Stille Nacht! Heilige Nacht!
... oder was der Weihnachtsmann wirklich denkt.
Manche halten das Leben für die Krone des Universums. Der Planet Erde ist allerdings das beste Beispiel dafür, dass an dieser Ansicht irgendwas nicht hinhauen kann. An jedem Sternentag zur gleichen Sternzeit schalten Aldebaraner und die hochentwickelten Zivilisationen der Andromeda-Galaxis die Vorabend-Soup "Menschheit" ein, um sich köstlich zu amüsieren. Da sie auf ihren Welten keine Irrenhäuser haben, können sie sich so eine unterhaltsame Vorstellung davon machen, wie es sein muss, wenn ein ganzer Planet ein Irrenhaus ist. Insbesondere die Staffeln im irdischen Monat Dezember erfreuen sich großer Beliebtheit und große Mengen interstellares Popcorn werden dabei vertilgt.
In der sogenannten Weihnachtszeit passieren so viele wunderbare und romantische Dinge. Millionen Bäume werden geschlagen, in Zimmer geschleppt und mit lächerlichem Tand aufgepeppt. Oh unwiderstehlich schönes Grün! Wenn wir in naher Zukunft den letzten Fisch gefangen, den letzten Fluß vergiftet und den letzten Regenwald gerodet haben, dann können wir mit dir — du oft besungener Baum — immer noch so tun, als würde uns die Natur am Herzen liegen. Prosaische Typen kloppen die heilige Tanne kurz nach dem Fest in die Biotonne, religiösere Gemüter warten damit noch bis zum Dreikönigstag. Die drei Könige, die die Welt regieren, sind übrigens Barack Obama, Wladimir Putin und Xi Jinping. Wie das dann mit dem Gold, dem Weihrauch und der Myrrhe passt, scheint noch klärungsbedürftig, aber egal.
Über alle elektromagnetischen Kanäle dudeln musikalische Ergüsse, die dem bewährten Glaubersalz als Brechmittel in nichts nachstehen. Dabei hört man immer wieder die Worte Santa Claus, Christmas Church, Jesus Christ, Candles und Children. Letztere sind gerade bei einem vorweihnachtlichen Massaker zu Hauf zum Christkind geschickt worden, wo sie prompt von allen ihren Sünden erlöst wurden. Muttis in Connecticut überlegen derweil, ob sie sich dieses Jahr endlich das neue Sturmgewehr XM‑8 von Heckler&Koch leisten können, oder ob es nur für ein Pflege- und Munitionsset für die Bushmaster AR-15 im Wohnzimmerschrank reicht. Nachdem man dann gemeinsam in der Church über jenen mysteriösen Jesus (sprich: Schiiihses) gesungen hat, kann man sich damit beschäftigen, wer am schnellsten seine Waffe auseinander bauen und wieder zusammen setzen kann. Oder MenschÄrgereDichNicht spielen. Lustig, nicht wahr?
Pünktlich zum Fest der Liebe hat unser aller Papst den dritten Band seiner Jesus-Trilogie vorgelegt, in dem die Geburts- und Kindheitsgeschichten unseres Heilands zurechtgefälscht werden. ((siehe http://hpd.de/node/14638)) Darin heißt es: "Ist es also wahr, was wir im Credo sagen: '... geboren von der Jungfrau Maria?' Die Antwort lautet ohne Einschränkung: Ja." Und wer das nicht glaubt ist doof. Aber wir sind bereit zu glauben, jawohl! Wir glauben an den Weihnachtsmann und das Christkind, an fliegende Elche vor Schlitten, an eine der beiden großen Elektromarktketten, an Markus Lanz im Fernsehen, an die Urteile von Ratingagenturen, an den immer wiederkehrenden Untergang der Welt und daran, dass Analsex bestimmt böse ist. Glauben befreit! Der Glaube bereichert unser Leben und das aller kleinen Knaben, denen man dafür die Vorhaut abschneidet. Ohne Betäubung, versteht sich, damit sie sich schonmal auf ihren späteren Einsatz in Afghanistan, im Gaza-Streifen oder am Horn von Afrika einstimmen können. Ein echter Mann weint nicht, auch wenn er seinen Penis, einen Arm oder seinen Verstand amputiert bekommt. Basta!
