
Gegenbewegung
Ich bin ein waschechter Ossi. 1964 in einem thüringischen Dorf aufgewachsen, wurde ich durch die DDR sozialisiert. Mein Bildungsweg führte durch die gängigen Institutionen des realexistierenden Sozialismus: Polytechnische Oberschule (POS), Erweiterte Oberschule (EOS), Universität, unterbrochen durch einen dreijährigen Aufenthalt in den Streitkräften der Nationalen Volksarmee (NVA). Obwohl ich mir insbesondere im Studium hin und wieder den Mund verbrannte, war ich weder Staatsfeind noch Dissident, sondern eher angepasst wie Millionen anderer DDR-Bürger auch. Ich habe meine Stasi-Akte nie angefordert, vorausgesetzt es hat überhaupt eine gegeben. Als die sogenannte Wende kam, hatte ich zufälligerweise auch gerade mein Studium abgeschlossen. Berufliche Perspektiven gab es in dieser Zeit keine, was mir in der Folge einen eher abwechslungsreichen beruflichen Werdegang verschaffte. Kurz nach der Grenzöffnung gab ich die ersten D‑Mark aus meinem Begrüßungsgeld an einem Coburger Straßenkiosk für eine Süddeutsche Zeitung aus, begierig darauf, endlich die freien Medien des Westens zu lesen. Ja, wir Ossis waren damals ganz schön naiv. Während man mit Lügen und faulen Tricks unsere Industrie abwickelte und die Leute auf die Straße warf, während die Immobilienhaie ausschwärmten und für einen Appel und ein Ei unsere Häuser und Wohnungen kauften, während man uns ausgemusterte Schrottkarren als Gebrauchtwagen andrehte und uns überhaupt in jeder passenden und unpassenden Situation über den Tisch zog, versuchten wir uns im neuen System zurechtzufinden und irgendwie einzurichten. Ich selbst habe diesen nicht ganz einfachen Prozess immer als Chance betrachtet. Es gab viel zu entdecken, zu lernen und zu erleben — real, emotional, mental. Für mich — und das ging sicher vielen Ossis so — hatten sich Welten geöffnet. Aber nur weil es jetzt Bananen in Discountern gab, war der Untergang der DDR für uns Ossis kein Zuckerschlecken. Man musste kämpfen. Ich brauchte eineinhalb Jahrzehnte, bis ich einen halbwegs sicheren Stand in der Gesellschaft gefunden und sich das dauernd wechselnde Geschick in meinem Leben wieder geglättet hatte. Auch damit bin ich im Osten nicht allein. Nun haben wir das Jahr 2017 und wir Ossis sind das Pack. Wir sind die besorgten Bürger oder der gesammelte Abschaum.
Vor kurzem durften wir lesen, dass man uns nicht ernstnehmen kann, weil wir "1990 mit dem Trabbi angeknattert" gekommen seien und heute AfD wählen würden. Meine Eltern hatten in der DDR nie genug Geld, um sich einen Trabant leisten zu können. Weswegen allein schon deswegen diese Aussage der totale Blödsinn ist. Wir Ossis sind jetzt nicht nur das Pack, sondern auch die Abgehängten, die Modernisierungs- und Globalisierungsverlierer; wir sind die Prototypen der sogenannten Biodeutschen, die solche anachronistischen und verachtenswerten Begriffe wie Heimat und Familie gut finden. Vor allen anderen Dingen aber sind und denken wir rechts, im Grunde aber rechtsextrem, also im eigentlichen Sinne sind wir Nazis. Zumindest sagt man uns das, jeden Tag immer wieder aufs Neue. Die ZEIT stellt daher die wichtige Frage, ob man Ossis nicht viel zu nett behandelt und in Foren kann man sich beraten lassen, ob man überhaupt guten Gewissens eine Beziehung zu einem Ossi eingehen kann. Ein ganzes ostdeutsches Bundesland ist unter diesen Bann der Verachtung gefallen. In Sachsen kann man nach Meinung der Medienelite nicht leben und erstrecht nicht hinziehen. Man gefällt sich in idiotischen Sprachspielen wie der nahe Osten. Überall droht der braune Sumpf, weswegen man die Sachsen hassen muss, will man noch zu den Guten gehören. Nun findet man die Bombardierung Dresdens Spitze und sehnt sie erneut herbei. Thanks Bomber Harris. Deutsche sind jetzt nur zufällig die, die schon länger hier sind. Man kann sie auch jederzeit ersetzen. Wir sind Kartoffeln und jeder weiß, dass die am besten als Bratkartoffeln in der Pfanne landen. Die Sachsen könnte man zudem wie Atommüll entsorgen, der strahlende Abfall der Nation. Das Wort Nation weist allerdings ebenso in die falsche Richtung, denn Deutschland als mieses Stück Scheiße soll natürlich endlich verrecken, mit seiner Dreckskultur, wobei man da geteilter Meinung ist, denn die Noch-Integrationsbeauftragte der Bundesregierung meint, dass Deutsche über die Sprache hinaus überhaupt gar keine Kultur besitzen. Die Zahl der Beschimpfungen ist mittlerweile Legion. Wir sind engherzig, trotzig, verbittert, kleinlich, rassistisch, missgünstig, fremdenfeindlich, geschichtsverdrossen, besserwisserisch ... Es gibt keine negative menschliche Eigenschaft, die man uns nicht nachgesagt hätte. Erst vor kurzem sind wir in einer großen deutschen Tageszeitung dazu aufgefordert worden, uns endlich abzuschaffen — wobei, das muss man der Gerechtigkeit halber erwähnen, alle Deutschen gemeint waren, nicht nur wir Ossis.
