Fazit: Katastrophal!
Die Beschneidung von Jungen — eine desaströse Bilanz in 13 Punkten
"Beim vorliegenden Gesetzentwurf werden Grundrechte von Kindern missachtet, das ist katastrophal."
Wolfram Hartmann
Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte
Das Urteil ((Urteil vom 07.05.2012 – 151 Ns 169⁄11 — der Originaltext des Urteils findet sich hier: http://www.iww.de/quellenmaterial/122086)) der 1. Strafkammer des Kölner Landgerichts ((Strafgerichte haben sich übrigens abgesehen von dem Fall, der dem Urteil des LG Köln zugrunde lag, soweit ersichtlich, nie zuvor mit der Beschneidung männlicher Kinder befasst.)) zur Einstufung der Beschneidung eines Jungen als rechtswidrige Körperverletzung ((im Sinne von § 223 Absatz 1 des Strafgesetzbuchs (StGB) )) hat in den letzten Monaten eine umfangreiche und kontrovers geführte Debatte zur Genitalverstümmelung im Allgemeinen und zur weit verbreiteten religiösen Praxis der Beschneidung von Jungen im Besonderen hervorgerufen. Aufgrund des lautstarken Protestes von Funktionären und Klerikern verschiedener Religionsgemeinschaften, Kirchen und religiöser Verbände setzte die Bundesregierung im Eiltempo ein Gesetzesverfahren in Gang, das die bei fehlender medizinischer Indikation bestehende Strafbarkeit der Beschneidung in Frage stellen und letztendlich abschaffen soll.
Der Gesetzentwurf liegt mittlerweile vor, wurde am 2. November in einer Sitzung des Bundesrates nicht beanstandet und steht nun demnächst zur Abstimmung im Bundestag an. Vorgesehen ist, im Recht der elterlichen Sorge (§§ 1626 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuchs – BGB) aufzunehmen, dass die Personensorge der Eltern grundsätzlich auch "das Recht umfasst, bei Einhaltung bestimmter Anforderungen in eine nicht medizinisch indizierte Beschneidung ihres nicht einsichts- und urteilsfähigen Sohnes einzuwilligen". Der Gesetzentwurf sieht außerdem als Alternativen dazu ausdrücklich "Keine." vor.
Bei der Vorbereitung der Vorstellung meines Antrags "Das Recht von Kindern auf körperliche Unversehrtheit schützen!" für den Landesparteitag 2012.2 der Thüringer Piraten fiel mir auf, dass mittlerweile so viel zu diesem Thema geschrieben wurde, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Umso notwendiger erscheint es mir, kurz und knapp zusammenzufassen, warum dieses geplante Gesetz eine Katastrophe für die Rechte von Kindern darstellt und welche Argumente dabei entscheidende Einwände sind.
Pkt. 1 Vorrang des Kindeswohls
Die Bundesrepublik Deutschland hat bereits 1992 die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert und 2010 die noch offene Vorbehaltserklärung ((nach der das deutsche Ausländerrecht Vorrang vor den Verpflichtungen der Konvention haben sollte)) zurückgenommen. Damit gilt Art. 3 Abs. 1 der Konvention uneingeschränkt: "Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleich viel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist." Der vorliegende Gesetzentwurf zieht andere Gesichtspunkte (Religionsfreiheit der Eltern, elterliche Sorge, Recht der Eltern auf Erziehung) dem Kindeswohl vor und ist damit eine eklatante Missachtung der Bestimmungen der UN-Kinderrechtskonvention.
Pkt. 2 Desaströse Missachtung weiterer Bestimmungen der UN-Kinderrechtskonvention
In Artikel 24 Absatz 3 der UN-Kinderrechtskonvention heisst es: "Die Vertragsstaaten treffen alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen." Der Gesetzgeber versucht dieser Pflicht zu entgehen, indem er in seiner Begründung zum Gesetzentwurf behauptet, Art. 24 Abs. 3 würde sich unausgesprochen lediglich auf die weibliche Genitalverstümmelung beziehen und niemand hätte bei der Abfassung dieses Artikels die Beschneidung von Jungen im Blickfeld gehabt.
