Demokratie wird überschätzt
Gegen Ende der Stadtratssitzung am 4. November passierte es. Bürgermeister Schenker, auch als Dezernent für Bildung, Familie und Soziales in Amt und Würden, verlor die Selbstkontrolle und fing an herumzupoltern. Was Herr Schenker "unerhört" und "dummes Zeug" fand, war die ruhige und sachliche Frage der Piraten-Stadträtin Heidrun Jänchen, ob denn die Stadt die nötigen Unterlagen für den Bau der Schule am Jenzigweg fristgerecht beim Land eingereicht hätte. Sie benutzte dabei sogar das Wort "Gerüchte", um zu verdeutlichen, dann man nichts Genaues weiß. Was man genau weiß: die Fördermittelzusage für den Bau steht immer noch aus, der Baubeginn verzögert sich, die Preise steigen und damit die Kosten für die Stadt. Gerade wenn es ums Geld geht, sollte also eine solch einfache Frage, die man mit Ja oder Nein beantworten kann, möglich und gerechtfertigt erscheinen. In dem ganzen Tumult, bei dem Herr Schenker — immer noch lautstark — betont, die Stadt hätte bereits zehnmal interveniert, geht unter, dass die Frage von Heidrun Jänchen nicht beantwortet wird. Hat die Stadt nun die Unterlagen fristgerecht eingereicht? Ja oder Nein? Auf jeden Fall können wir feststellen, dass eine normale und die Allgemeinheit sehr wohl interessierende Frage einer Stadträtin — die im Stadtrat nicht zuletzt auch als politische Kontrolle des Verwaltungshandelns sitzt — in Jena eine Zumutung darstellt.
Kurzer Schnitt, gleiches Thema. In derselben Sitzung des Stadtrates wird in einem — schriftlich nicht begründeten — Handstreich der Koalition das Verfahren abgeschafft, dass der Stadtrat über Tariferhöhungen des Nahverkehrs abstimmen muss. Auch diese demokratische Kontrolle scheint eine Zumutung zu sein. In Zukunft darf das bei Preiserhöhungen bis 5 % der Oberbürgermeister allein von seinem Schreibtisch entscheiden. Betrifft ja nur so gut wie alle Bürger der Stadt, was soll da der Stadtrat noch mitreden? Sollte es Tarifsenkungen geben (mal rein hypothetisch gedacht), muss allerdings wie bisher der Stadtrat darüber befinden. Absurditäten aus dem Schatzkästlein von Grünen, SPD und CDU im Jenaer Stadtrat. Demokratie wird sowieso überschätzt. Da die anstehende Tariferhöhung natürlich im VMT ausgeheckt wurde, einer Institution, auf die der normale Bürger faktisch keinen Einfluss hat, muss der Stadtrat dieses eine Mal noch Ja zur weiteren Verteuerung im Nahverkehr sagen. Ganz nebenbei erfahren wir dabei, dass diese Zustimmung des Stadtrates eher symbolischen Wert hat (wenn man richtig böse wäre, könnte man auch das Wort "Klopapier" benutzen), denn der zuständige Dezernent Peisker hat in der Gesellschafterversammlung des VMT bereits am 30.09.2015 für die Stadt Jena zugestimmt. VOR der Entscheidung des Stadtrates, versteht sich.
Zweiter Schnitt, immer noch gleiches Thema. Seit Wochen wird im Stadtentwicklungsausschuss ein geheimnisvolles Stadtbaumkonzept angekündigt. Geheimnisvoll deswegen, weil es den Stadträten bisher zur Einsichtnahme nicht zur Verfügung steht, auch auf Nachfrage nicht. Eigentlich aber ist genau das "unerhört", denn die Stadt wurde mit einem Stadtratsbeschluss dazu verpflichtet, Studien und Gutachten in ihrem Auftrag zeitnah zu veröffentlichen. In dem Beschluss heißt es: "Sämtliche im Auftrag der Stadt oder ihrer Eigenbetriebe angefertigten Studien, Gutachten und Analysen, deren Veröffentlichung kein Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, werden spätestens zwei Wochen nach Eingang bei der beauftragenden Stelle mindestens online auf der Website der Stadt gelistet." Und außerdem ganz unmissverständlich: "Wenn einer vollständigen Veröffentlichung der gemäß 001 gelisteten Studien weder ein Gesetz entgegensteht, noch aus der Veröffentlichung ein erheblicher Schaden für die Stadt entstehen könnte, sind dort auch die Studien selbst zu veröffentlichen." Da das ThINK Jena mit der Erarbeitung des Konzepts beauftragt wurde, liegt hier also ein solcher Fall der Veröffentlichungspflicht vor, die geflissentlich von der Stadt — übrigens auch bei allen anderen Studien und Gutachten — ignoriert wird. Umso peinlicher, wenn man dann erfährt, dass ThINK für dieses Stadtbaumkonzept, dass die Jenaer Stadträte nicht sehen und lesen dürfen, von Frau Anja Siegesmund, der Thüringer Ministerin für Umwelt, Energie und Naturschutz, mit dem 1. Preis des Thüringer Umweltpreises 2015 ausgezeichnet wurde. Wer ThINK nicht kennt, das sind diejenigen, die schonmal — entgegen der restlichen Fachwelt — die Anpflanzung von invasiven Arten in Jena empfehlen, der Stadt einen neuen — und ziemlich überflüssigen — Klimaschutzmanager eingebrockt haben und im kürzlich beschlossenen Klimaschutzkonzept der Stadt ein ständiges Monitoring der Klimaschutzmaßnahmen vorsehen, mit dem sie dann selbstverständlich selbst beauftragt sind. Wenn also demnächst im Stadtentwicklungsausschuss das Stadtbaumkonzept zur Beratung ansteht (und die Stadträte wenige Tage vor der Sitzung zum ersten Mal das Papier überhaupt vorliegen haben), sind auch hier schon längst Nägel mit Köpfen gemacht und wer will als demokratisch gewählter Stadtrat dann den Buhmann spielen und ein Konzept kritisieren, das bereits prämiert wurde?
Demokratie, shit happens? Die Lichtstadt und Stadt für Fortgeschrittene setzt in dieser Hinsicht mal wieder zweifelhafte Maßstäbe. Und wenn die Opposition angesichts solcher Fehlentwicklungen nur noch den Kopf schüttelt und mal wieder nachhakt, dann kann man sich ja notfalls beleidigt geben oder ausflippen, um zu zeigen wie sehr man im Recht ist. Getroffene Hunde bellen.
Siehe dazu auch: Stadtrat 04.11.2015: Bequeme Machtlosigkeit