Menschen glauben auch daran, dass sich Familien am Festtagstisch auf einmal vertragen, obwohl sie das ganze Jahr kaum miteinander geredet haben und dass dieses faserig-lapprige Stück Fleisch neben dem Fertigteigkloß bestimmt von einer glücklichen Ente auf einer wunderbar duftenden Kräuterwiese stammt. Das Schicksal dieses armen Tieres rührt wiederum Vegetarier und Veganer zu Tränen, die auch liebend gern Schnitzel und Döner und Bratwurst essen wollen, aber nicht dieses Schnitzel und nicht diesen Döner und nicht diese Bratwurst — sondern irgendetwas anderes, was nur so schmeckt aber aus etwas anderem hergestellt wird, aus was auch immer.
Und wie schön, dass es Schokolade gibt! Tafeln Schokolade. Regale voller Schokolade. Lastwagen voller Schokolade. Container voller Schokolade! Fabriken voller Schokolade!! Monde und Planeten aus Schokolade!!! Es ist völlig unmöglich für ein Kind unserer Tage, ohne Schokolade zu überleben. Nun ja, die armen Kinder vielleicht — die müssen sich schon etwas einschränken. Die von den Hartzern. Die kriegen dann ArmeLeute-Märchen von Hans-Christian-Andersen auf übrig gebliebenen Compact-Cassetten vorgespielt (den Kindern damals ging es noch viel schlechter als dir!) oder dürfen sich statt teurer Geschenke SAW IV im Fernsehen angucken. Und die alten Leute, deren Pflegesatz nicht ganz für Weihnachtsfreuden reicht, sondern nur für den Instantkartoffelbrei aus der Heimküche. Dokumentiert in Zeile 13 des Qualitätsmanagementbogens. Was soll's? Sie haben ja immer noch den Fernseher, in dem sie sich anschauen können wie es ist, in 25000Euro-pro-Nacht-Hotels Urlaub zu machen (unter der Sonne der Karibik), mit einem Butler, der weitere 8000 Euro pro Tag kostet und einer Yacht, die für eine kleine Spritztour schon im hoteleigenen Hafen bereitliegt. Ach ja, zurücklehnen und träumen. Vom Lottogewinn, von einem Job, der über ein halbes Jahr Leiharbeit hinausgeht, von einem Urlaub auf Gran Lazorca, einer Frau, die aussieht wie Maibritt Kirchberger (oder war es Ilona Hunziker?), mit echten Silikontitten und nicht nur den Polster-BHs von H&M. Von einem Mann, der einen Porsche fährt und nicht nur die Straba zum Arbeitsamt, der wenigstens als Held aus irgendeinem Krieg zurückkehrt oder bei Big Brother zum Supertalent gekürt wird, der kein Viagra nehmen muss, um überhaupt noch einen hoch zu kriegen und alle Tage mit am Pool liegen kann (und nicht am Fließband bei VW steht). Von einem Bankkonto, das noch richtige Zinsen (wie damals auf dem Sparbuch!) abwirft und nicht von der Krise verzehrt wird. Von richtigen Geschenken, die es nicht als Sonderangebot für 19,99 bei Müller gibt. Von einem Fass schottischem Whisky, 100 Jahre alt, mindestens. Von einer fetten Beamtenrente oder Politikerspesen oder beidem. Von einer Nacht mit Justin Bieber oder Lady Gaga oder beiden. Von genügend Shit und Koks für alle Tage, kostenlos versteht sich. Das Leben kann so verheißungsvoll sein. So wie die Weihnachtszeit.