Die Einhaltung der Bestimmungen der Konvention überwacht das zuständige UN-Vertragsorgan, der "Ausschuss für die Rechte des Kindes". Dieser hebt in seinen "Allgemeinen Bemerkungen zur UN-Kinderrechtskonvention" deutlich hervor: "Definitionen von Gewalt dürfen unter keinen Umständen das fundamentale Recht des Kindes auf menschliche Würde und auf körperliche und seelische Integrität untergraben, indem gewisse Formen von Gewalt als gesetzlich und/oder sozial zulässig beschrieben werden." ((Im Original heisst es: "Der Ausschuss hat durchgängig die Position vertreten, dass jede Form von Gewalt gegen das Kind – wie geringfügig auch immer sie sein mag – inakzeptabel ist. Die Formulierung «das Kind vor jeder Form körperlicher oder psychischer Gewaltanwendung ... schützen» lässt keinen Spielraum für irgendeine Art legalisierter Gewalt gegen das Kind. Bei der begrifflichen Klärung dessen, was unter Gewalt zu verstehen ist, ist weder die Häufigkeit beziehungsweise die Intensität der Schadenszufügung noch die Absicht, Schaden zuzufügen, ausschlaggebend. Es steht den Vertragsstaaten frei, in ihren Interventionsstrategien auf diese Faktoren zu verweisen, um angemessene Massnahmen zum Wohl des Kindes zu identifizieren, aber Definitionen von Gewalt dürfen unter keinen Umständen das fundamentale Recht des Kindes auf menschliche Würde und auf körperliche und seelische Integrität untergraben, indem gewisse Formen von Gewalt als gesetzlich und/oder sozial zulässig beschrieben werden." — Das Recht des Kindes auf Schutz vor jeder Form von Gewalt, UN-Kinderrechtskonvention, Artikel 19 Allgemeine Bemerkung Nr. 13. Quelle: http://kinderschutz.ch/cmsn/files/120521_GC_13_d_light.pdf ))
Pkt. 3 Verfassungswidrigkeit
Dem Kind steht ein grundgesetzlich definiertes eigenes Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit zu (Art. 1 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 1 GG). Die Religionsfreiheit des Kindes (Artikel 4 Absatz 1 GG) genießt ebenso wie seine körperliche Unversehrtheit (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG) grundrechtlichen Schutz. Der Gesetzentwurf missachtet die verfassungsrechtlich garantierten grundlegenden Individualrechte des Kindes und stellt die Rechte der Eltern bzw. die Rechte einer religiösen Gruppe oder Gemeinschaft über die des Kindes.
Pkt. 4 Religionsfreiheit ist ein individuelles Recht
Die elterliche Sorge umfasst zwar auch das Recht, das Kind nach den eigenen religiösen Glaubensvorstellungen zu erziehen. Erziehung bedeutet jedoch die Vermittlung der eigenen Überzeugungen, Wertevorstellungen und Glaubensinhalte. Erziehung kann niemals das Recht beinhalten, das eigene Kind körperlich verletzen zu dürfen. ((Völlig adäquat dazu gilt seit November 2000 der § 1631 des BGB, in dem es heisst: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Im übrigen gilt das Primat des Kindeswohls in der elterlichen Sorge auch entsprechend § 1627 BGB.)) Das Recht auf freie Religionsausübung nach Art. 4 Abs. 2 GG ist ein individuelles Recht, es erstreckt sich nicht auf andere. Die eigene Freiheit endet da, wo die Freiheit des anderen Menschen beginnt. Dieses Recht ist im übrigen auch dem Kind selbst zuzubilligen.
Pkt. 5 Lügen, dass sich die Balken biegen
Insbesondere Vertreter von religiösen Organisationen und Institutionen bzw. religiöse Beschneider führen nachweislich falsche Behauptungen an, um die Praxis der männlichen Beschneidung zu verharmlosen. Insbesondere wird immer wieder behauptet, die Vorhaut hätte gar keine Funktion, sei überflüssig, ja sogar schädlich oder "verabscheuungswürdig". Es wird außerdem behauptet, der Eingriff würde keine oder kaum Schmerzen verursachen, nur wenige Minuten dauern oder dass Säuglinge noch kein ausgebildetes Schmerzempfinden hätten. All das ist falsch. Auch der Gesetzgeber behauptet in der Begründung zum Gesetzentwurf fälschlicherweise, dass mit dem Eingriff "nur eine geringfügige Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit verbunden" ist. In Wirklichkeit ist jedoch die Beschneidung der männlichen Genitalien aus nichtmedizinischen Gründen als Verstümmelung anzusehen, da 50 % der Penishaut entfernt und die nervenreichsten und empfindsamsten Bereiche am Penis irreversibel geschädigt werden.
