Politik aus Notwehr
Warum ich als Politischer Geschäftsführer der Piraten Jena kandidiere
Ich bin quasi ein Relikt. Ja, in der Tat gehöre ich zu einer aussterbenden Gattung Mensch. Meine Generation ist die letzte, die ohne Computer, ohne Internet, ohne Social Media, Twitter & Co. aufgewachsen ist. In der Schule haben wir unsere Mathematikaufgaben auf dem Papier gerechnet. Hilfsmittel waren Rechenstab und Tafelwerk. Der erste Computer, mit dem ich — damals schon im Studium — in Berührung kam, war ein 8‑bit-Computer mit der Bezeichnung KC85, der ab Mitte der 80iger Jahre im thüringischen Mühlhausen hergestellt wurde. Der KC85 konnte grafisch 16 Vordergrund- und 8 Hintergrundfarben darstellen und besaß ein externes Laufwerk für Magnetbandkassetten als Speichermöglichkeit. Wir saßen in einem neu eingerichteten Computerkabinett an der Uni und sahen einem recht verzweifelten Mathematikdozenten zu, dem es nicht gelingen wollte, ein paar einfache Zeilen Basic-Code zum Laufen zu bringen. Obwohl auf unseren Bildschirmen wenig mehr als Kurven von mathematische Funktionen und farbige Quadrate auftauchten, war uns klar, dass hier etwas außerordentlich Faszinierendes vor sich ging.
Am Institut für physikalische Chemie, an dem ich in meiner Freizeit als Hilfsassistent arbeitete, gab es wenig später einen echten Westimport: einen Desktop-PC der Firma Schneider. Da es der einzige Computer dieser Art am Institut war (heute klingt das wie ein Märchen) mußte man "Rechenzeit" beantragen, um an das Schmuckstück zu kommen. Also saß ich spätabends noch im Institut, berechnete thermodynamische Gleichgewichte von Gasgemischen und spielte hinterher Schach gegen den Computer. Wenig später, kurz nach der Wende, besaß ich meinen ersten eigenen PC. Wenn ich mich recht entsinne, mit einer Festplatte von 32 MB und einem RAM von 64 kB. Mit einem vergnüglich quietschenden Modem wählte ich mich abends über die Telefonleitung ins Compuserve-Netzwerk ein. Ich habe keine Ahnung mehr, was ich da in den Newsgroups, Foren und Datensammlungen tat. Vermutlich hatte es mit politischen Verschwörungstheorien, nackten Frauen und Bugfix-Anleitungen für ein gewisses katastrophales Betriebssystem zu tun. Auf jeden Fall hatte es aber etwas mit unzensierten Informationen zu tun, die um den halben Erdball zirkulierten und unentwegt von den unterschiedlichsten Menschen, die sich nie persönlich begegnen würden, ausgetauscht wurden. Quasi über Nacht hatte die Realität der Welt eine neue Facette bekommen: die virtuelle Realität.
Ich bin in einem Staat groß geworden, in dem sich senile Betonköpfe alle Mühe gaben, die Menschen davon abzuhalten, ihr Land zu verlassen und eigene Wege irgendwo in der Welt zu gehen. Man tat dies mit Mauern, Stacheldraht, Zäunen und Selbstschussanlagen. Leute wurden wie Kaninchen auf nächtlichen Wiesen abgeknallt, nur weil sie ein paar Kilometer weiter gehen wollten, als es der ideologische Horizont einer linken Politikerkaste zuließ. "Das Leben der Anderen" war so interessant, dass ein Netz von Spitzeln das Land überzog und die unsinnigsten Informationen in Akten über alles und jeden gesammelt wurden. Nicht alles war in diesem Land schlecht, aber mit der Freiheit nahm man es nicht so genau. Der Staat war nicht für die Menschen da, sondern die Menschen für den Staat und seine wunderlichen Ziele.