Genau wie der Papst stellt auch der hessische Innenminister in der schönen Vorweihnachtszeit stolz ein aktuelles Werk vor: den neuen Wasserwerfer WaWe10. ((siehe http://twitter.com/Janine_Wissler/status/280644346351583232/photo/1)) Damit ausgestattet kann die Polizei — natürlich nach dem Friedensgebot der Feiertage — prima irgendwelchen aufmüpfigen Scheißdemonstranten die Augen ausschießen. Die werden sich dann hüten, je wieder für irgendwelche Rechte, die sie sowieso nicht haben, auf die Straße zu gehen. Dieses weihnachtliche Friedensgebot ist eine schöne Sache. Überall auf der Erde ruhen die Kriege, Putsche, Okkupationen und Völkermorde für ein paar Tage. Kindersoldaten können vom Plündern, Morden und Vergewaltigen etwas ausruhen und vietnamesische Mädchen müssen nicht ganz so viele Anoraks für KIK nähen wie sonst. Die Folterer der Geheimdienste verlassen ihre Geheimgefängnisse, um mit ihrer Familie und den Kindern der Geburt Jesu und dem Stern von Bethlehem zu gedenken. Da das christliche Abendland besinnlich einkehrt (leidenschaftlich gehasst vom islamischen Morgenland), gibt es weniger Öltanker-Katastrophen und es wird nicht ganz so viel Dünnsäure in die Ostsee gepumpt wie im restlichen Jahr. Der Atommüll strahlt friedlich, fast heimelig, in den Zwischenlagern vor sich hin und die Kamikaze-Drohnen bleiben am Boden, weil die fernsteuernden Piloten noch Weihnachtseinkäufe bei Macy's machen müssen. Nur die Kraftwerke laufen auf volle Pulle, damit alle Ökofuzzis ihre biologisch gedüngten Vorgärten und das doppeltgedämmte Haus mit quecksilberverseuchten Energiesparlampen beleuchten können (Lichterketten! Aah! Ooh!), während ihre antiautoritär erzogenen Kinder mit der neuen Wii spielen oder unter der selbstgesägten Plantagen-Nordmann-Tanne ihre Montessori-Klötzer (mit lösungsmittelfreier Farbe lackiert!) zusammenschrauben oder ihrem Geschwisterchen auf den Kopf hauen. Denn wenn sie groß sind, wollen sie auch Rambo oder Terminator oder Hannibal Lecter oder Josef Ackermann werden — wie alle anderen. In den Vorstädten (den sozialen Brennpunkten), die man vor den Festtagen versäumt hat mit dem Kärcher zu reinigen, denken ein paar nicht ganz so gut integrierte Jugendliche darüber nach, am Weihnachtsabend wahlweise in die U‑Bahn zu kotzen oder einen X‑Beliebigen totzuschlagen, aus Langeweile oder wegen dem Fun und so. Man kann es sich später auf den Videoaufzeichnungen der Überwachungskameras angucken, für was sie sich entschieden haben.
Die Weihnachtszeit ist eine schöne Zeit. Und wenn — am Heiligen Abend — die alte Schallplatte hervorgekramt wird, um Stille Nacht/Heilige Nacht zu hören, dann ist es nicht mehr weit bis zur Übelkeit nach dem Essen (Jägermeister!) und nicht mehr weit bis zur Bescherung. Und nicht mehr weit bis zu all den wunderbaren Dingen, die der Kapitalismus für uns bereit hält und über die wir uns alle Jahre wieder ein paar Stunden lang freuen, um sie dann sogleich zu vergessen, umzutauschen, kaputt zu machen und/oder zu entsorgen.
Und während die anderen Zivilisationen — ich meine die wirklich intelligenten Zivilisationen — dabei zusehen, wie auf dem Planeten Erde das Leben nur so tobt und sich das Klima erwärmt und wieder abkühlt und wieder erwärmt und ein paar Asteroiden knapp vorbeifliegen und ein paar indigene Völker aussterben und man ein paar neue Elementarteilchen entdeckt — naschen sie bei der Vorabendunterhaltung einige Tüten würziger Amöben mit Methangeschmack, hören den Papst mit gerührt-zittriger Stimme den Segen Urbi et Orbi spenden (für den Weltkreis!), machen große Facettenaugen und verschwurbelte Tentakeln, schütteln mit den Alienköpfen und fragen sich immer wieder: Was soll das eigentlich?