Hinzu kommt, dass die möglichen Risiken des Eingriffs heruntergespielt werden. Dabei müssen — wie bei jedem anderen medizinischen Eingriff auch — u.U. Nebenwirkungen und Risiken in Kauf genommen werden, etwa Meatusstenosen, Harnröhrenfisteln, Schädigungen der Eichel oder der Harnröhre, Harnröhreninfektionen, tagelange Wundschmerzen, Wundinfektionen bis hin zum Tod von Neugeborenen. Auch wenn diese Nebenwirkungen nicht in jedem Fall auftreten, so ist das kein Grund sie ohne medizinische Notwendigkeit in Kauf zu nehmen. Auch hier hat das Kindeswohl Vorrang und zwar für jedes einzelne Kind und nicht nur statistisch gesehen für eine abstrakte Gruppe. Unabhängig von physischen Beeinträchtigungen sind zudem psychische Beeinträchtigungen in Betracht zu ziehen, etwa Traumatisierungen durch Schmerz — insbesondere bei älteren Jungen, bei denen die Beschneidung in einer Entwicklungsphase durchgeführt wird, in der sich die sexuelle Identität herausbildet. ((siehe z.B. http://www.taz.de/!97961/))
Pkt. 6 Vergleichbare Praktiken bei Mädchen/Frauen werden als Verbrechen geahndet
In der offiziellen Begründung des Gesetzentwurfs ((Es lohnt sich einmal diese Begründung zu lesen und sich dabei zu vergegenwärtigen, dass wir es hier mit einem juristisch allgemein wirksam werdenden Gesetz eines säkularen Staates zu tun haben. In dieser Begründung werden nicht nur die sattsam bekannten Bibelstellen zitiert, sondern auch so überzeugende "Argumente" wie "... ein nichtbeschnittener Mann gilt überhaupt nicht als Mann, sondern als ein Knabe“, ein Zitat von Nelson Mandela, vorgebracht.)) wird zur Befürwortung der Beschneidungspraxis bei Jungen angeführt: "Im Islam gilt die Beschneidung ... bei Sunniten und Schiiten als islamische Pflicht bzw. empfohlene Tradition und gehört zu den Glaubensüberzeugungen der Muslime ... Bei zwei der sunnitischen (hanafitische, malikitische) sowie den meisten schiitischen Rechtsschulen gilt die Beschneidung als religiöse Pflicht (wajib); bei den weiteren sunnitischen Rechtsschulen (schafiitische, hanbalitische) gilt sie als mit Nachdruck empfohlene Tradition des Propheten..." Dabei wird absichtlich verschwiegen, dass diese angeführten Rechtsschulen (außer der hanafitischen) auch die sogenannte "Sunna-Beschneidung" bei Mädchen/Frauen befürworten bzw. für eine religiöse Pflicht halten. Bei der "Sunna-Beschneidung" handelt es sich um die Entfernung der Klitoris-Vorhaut, also um eine der männlichen Beschneidung ähnliche Praxis. Diese weit verbreitete Methode ist international als "Weibliche Genitalverstümmelung Typ I" bekannt und geächtet. Sie gilt in jedem Fall als strafbare gefährliche Körperverletzung. In absurdem Gegensatz dazu wird die anatomisch adäquate Entfernung der Vorhaut bei Jungen verharmlost und straffrei gestellt.
Pkt. 7 Sexismus pur
Es ist nicht einzusehen, warum Art. 3 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes: "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich." und "Männer und Frauen sind gleichberechtigt." nur für Erwachsene, nicht aber für Kinder gelten sollen. Jemandem nur aufgrund seines Geschlechtes Grundrechte zu entziehen, den Schutz seiner Rechte zu versagen oder seine körperliche Unverletzlichkeit in Frage zu stellen, ist zutiefst sexistisch. Sexistisch sind auch die typisch männlichen Gender-Klischees, die durch die männliche Beschneidung fortgesetzt geprägt werden, etwa dass richtige Männer keinen Schmerz kennen, die Zähne zusammenbeißen müssen, nur durch das Ertragen von Schmerz zu richtigen Männern werden, ihr Mut auf die Probe gestellt werden muss, sie lernen müssen, ihre Tränen herunterzuschlucken, das Ausdrücken von Gefühlen unmännlich, Härte und Gefühllosigkeit dagegen männlich sind usw.
