Der Kyffhäuser und die Ideologen
Der Kyffhäuser ist ein kleines, aber nichtsdestotrotz romantisches Mittelgebirge an der nördlichen Grenze Thüringens, im Südosten des Harzes gelegen. Er erstreckt sich nur über ca. 70 km2 und erreicht seine maximale Höhe knapp über 470 m. Scharen von Besuchern werden nicht nur durch die schön zu erwandernde waldreiche Natur angezogen, sondern vor allem durch das Kyffhäuser-Denkmal zu Ehren Kaiser Wilhelms I., das 1890–1896 auf dem Standort der mittelalterlichen Burg Kyffhausen (von der auch noch Ruinen und ein begehbarer Bergfried erhalten sind) errichtet worden ist. Den beeindruckenden Ausmaßen und der Architektur kann sich selbst der nüchterne und nicht monarchistisch gesinnte Besucher kaum entziehen. Ich bin in größeren zeitlichen Abständen immer wieder gern auf dem Kyffhäuser gewesen, so auch an einem diesigen und sehr kalten Oktobertag 2015. Besonders skurril sind die historisch verbürgten Aktivitäten von Ideologen jedweder Couleur, sich das Monument der eigenen Weltanschauung entsprechend einzuverleiben und passend zu machen. Am Kyffhäuser, soviel steht fest, haben sich selbsternannte Weltverbesserer von ganz rechts bis ganz links regelrecht abgearbeitet. Ich möchte behaupten, ohne dem Denkmal in seiner wesentlichen Ausstrahlung, seiner Anziehungskraft und Gestalt etwas anhaben zu können.
Wurden nach dem Tode Kaiser Wilhelms I. 1888 im erst 1871 vereinigten Deutschen Reich an Hunderten von Orten Kaiserdenkmale errichtet, so zählt der Kyffhäuser mit Sicherheit zu den bekanntesten. Dazu trägt nicht nur das Erscheinungsbild bei, sondern ebenso die Verbindung zur Barbarossa-Sage. Errichtet nach Plänen des Architekten Bruno Schmitz, ging die Anregung zum Bau und die Sammlung der dafür nötigen Finanzmittel vom Deutschen Kriegerbund aus, der ab 1900 als Kyffhäuserbund die Verwaltung des Denkmals übernahm. Die Soldatenverbände einte das Gedenken an die (deutschen) Opfer der vorangegangenen Kriege und der Kampf gegen die erstarkende Sozialdemokratie, die man als Feind im eigenen Land und vor allem als Gefahr für die Einheit des Reiches ansah. Selbst für hartgesottene Nationalisten dürfte der Pathos, der seit der Reichsneugründung damals allerorten herrschte, nur noch schwer nachvollziehbar sein. Man betrachtete Wilhelm I. als eine Verkörperung des Kaisers Friedrich I., jenem ins Legendäre gewandelten Barbarossa, der jahrhundertelang in einer Höhle des Kyffhäuser schläft, um eines Tages zu erwachen, das Reich zu retten und zu neuem Glanz zu führen. Wenn man sich jedoch vergegenwärtigt, wie sehr das Volk die andauernden Kriege satt hatte, so dürfte die Sehnsucht nach einem Friedenskaiser und einer Epoche der Ruhe und Stabilität wiederum sehr verständlich sein. Kein Geringerer als Friedrich Schiller hatte schon die Wirren des sogenannten Interregnums nach dem Ende der Staufer "die kaiserlose, die schreckliche Zeit" genannt.
