstmal.
Der Lärm auf der Strasse ist ohrenbetäubend. Eine Weile irre ich umher, um mein Parkhaus wieder zu finden. Ich sitze im Auto. Nachdenklich. Der Stadtverkehr verschluckt mich.
12 thoughts on “Parallelwelt”
Toller Artikel! 😉
Grüße aus Ilmenau
vom @phantaster
Echt deli ,-), geht mir unter die Haut ‑als best of Berliner Blitzlicht- ist Urlaub purgebucht!