Pkt. 8 Weiterhin keine adäquate Schmerzbehandlung vorgesehen
Insbesondere traditionelle religiöse Rituale der Beschneidung von Jungen sehen sehr häufig überhaupt keine oder eine nur unzureichende Schmerzbehandlung vor. Man muss sich vergegenwärtigen, dass dies bedeutet, dass bei den Jungen die Verletzung eines sehr empfindlichen Teils der Genitalien ohne Betäubung stattfindet!
Der vorliegende Gesetzentwurf garantiert auch in Zukunft keine ausreichende Schmerzbehandlung bei diesem Eingriff, weil er eine wirksame und pädiatrisch fundierte Anästhesie nicht zur zwingenden Voraussetzung macht, sondern lediglich auf die Regeln der ärztlichen Kunst hinweist. Diese schwammige Formulierung lässt erhebliche Spielräume. "Der Gesetzgeber ignoriert dabei die Tatsache, dass eine wirkungsvolle Schmerzbehandlung, soweit – wie bei Säuglingen am achten Tag nach der Geburt – keine Narkose möglich ist, allein bei einer vollständigen Nervenblockade im Penisbereich gelingt, was allenfalls speziell ausgebildete Anästhesisten zuverlässig beherrschen." ((http://www.tagesspiegel.de/politik/beschneidungsdebatte-bizarre-missachtung-kindlicher-rechte/7195488.html ))
Pkt. 9 Ignoranz gegenüber kritischen Stellungnahmen
Der Gesetzentwurf bezieht sich in seiner Begründung absurderweise auf eine Stellungnahme der Amerikanischen Akademie der Kinderärzte (AAP), eines Verbandes aus einem Land, in dem immer noch ein großer Teil der männlichen Neugeborenen aus fragwürdigen Gründen ((u.a. zur Erschwerung der Masturbation)) beschnitten werden. Man bezieht sich in seiner Expertise dabei also auf das — neben Somalia — einzige Land auf der Welt, das der UN-Kinderrechtskonvention nicht beigetreten ist!
Weltweit haben mittlerweile 30 pädiatrische Verbände der Auffassung der AAP widersprochen und halten sie für nicht von Forschungsergebnissen belegt. ((http://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/gp_specials/beschneidung/article/822738/beschneidung-paediater-entsetzt-eckpunkte.html)) Auch so gut wie alle Fachverbände von deutschen Kinderärzten haben sich skeptisch bis hin zu äußerst kritisch zum Gesetzesvorhaben geäußert, u.a. der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte und die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie. Die überwiegend kritischen Stellungnahmen von Kinderschutzorganisationen (MOGIS e.V., Deutsche Kinderhilfe, Deutscher Kinderschutzbund u.a.) finden weder im Gesetzentwurf noch in der Begründung irgendeine Erwähnung, von Stellungnahmen religionskritischer, humanistischer und aufklärerischer Gesellschaften ganz zu schweigen.
Pkt. 10 Unabdingbar für religiöses Leben? Falsch!
Religiöse Autoritäten, insbesondere eines orthodoxen oder sehr traditionell ausgerichteten Judentums bzw. Islams haben öffentlich behauptet, dass die Beschneidung von Jungen ein unabdingbarer und unverzichtbarer Bestandteil ihrer jeweiligen Religion und als solche identitätsstiftend ist. Diese Äußerungen nehmen teilweise erpresserische Züge an, etwa als der Präsident der Konferenz Europäischer Rabbiner Pinchas Goldschmidt behauptete, Juden hätten in Deutschland keine Zukunft mehr und es würde sich beim Kölner Beschneidungsurteil um den schwersten Angriff auf jüdisches Leben seit dem Holocaust handeln. ((Der ultra-orthodoxe Berliner Gemeinderabbiner Yitzhak Ehrenberg antwortete auf die Frage der TAZ nach einer möglichen Verschiebung des Zeitpunktes der Beschneidung, dies sei ‚noch schlimmer als physische Vernichtung‘. Quelle nach: http://www.verfassungsblog.de/das-klner-beschneidungsurteil-und-das-judentum-teil-2-jdische-beschneidungspraxis)) Dabei wird eine Einmütigkeit und Homogenität innerhalb dieser Religionen behauptet und vorausgesetzt, die so nicht existiert.