Jeden verdammten Tag entleeren sie ihre Scheißeeimer über unseren Köpfen und meinen allen Ernstes, uns damit erziehen zu können. Wer sind "sie"? Es sind die "irgendwas-mit-Medien"-Leute, die sich selbst links verorten und zu den Guten zählen. Außerhalb ihrer Filterblasen und außerhalb der sozialen Netzwerke im Internet kennt sie niemand. Fragen Sie doch mal Ihre Arbeitskollegen, Ihren Friseur, die Verkäuferin hinter der Brötchentheke nach Haznain Kazim, Hengameh Yaghoobifarah, Julia Schramm, Margarete Stockowski, Shahak Shapira und wie sie alle heißen. Die Bessermenschen sind unablässig damit beschäftigt, für Vielfalt und Toleranz, gegen Rassismus und gegen Hass zu kämpfen, dabei hassen sie selbst so heftig und neurotisch, dass ihnen der Geifer aus den Mundwinkeln läuft. Ohne diesen ewigen Krieg sind sie nichts. Die Buntheit, für die sie angeblich eintreten, ist nur das Einheitsgrau ihrer eigenen Meinung. Jede Nuance, die davon abweicht, ist verachtenswert. Die Propaganda, zu deren willigen Werkzeugen sie sich selbst machen, verwechseln sie mit Haltung und Überzeugung. Jeder, der nicht widerspruchslos folgt, ist der Feind und muss vernichtet werden. Das alles geht so weit am normalen Leben vorbei, dass sie immer aggressiver schreien müssen, um überhaupt noch gehört zu werden. Die Provokationen müssen immer irrsinniger werden, damit sie noch einen Widerhall erzeugen und sei es auch nur der sprichwörtliche Shitstorm, in dem sie zurückgehasst werden. Je abstruser die Behauptungen, je schriller die Töne, umso mehr fühlen sie sich als aktivistische Helden. Viel Feind, viel Ehr. Dabei muss man kein Psychologe sein um zu begreifen, dass sie vor allem sich selbst hassen und ihre eigenen Probleme auf eine ganze Gesellschaft projizieren. Ihre Verbaldiarrhoe ist so bedeutsam wie eine Schlammpfütze nach einem Gewitter letzte Woche. Man muss aufpassen, dass man nicht hineintritt, das ist auch schon alles. Wer liest schon die TAZ oder die ZEIT? Die Auflagen der Propagandablätter sinken beständig. Die Leute schalten das Radio oder den Fernseher an ... rechtspopulistisch, Nazis, AfD, Flüchtlinge, Muslime, Islam, Islam, Islam, Rechtsruck ... und schalten wieder aus. Jeder Aufschrei, der inszeniert wird, ist ein Lehrstück an Heuchelei und Scheinheiligkeit.
