Ohne Bürger wird das nichts ...
Meine kleine Wahlnachlese
Kap. 1 Das Märchen
Es war einmal eine große Unzufriedenheit im Land. Die Menschen wandten sich von der etablierten Politik ab, fanden die Parteien verlogen und ihre Vertreter machtgierig, eigennützig und bürgerfern. Da tauchte eines Tages am Horizont eine Fregatte mit schwarzer Flagge auf und hoffnungsvoll schauten die Bürger zu, wie das Schiff anlegte und eine Meute frecher junger Piraten von Bord sprang und den Mächtigen eine Heidenangst einjagte. Den Bürgern gefiel das, was sie sahen. Denn die lustigen Piraten schienen wie die Nachbarn von nebenan zu sein, aber hatten noch Ideale und zeigten, dass es sich lohnte aufzubegehren und zu kämpfen. Die Leute fanden die Piraten ehrlich und authentisch und sie hatten auf einmal das Gefühl, dass es wieder Hoffnung gab im Land. Deswegen gaben sie ihnen ihre Stimme.
Kap. 2 Das Ende des Märchens
Die Bürger haben vergessen, warum sie einst so hoffnungsvoll auf die Fregatte mit der schwarzen Flagge geblickt haben. Die Piraten haben sich zerstreut und die Bürger vergessen. Es ist nicht sicher, ob die Piraten noch leben und nicht schon gestorben sind.
Kap. 3 Die Paradigmen der Piraten
Als die Piraten noch der Meinung vieler Bürger, insbesondere der Nichtwähler, waren, dass dieses System der repräsentativen Demokratie korrumpiert ist und das Deck gründlich geschrubbt werden muss, gab es ein paar wesentliche Paradigmen, über die sich die Mannschaft absolut einig war. Dazu gehörte der Begriff der Freiheit, denn darum ging es. Die Freiheit war in Gefahr — im Internet, aber auch unter dem unerbittlichen Druck eines fortschreitenden Überwachungsstaates im alltäglichen Leben. Freiheit hieß Meinungsfreiheit, aber auch Freiheit des eigenen Lebensentwurfs, Freiheit vor staatlicher Bevormundung, Freiheit vor Ausbeutung und monetärer Vernutzung des Menschen als profitables Verwertungsmaterial. Wenn man für Freiheit streiten wollte, musste man die klassischen Bürgerrechte wieder aus der Vergessenheit holen, abstauben, weiter entwickeln und ihnen zu der Bedeutung verhelfen, die ihnen laut Grundgesetz auch zustand. Aus diesem Paradigma erwuchsen all die schönen programmatischen Träume von mehr direkter Demokratie, Mitbestimmung, Volksentscheiden, Direktwahlen, Bürgerhaushalten usw. Hatte man den Bürgern wieder zu ihren angestammten Rechten verholfen, so musste man sich zwangsläufig auch über die ökonomischen Randbedingungen und Verteilungsmechanismen der Gesellschaft Gedanken machen. Menschen können noch so frei sein und viele Rechte haben, wenn man ihnen die sozialökonomische Teilhabe verwehrt, ändert sich an den ungerechten Verhältnissen rein gar nichts. Teilhabe war also das nächste logisch folgende Paradigma und stellte den Bürgern auskömmliche Mindestlöhne, Bildung, Kultur, kostenloses Wissen, Verteilung von Information und Umverteilung von Geld in Aussicht — und sogar eine Vision: das Bedingungslose Grundeinkommen. Aber es wäre naiv gewesen zu glauben, das alte System würde das alles freiwillig und freudig übernehmen, denn die Plätze an den prall gefüllten Trögen des Volksvermögens sind einträglich und Mächtige verlieren ihre Macht nicht gern. Transparenz war das Zauberwort, um die überall herrschende Verlogenheit und Korrumpiertheit ins Licht der Öffentlichkeit zu stellen und ihnen damit die Kraft zu rauben. Indem man Politik aus den Hinterzimmern herausholt, die profitablen Verflechtungen und Netzwerke sichtbar macht, auf Unbestechlichkeit, Ehrlichkeit und Authentizität in der Politik beharrt und diese selbst vorlebt, überantwortet man das alte System dem Müllhaufen der Geschichte, ohne einen einzigen Schuss abzufeuern und Leute, die es verdient hätten, unter Guillotinen zu zerren.