Schon jetzt gibt es Reformgemeinden innerhalb des Judentums oder Islams, die z.B. anstelle der Beschneidung zu alternativen, unblutigen Ritualen greifen (Brith Shalom), darauf ganz verzichten oder die Entscheidung auf einen späteren Zeitpunkt verschieben, wenn das Kind einwilligungsfähig ist. Offenbar führen diese praktizierten Alternativen weder dazu, dass ihre religiöse Zugehörigkeit in Frage gestellt wird, noch ist diese Vorgehensweise ihrem religiösen Selbstverständnis irgendwie abträglich. Zahlreiche biblische Ge- und Verbote haben sich im Laufe der Zeit gewandelt und werden nicht mehr wörtlich ausgelegt, ohne dass dies als ein grundsätzlicher Angriff auf die Religionsfreiheit interpretiert würde.
Längst gibt es selbst in Israel eine öffentlichkeitswirksam tätige Bewegung von Beschneidungskritikern, die sich deshalb nicht weniger als Juden begreifen, etwa Jonathan Enosch mit seinem Verein "Ben Shalem" (Intakter Sohn), Ronit Tamir mit seiner Elternvereinigung "Kahal" (Eltern vollständiger Kinder) oder Ari Libsker, der mit seinem Film "Brit Mila" großes Aufsehen erregte und der die Beschneidung als "barbarischen Konsens" geißelte. ((siehe auch Organisationen wie Jewish Circumcision Resource Center oder Jews Against Circumcision. Der israelische Genetiker Avshalom Zoosmann-Diskin verklagte sogar den Gesundheitsminister in dieser Frage und der angesehene israelische Philosoph Hanoch Ben-Yami rief öffentlich dazu auf, die Praxis der Beschneidung zu beenden.)) Etwa 1–2 % der israelischen Eltern lassen schon jetzt ihre Jungen nicht beschneiden, 30 % würden es am liebsten lassen, unterwerfen sich aber unter dem Druck von Angehörigen oder aus Furcht vor Diskriminierung der Tradition.
Pkt. 11 Sexuelle Identität und sexuelle Repression
Die Beschneidung ist im Grunde ein religiöses Brandmal, das einen Menschen ohne Möglichkeit der Gegenwehr in eine Religion hineinzwingt und von vornherein deren Macht und Glaubenssätzen unterwirft. Es gibt genügend Hinweise darauf, dass diese religiöse Macht nicht zuletzt auch auf die freie sexuelle Identität und ein uneingeschränktes sexuelles Lustempfinden zielt. "All die schönen Rechtfertigungen und hochgestochenen theologischen Begründungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese häßlichen Traditionen sich doch nur die Sexualität als Feind einer jenseitig ausgerichteten Metaphysik untertan zu machen versuchen." ((https://www.frankcebulla.info/2012/der-unversehrte-mann)) So befürwortete der jüdische Philosoph und Gelehrte Moses Maimonides die Beschneidung aufgrund ihrer triebdämpfenden Wirkung. Er war der Meinung, man müsse die Geschlechtsorgane so verletzen und schwächen, dass sie zwar noch funktionieren, aber „überschüssige” Lust nicht mehr möglich ist. ((http://de.wikipedia.org/wiki/Zirkumzision#Judentum)) Insbesondere in der europäischen Geschichte und bis in die amerikanische Gegenwart hinein wurde dieser Aspekt übernommen, in dem man die Beschneidung als Mittel zur Einschränkung der Masturbation empfahl und immer noch empfiehlt.