Barbarossa höchstpersönlich findet man im Sockelbereich des Denkmals, wo er als brachial anmutende Gestalt von Nikolaus Geiger aus dem Sandstein herausgemeißelt wurde. Im germanisierenden Stile der damaligen Zeit erkennt man in der Figur Parallelen zum nordisch-germanischen Gott Odin oder Wotan, der bekanntlich in Valaskjalf/Walhalla residiert, während er seine zwei Raben Hugin und Munin in die Welt entsendet, um zu sehen, was dort geschieht. Die zwei Raben finden sich rechts und links an den Kapitellen zweier Säulen, die Barbarossas Thron (Odins magischer Thron Hlidskialf) einrahmen, während die Basis von Schlangen und gefallenen Helden gebildet wird. Letztere könnte man als Einherjer ansehen. Odin trug den Beinamen Hrafnaguð (Rabengott) und genauso spielen die Raben in der Barbarossa-Sage eine wichtige Rolle. Auch die Darstellung Barbarossas mit wallendem langem Bart ist kein Zufall, war doch Odin als Síðskeggr (Langbart) bekannt. Das hin und wieder in Beschreibungen zu findende Detail, dass Barbarossa gar nicht schlafen, sondern gar mit einem Auge zwinkern würde, könnte eine weitere Anlehnung an den germanischen Gott sein. Odin opferte sein linkes Auge als Pfand, um einen Schluck aus Mimirs Brunnen zu nehmen und seherische Fähigkeiten zu erlangen. Er war damit der einäugige Gott oder Bileygr (der schlecht Sehende). Ob der unten rechts am Thron erkennbare Raubtierkopf einen von Odins Wölfen darstellen soll, kann ich nicht mit Gewissheit sagen. An Tafeln und Beschreibungen mangelt es vor Ort zwar nicht. Hinweise auf diese mythologische Symbolik sucht man jedoch vergebens. Die Religion unserer Altvorderen ist nicht mehr politisch korrekt und fällt deshalb einfach unter den Tisch. Gern sehen das christliche Historiker, für die europäische Geschichte überhaupt erst mit der Christianisierung beginnt und gern sehen das die Antifa-Helden der Neuzeit, die jedwede heidnische Religion undifferenziert mit Nazikram gleichsetzen. Beide vereint die Hoffnung, dass Verschweigen die Wahrnehmung der Besucher beeinflusst und sie vor unerwünschtem Gedankengut bewahrt.
Interessanterweise und für mich unerwartet hatten die Nationalsozialisten so ihre Schwierigkeiten mit dem Kyffhäuser. An einer überhöhenden Verehrung des deutschen Kaisertums besaßen sie kein Interesse. Ganz im Gegenteil. Es konnte nur einen Führer geben und der hieß Adolf Hitler. Bereits 1933 hatte man die Landesverbände der Kriegerbünde und deren parlamentarische Vereinsführung abgeschafft, 1934 Bundesrat und Beirat des Deutschen Reichskriegerbundes "Kyffhäuser" trotz vorauseilender Anpassung an das neue System und nationalsozialistischer Symbolik aufgelöst. 1938 gab es nur noch den NS-Reichskriegerbund, alles andere war verboten. Friedenskaiser konnte jetzt erstrecht keiner mehr gebrauchen. Aus der ursprünglichen Nationalbewegung und der Einheit der Deutschen war jetzt "Was deutsch war, muss wieder deutsch werden" und ein militanter Expansionsdrang geworden. Eine Weile versucht man sich an der ideologischen Aneignung und Umdeutung der Staufenkaiser, deren Verehrung im Volk anscheinend so schlecht auszumerzen ist. Eine SS-Division wird "Hohenstaufen" benannt. Der Überfall auf die Sowjetunion 1941 unter dem Namen "Unternehmen Barbarossa" geführt. Der Führer besucht den Kyffhäuser nur zwei Mal, 1934 und 1939. Die Turmhalle hatte man mit allerhand wirklichem Nazikram ausstaffiert, 200 Fahnen und Urnen, gefüllt mit der Erde ehemaliger deutscher Gebiete, die man gemäß dem Versailler Vertrag nach dem I. Weltkrieg abtreten musste. Für die allseits beliebten propagandistischen Großveranstaltungen schien der Kyffhäuser den Nazis nicht passend zu sein, es fanden lediglich ein paar Studenten- und Jugendveranstaltungen, SS-Fahnenweihen u.ä. Brimborium statt. Nach Kriegsbeginn wurden SS-Verbände auf dem Kyffhäuser stationiert. In der ideologischen Gleichschaltung der Massen gab es keinen Platz für mittelalterliche Erlösungssagen und Kaiserverehrung.