Und was die Bürger besonders toll fanden: den Piraten war das Alte wirklich egal. Die schönen bunten Etiketten, hilfreich beim Vernebeln des Verstandes, waren ihnen schnuppe. Links, rechts, gelb, rot, grün — was soll's? Es gab Probleme und die musste man angehen und dafür die besten Lösungen finden. Ideologische und pseudoideologische Parteien gab es schon genug — pragmatisch-lebensnahe kaum oder gar nicht. Das Urheberrecht aus vergangenen Jahrhunderten? Weg damit, wir wollen doch Wissen frei verteilen und Menschen bilden unabhängig vom Geldbeutel. Kostenloskultur? Aber gern, selbstverständlich für alle gleichermaßen. Firmenspenden, Dienstwagen, Parteitagssponsoren, dicke Spesenkonten und Gala-Essen mit Lobbyisten? Kein Interesse. Politik für Menschen braucht das alles nicht.
Kap. 4 Die Fahnenflucht
Bürger vergessen die Piraten, weil Piraten ihre eigenen Ideale und Paradigmen vergessen haben und damit auch die Bürger. Anderes ist wichtiger geworden: persönliche Auseinandersetzungen, Anfeindungen, Listenplatzgerangel, Talkshows, ideologische Grabenkämpfe, Etikettenansprüche, Schubladendenken, Ausgrenzungen, Intoleranz, Tool-Diskussionen, Gendering, Symbolpolitik.
Ach, denkt sich der Bürger, schade. Die stellen sich hin und erzählen auch nur irgendwas, aber was sie wirklich wollen, weiß man nicht. Sie reden von Freiheit, aber errichten Pranger. Sie kämpfen angeblich für Bürgerrechte, aber können nicht mal das Recht ihres Mitpiraten akzeptieren, eine andere Meinung zu haben. Sie streiten darüber, in welche Schublade ihre Partei gehört, aber wollten doch mal aus den Schubladen herauskommen und Lösungen für gesellschaftliche Probleme erarbeiten. Sie wollten Politik für alle machen, aber sind doch nur mit sich selbst beschäftigt. Schade. Sie wollten eine Alternative zu den Etablierten sein, aber heute freuen sie sich darüber, dass Rot-Grün eine Wahl gewinnt und nicht Schwarz-Gelb, so als wären die besser und als hätte es die Agenda 2010, Hartz-IV, den Jugoslawien-Krieg und die rot-grünen Anti-Terrorgesetze nie gegeben. Mir schien es, als hätten sie es begriffen, aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Noch so eine weitere Partei wie wir schon haben, brauche ich nicht. Wirklich sehr schade.
Kap. 5 Die Morgenröte
Viele Piraten kennen das Märchen noch. Sie haben ein Gefühl dafür, wie wichtig die Paradigmen sind. Sie pflegen weiterhin eine gesunde Abneigung gegen Befreiungstheologien, einen ideologischen Überbau und Wir-wissen-was-für-euch-gut-ist-Arroganz. Sie haben kein Problem damit Werte zu vertreten und zu verteidigen und trotzdem progressiv zu denken. Sie wissen ganz genau, dass sich an den Randbedingungen, die dazu geführt haben, dass die Fregatte mit der schwarzen Flagge einst in See stach, nicht ein Jota geändert hat und Piraten wichtiger sind denn je. Angesichts der Schreihälse, Streithähne, Schnösel und Vollpfosten verzweifeln sie manchmal, aber sie haben die Idee nicht aufgegeben und werden sie auch nicht so leicht aufgeben.
Die Idee, eine ehrliche Politik für alle Bürger zu machen.
Nur ohne Bürger wird das nichts, liebe Piraten.
2 thoughts on “Ohne Bürger wird das nichts ...”
Die Piraten haben hauptsächlich linke Themen besetzt. Aber eine weitere linke Partei wird tatsächlich nicht mehr gebraucht. 40 % der Wähler haben ohnehin resigniert und gehen überhaupt nicht mehr zur Wahl . So jetzt auch in Niedersachsen!
http://rundertischdgf.wordpress.com/2013/01/19/kommentieren-sie-uns-den-unterschied-zwischen-schwarzgelb-und-rotgrun/
wunderbar zu lesen dieser text.ich stimme voll zu.aber ist es wirklich nur ein märchen? die realität stellt sich auch in jena so dar.jetzt ist gemeinsames, abgestimmtes handeln notwendig,um die fressnäpfe zu beräumen.packen wir es an!