Pkt. 12 Beschneidung ist auch bei Jungen nicht folgenlos
In der Begründung des Gesetzentwurfs heisst es bei "Abgrenzung von der Verstümmelung weiblicher Genitalien", dass bei dieser als "Gefahr schwerwiegender Gesundheitsrisiken und weitreichender Folgen" eine "Einschränkung oder Verlust der sexuellen Empfindungsfähigkeit" zu verzeichnen ist. Da die Vorhaut den sensibelsten Bereich des Penis darstellt, ist ihre Entfernung logischerweise ebenso mit einer Einschränkung der sexuellen Empfindungsfähigkeit verbunden. Hinzu kommt eine Austrocknung und Verhornung der Eichel, die ebenfalls zu Einschränkungen der sexuellen Sensibilität führen. Den geschilderten Erfahrungen beschnittener Männer ((siehe z.B. die Beschreibungen und Äußerungen von Najem Wali, Ali Utlu oder Cahid Kaya)) und den Ergebnissen einer wissenschaftlichen Studie aus Dänemark ((http://www.beschneidung-von-jungen.de/home/beschneidung-und-sexualitaet/studie-beweist-beschneidung-verschlechtert-sex-bei-maennern-und-frauen.html)) zufolge sind aufgrund der männlichen Beschneidung im späteren Sexualleben nicht selten vielfältige Störungen und Probleme die Folge.
Pkt. 13 Kinder als Menschen zweiter Klasse
"Und nicht zuletzt habe ich noch keinen einzigen Text gelesen, in dem ganz selbstverständlich gefordert würde, die Kinder selbst zu fragen, ob sie denn einen solchen Eingriff über sich ergehen lassen wollen — vorausgesetzt sie sind überhaupt in einem Alter, wo man eine solche Frage stellen könnte. Es gilt halt als völlig normal, dass Erwachsene über das Leben, die Gesundheit und den Körper von Kindern verfügen wie über einen Gegenstand, der zum Eigentum gehört." ((https://www.frankcebulla.info/2012/der-unversehrte-mann))
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit würde sich keiner der politischen Entscheider oder auch der Experten des Ethikrates unter den vage formulierten Vorgaben des hier diskutierten Gesetzentwurfs freiwillig einer so invasiven Beschneidung ohne wirksame Betäubung unterziehen oder das den eigenen Kindern zumuten. Ein ähnliches Verhalten einem Erwachsenen gegenüber würde sofort als Körperverletzung gewertet und entsprechend geahndet. Würde ein Arzt bei einer Beschneidung ähnlich wie ein religiöser Beschneider vorgehen, ((fehlende oder unprofessionelle Hautdesinfektion, Einreißen des inneren Vorhautblattes mit dem Fingernagel, Absaugen des Blutes mit dem Mund, wirkungslose Anästhesie durch Salbe, Zäpfchen oder Rotwein, Blutstillung durch Druckverband)) würde ihn das die Zulassung kosten. Bei kleinen Jungen, die sich nicht wehren können, wird dieser menschenunwürdige, gewalttätige und irreversible Eingriff dagegen schön geredet und straffrei gestellt. Das ist unter jedwedem Gesichtspunkt völlig inakzeptabel.
6 thoughts on “Fazit: Katastrophal!”
Sehr gute Zusammenfassung der Argumente gegen das Beschneidungsgesetz.
Katastrophal ist aber nicht nur der Gesetzentwurf, katastrophal ist auch die Tatsache, dass wir solche großartigen Sachen nur in kleinen versteckten Blogs mit winzigem Radius zu lesen bekommen.
Katastrophal ist in diesem Zusammenhang — bis auf wenige Ausnahmen — die Arbeit der Journalisten der Mainstreampresse. Sie arbeiten mit diesem Wegducken — wie auch schon lange das Fernsehen — an ihrer eigenen Marginalisierung. Aber warum bloß? Haben sie Angst vor ihrem Job, Angst vor dem religiösen Shitstorm? Oder haben sie Angst vor tätlichen Angriffen? Das wäre verständlich, aber wenn eine freie Presse Angst davor hat, ihre Freiheit zu nutzen, wofür brauchen wir sie dann noch?