Nach dem Krieg ging es munter weiter. Wer gedacht hat, dass man aus der strammen Ideologisierung einer ganzen Generation etwas gelernt hat, lag weit daneben. Frankenhäuser Kommunisten wollten kurzerhand das Denkmal sprengen. ((Es ist schon erstaunlich, dass es völlig unabhängig von der weltanschaulichen oder religiösen Richtung immer wieder zu den gleichen Phänomenen der Gleichschaltung kommt. Dabei wird gnadenlos vernichtet, was der "reinen Lehre" irgendwie abträglich ist. Der angestrebte neue Mensch muss identisch denken und glauben. Was davon ablenkt, möchte man gern aus dem Bewusstsein tilgen. In diesem Sinne ist es völlig egal, ob es sich um christliche Konquistadoren, deutsche Kommunisten, afghanische Taliban oder den "Islamischen Staat" handelt.)) Kommunisten mit mehr Verstand und Sinn für Kulturgeschichte, Offiziere der sowjetischen Besatzungsmacht, verhinderten 1946 und 1949 entsprechende Pläne. In der Begründung für diesen Rettungsakt hieß es, "das Kyffhäuserdenkmal wäre ein Mal der deutschen Einheit und der unveränderte Bestand würde ein Beispiel gegenüber der Westzone sein, daß wir in der Ostzone die Einheit erstreben." ((Zitat von einer Info-Tafel in der Ausstellung)) Mit der deutschen Einheit hatte kurz nach dem Krieg die DDR-Führung noch keine Probleme. Als Nächstes plante man das Reiterstandbild des Kaisers zu verschrotten ((Am 4. Dezember 1950 teilte die "Volkseigene Handelszentrale Schrott" dem Innenministerium in Erfurt mit, dass dem Verschrottungsbetrieb in Nordhausen "Anweisung zwecks Demontage des Reiterstandbildes" erteilt wurde.)) und statt der Krone auf dem Monument zwei gigantische Figuren aufzustellen: eine ostdeutsche Bäuerin und einen Kumpel aus dem Ruhrgebiet, in kämpferischer Pose vereint. Je stärker sich die Trennung der beiden deutschen Besatzungszonen manifestierte, umso mehr verloren sich auch derartige Propagandagespinste. Komisch, wie vertraut einem aus heutiger Sicht die damalige Rhetorik vorkommt, sprach man doch vom Kyffhäuser als einem "Zentrum antisemitischer und kriegerischer Hetze". Erst ein Schreiben Otto Grotewohls vom 22. Januar 1951 bedeutete die Rettung des Denkmals: "Sehr geehrter Herr Ministerpräsident! Eine Verschrottung des Kyffhäuser-Denkmals kommt zur Zeit nicht in Betracht." ((Zitat von einer Info-Tafel in der Ausstellung))
Mitte der 60iger Jahre erkannte die DDR-Führung bei jährlich 300000 Besuchern einen gewissen propagandistischen Handlungsbedarf. Die Turmhalle wurde nun neu gestaltet, unter anderem mit einem Bronzerelief des Künstlers Martin Wetzel, das den Titel "Leben am Kyffhäuser" trägt. Ganz im Sinne der neuen Weltanschauung zeigt es das Leben vor Ort vom Feudalismus bis in die strahlende sozialistische Gesellschaft. In das Relief eingebunden war der Text der Nationalhymne der DDR von Johannes R. Becher mit der Forderung "Deutschland einig Vaterland". Das war zwar eine schöne Fortsetzung des Einheitsgedankens, der dem Kyffhäuser so zu eigen ist, fand aber über kurz oder lang keine Nachsicht mehr bei den Genossen. Man wusste sich nicht anders zu helfen, als mit einem Blechstreifen den nun ungeliebten Slogan zu überdecken. Hätte ja sein können, dass sich die Werktätigen des "der Zukunft zugewandten" deutschen Staates beim Lesen so ihre eigenen Gedanken machen. Nach der Wende gab es schnell erneut ideologischen Streit um die Gestaltung der Turmhalle, denn jetzt wollten konservative Bilderstürmer das DDR-Relief wieder entfernen und den alten Zustand (welchen?) wieder herstellen. Das Thüringer Landesamt für Denkmalpflege und der Kyffhäuserkreis beschlossen schließlich den Verbleib als Zeugnis einer weiteren Epoche der Denkmalgeschichte.
Das ständige Ringen um die Deutungshoheit auf dem Kyffhäuser ist ein Lehrstück für Ideologie im allgemeinen. Ideologen gleich welcher Richtung haben sich noch nie besonders viel Mühe gegeben, die "Volksseele" zu verstehen. Vielmehr geht es immer nur darum, wie man Wahrnehmung und Denken am besten manipulieren und gleichschalten kann, notfalls, indem man etwas daraus komplett tilgt. Von einigen kritischen Phasen abgesehen, hat das dem Kyffhäuser glücklicherweise nicht geschadet. Die Menschen lieben offensichtlich diesen Ort und lassen sich von seiner Geschichte und Aussstrahlung inspirieren. Was sie dabei denken und empfinden, ist ihre Sache — ob nun pathetisch angerührt, architektonisch interessiert oder kritisch distanziert.
In den letzten Jahren ist das Denkmal mit Millionenaufwand restauriert worden und erfreut sich seitdem wieder wachsender Besucherzahlen. Je nach Wetter sind es monatlich bis zu 20000 Menschen, die zu der beeindruckenden Anlage pilgern. Es sei jedem ausdrücklich empfohlen, sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen.
Frontansicht Denkmal: by Tomasz Halszka — https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kyffhaeuserdenkmal_front_view.JPG