Mehr als zwei Jahrzehnte nach der sogenannten Wende lebe ich heute in einem Staat, in dem senile Betonköpfe und macht- und geldgeile Karrieristen sich alle Mühe geben, den freien und unzensierten Fluß von Informationen zu verhindern. Sie wollen Information genauso einsperren und kontrollieren, wie es ihre Vorgänger bereits mit Menschen taten. Sie leben in der unsäglichen Angst, dass Menschen da draußen sich ihre eigenen Gedanken machen, ihr eigenes Leben führen und untereinander kommunizieren, ohne den Staat um Erlaubnis zu fragen. Die virtuelle Realität ist jedoch auf unserer Seite und wird daher immer mehr zum Feind für die Mächtigen. So wandelte sich die wunderbare Welt von morgen, in der sich Menschen ohne Grenzen vertrauensvoll und friedlich miteinander austauschen, in das angeblich gefährliche und gesetzlose Internet, das man regulieren, zensieren, überwachen und einschränken muss. Heute haben wir einen Staatsapparat vor Augen, dessen Überwachungsmaschinerie die alten Stasi-Leute mit ihren Wanzen und Karteikarten wie Deppen aussehen läßt. Wir haben europaweite Projekte wie INDECT, gegen die das Orwellsche "1984" wie eine Kindergartengeschichte daherkommt. Und wieder — zum wievielten Mal eigentlich? — gerät die Freiheit ins Hintertreffen und die Menschen müssen sich gegen eine scheinbar unbesiegbare Allianz der Macht zur Wehr setzen, auch im Interesse der eigenen Kinder und zukünftiger Generationen. Wir halten Demokratie mittlerweile für so etwas Selbstverständliches, dass wir kaum ein Gefühl dafür haben, dass die nächste totalitäre Diktatur schon um die Ecke lauert. Ist das übertrieben? In meinen Augen keineswegs.
"Piraten sind Politiker aus Notwehr." ((Zitat aus der Rede von @Pirat_Aleks_A auf dem Neujahrsempfang der Piraten Bayern 2012)) Ja stimmt, wir hätten wirklich Besseres und Schöneres zu tun. Piraten sind fast immer Menschen, die irgendwann den Kanal voll hatten von den etablierten Parteien und ihrer Politik des Eigennutzes, der Bevorzugung von Klientelen, der Bestechlichkeit, des weiteren Transfers von Wohlstand von unten nach oben und des Kapitals als einzigen Götzen einer ganzen Gesellschaft. Die Zeit ist gekommen, wo sich Menschen wieder ihre ureigenen Rechte zurück erobern müssen. Auf der Straße, in vielfältigen Initiativen und Aktionen, in Parlamenten, in der Politik. Wenn wir das nicht machen, geht alles den Bach runter. Piraten sind keine geleckten Profi-Politiker. Sie sind unbeholfen in der Darlegung ihrer Standpunkte. Sie können nicht so tolle Reden schwingen und haben nur wenig Talent, mit Lobbyisten und Wirtschaftsbossen gemeinsame Sache zu machen. Sie sind nicht scharf auf Pöstchen und Pensionen und nicht an Sitzen in Aufsichtsräten interessiert. Es geht einfach nur wieder um eine ehrliche Art der Politik für die ganz normalen Bürger. Weil Piraten selber auch nur ganz normale Bürger sind. Als mir das vor etwa zwei Jahren klar wurde, bin ich auch Pirat geworden.
Vielleicht ist das etwas überraschend, dass ich eine so allgemeine, ja abstrakte Begründung dafür liefere, warum ich in Kürze für das Amt des Politischen Geschäftsführers der Piraten Jena kandidieren werde. Fehlt hier nicht der Bezug zur Kommunalpolitik, zur Stadt, zum Jenaer Kreisverband? Die meisten Piraten in Jena kennen mein Engagement für diese Dinge, aber darauf kommt es in diesem Augenblick gar nicht an. Ohne die Freiheit ist alles nichts. Oder wie es Ludwig Börne geschrieben hat: "Man kann eine Idee durch eine andere verdrängen, nur die der Freiheit nicht." Es ist daher im Grunde diese Idee der Freiheit, die ich verteidigen, die ich voranbringen, die ich stärken möchte. Alles andere leitet sich davon ab: Mitbestimmung, partizipative Demokratie, Bürgerbeteiligung, der Kampf gegen Zensur und Überwachung, Bildung und kultureller Austausch, soziale Gerechtigkeit, gesellschaftliche Teilhabe. Das alles bedeutet viel Arbeit, nicht zuletzt auch Arbeit, um einen neuen Politikstil zu etablieren. Es ist mir ein sehr wichtiges Anliegen, dass wir diese grundsätzlichen Werte und unsere Ideale nicht aus den Augen verlieren, wenn wir als junge Partei von den bestehenden Verhältnissen aufgesogen werden. Wir brauchen eine Koalition mit den Bürgern, nicht mit irgendwelchen korrumpierten Regierungsparteien!
Um die Ecke lauert auch eine ganz andere, freie Gesellschaft ohne Angst und Unterdrückung. Wir müssen nur aufstehen, hinausgehen und gemeinsam die Chancen zu ihrer Verwirklichung ergreifen. Und genau das will und werde ich tun.