In meinem Ärger über die allgemeine Berichterstattung, hier speziell in der SZ, habe ich ich mich zu einem wütenden Schreiben hinreißen lassen, das ich hier gerne mal zitieren möchte. Im Vorfeld hatte ich übrigens bereits nüchterne und sachliche Mails geschickt, bis mir dann förmlich der Kragen platzte:
"Die Zeiten sind vorbei, der man die Positionierung der SZ in der Beschneidungsdebatte als ärgerlich, traurig oder schlicht hanebüchen abtun konnte. Sie ist mittlerweile nur noch eines: eine unfassliche Dreistigkeit! Seit Beginn der Debatte formulieren die Beschneidungsgegner wohl fundierte Argumente, tragen medizin- und rechtswissenschaftliche Erkenntnisse zusammen und widerlegen die Argumente der Beschneidungsbefürworter sachlich, klar und vollumfänglich. Die Faktenlage ist dementsprechend: nach Monaten der Diskussion ist es den Beschneidungsbefürwortern nicht gelungen, auch nur ein einziges tragfähiges Argument zu präsentieren, warum es Eltern erlaubt sein sollte, am Penis ihrer Kinder herumschneiden zu lassen. Ebenso Fakt ist es, dass den Befürworten bislang nicht gelungen ist, auch nur ein einziges der zentralen Argumente der Beschneidungsgegner zu entkräften. Und da auch Janisch, Prantl und co. der Faktenlage nicht entgegenzusetzen wissen, sich aber in der unbedingten Pflicht sehen, jüdischen und evt. auch muslimischen Traditionalisten blindeifrig beizustehen, blenden sie die mannigfaltigen Argumente der Gegner schlicht aus oder geben sie grob sinnentstellend und verkürzt wieder.
Dieses Vorgehen ist nicht nur im höchsten Maße unlauter und angesichts des Sujets — Kinder sollen Schmerzen erleiden müssen dürfen — schlechterdings ekelerregend, es ist auch ein profundes Beispiel für einen miesen, manipulativ-niederträchtigen Kampagnenjournalismus."
Sehr gute Zusammenstellung der Problematik auf dem heutigen Stand des Wissens. Das sollte für alle Abgeordneten, die immer nur mit ausgewählten Textbausteinen antworten, Pflichtlektüre sein.
Vollste Zustimmung!
Hier geht es wirklich um eine Sache wo unsere Gesellschaft ehrlich und konsequent zu ihren Werten stehen muss.
Eine aufgeklärte Gesellschaft stellt das Kindeswohl ohne nachzudenken über die Gewohnheiten und Riten der Eltern.
Bravo! Sehr guter, sehr sachlicher Text.
Etwas verspätete Kritik: Der ansonsten wunderbar präzise Beitrag geht auf zweierlei Weise fast noch zu sehr auf die unehrlich geführte Debatte ein.
Erstens handelt es sich dabei um die von allen größeren Medienoutlets propagierte Rahmung "religiöse Beschneidungen". Tatsächlich aber sollte es in der Folge des Kölner Urteils viel präziser um "vermeidbare Eingriffe und Amputationen an nicht einwilligungsfähigen Personen" gehen. Die überwältigende Mehrzahl dieser vermeidbaren Amputationen geht in Deutschland nämlich nicht auf das Konto von religiösen Spinnern, sondern auf das Konto inkompetenter (und, man darf vermuten, gieriger und korrupter) deutscher Ärzte. Dabei wird in Deutschland viel zu häufig und viel zu früh eine "pathologische" Phimose diagnostiziert, wenn in Wirklichkeit in den allermeisten dieser Fälle eine vollkommen normale und nicht behandlungsbedürftige physiologische Phimose vorliegt, die sich beim Heranwachsenden in aller Regel von selbst löst. Zudem sind deutsche Ärzte immer noch weitestgehend uninformiert, was vorhauterhaltende therapeutische Alternativen angeht. So kommt es zu einer Beschneidungsrate in Deutschland, die etwa dreißig Mal höher liegt, als eigentlich zu rechtfertigen wäre.
Zweitens sollten wir nicht den Blick auf das Wesentliche verlieren. Der wahre Grund, warum vermeidbare Amputationen an Kindern falsch sind, liegt nicht in Gesetzestexten oder wissenschaftlichen Argumenten. Der wahre Grund ist, dass es eine groteske moralische Grenzüberschreitung ist. Der wahre Grund, warum man keine vermeidbaren Amputationen an Kinder durchführt oder durchführen lässt, ist: *Selbstverständlich nicht!*