Was werde ich alter weißer Ossi tun, wenn ich unablässig angegriffen werde? Muss ich Buße tun, um in Ruhe gelassen zu werden? Muss ich gestehen wie zu Zeiten der Inquisition, dass ich heimlich ein Nazi und Mitglied der NSDAP bin? Werde ich solange geschunden, bis ich es tue und mich schuldig bekenne? Schuldig, ein Weißer zu sein (Rassist!). Schuldig, ein Mann zu sein (Sexist!). Schuldig, eine eigene Meinung zu haben (Nazi!). Schuldig, ein klassisches Familienmodell trotz aller Probleme nach wie vor für wertvoll zu halten (Familist!). Schuldig, eine gewalttätige, frauenverachtende Religion zu kritisieren (Islamophob!). Schuldig, im Osten geboren worden zu sein (Scheiß Ossi!). Durch die Inquisition wurden Hexen und Ketzer niemals erlöst; sie landeten auf einem Scheiterhaufen. Die ideologischen Hetzer und Eiferer tun ihrer Sache einen schlechten Dienst. Die Menschen weichen aus. Die Menschen entziehen sich. Die Menschen wollen mit dieser Sache nichts mehr zu tun haben. In einem unübersehbaren Maße entsteht auf jeder gesellschaftlichen Ebene eine Gegenbewegung: auf der Straße, in den Wahllokalen, in den sozialen Netzwerken, in neuen Büchern und Zeitschriften, ja sogar in ganz Europa auf nationaler, subnationaler und regionaler Ebene. Den meisten Menschen dürfte gar nicht bewusst sein, dass sie ein Teil dieser Gegenbewegung geworden sind. Sie sind einfach nur ganz profan der Meinung, dass man ihr Leben, ihre Geschichte, ihre Kultur, ihre Probleme, ihre Würde achten und ernstnehmen sollte. Und sie haben jedes Recht der Welt auf genau das. Sie brauchen keine Ideologie, die ihnen sagt, was sie zu denken und wie sie zu leben haben. In einer Art natürlicher Allergie schalten sie überall da ab, wo man ihnen ins Hirn trichtern will, wie schlecht sie sich zu fühlen haben, nur weil sie so sind wie sie sind.
Fünfundzwanzig Jahre lang hat es in meinem Leben keine Rolle mehr gespielt, ein Ossi zu sein. Es macht mich wütend, dass mir jetzt eine selbsternannte mediale Elite erzählen will, welche Schublade ich zu bedienen habe. Was habt ihr schon geleistet, außer euren ideologischen Rotz auf irgendein Klopapier zu schmieren? Die Werte, die in meinem Leben stecken, werdet ihr niemals begreifen. Ich habe mich immer als links denkender Mensch gesehen, aber jetzt habt ihr es geschafft, dass es mir egal ist, als Nazi beschimpft zu werden. Glückwunsch, eure Kampagnen waren ja ein voller Erfolg! Ich brauche eure Belehrungen nicht, ich kann selber denken. Eure Verachtung fällt auf euch selbst zurück. Ihr seid eine absolut marginale Minderheit, die überwältigende Mehrheit der Menschen will von euch nichts wissen. Eure Beklopptheit steht euch schon im Gesicht geschrieben. Die Gegenbewegung ist in vollem Gange. Ihr kämpft laut und aggressiv um eine Deutungshoheit, die ihr nie innehattet. Arme Kotzbrocken.
Anmerkung: Ich habe darauf verzichtet, all die Beispiele, Zitate und Kommentare noch einmal herauszusuchen und zu verlinken, die in diesem Text beispielhaft erwähnt werden. Dafür ist mir meine Zeit zu schade. Nichts davon ist erfunden, man braucht nur die Stichworte, die Namen und eine Suchmaschine, um fündig zu werden.
Titelfoto: Kira Hoffmann (Public Domain, Quelle: Pixabay)
6 thoughts on “Gegenbewegung”
Hallo Frank,
Ich, als etwas jüngere Ossi, finde deinen Artikel sehr lesenswert. 🙂 Deutliche Worte.
Bei der Textpassage um das Schicksal von Hexen und Ketzer fühlte ich mich an die Szene in dem Film "1492 — Eroberung des Paradieses" erinnert, in der eine "Hexe" auf dem Scheiterhaufen gebunden war. Als sie das Kreuz küsste, wurde ihr die "Gnade" zuteil, dass sie vorher zu Tode erwürgt wurde, um nicht bei lebendigem Leib die Flammen zu spüren.
Schöne Grüße aus dem Thüringer Wald nach Jena
EviSell
Auch ich, als etwas jüngerer weißer Mann, den es aus den gebrauchten Bundesländern schließlich nach Dresden verschlug, kann diesen Text — ohne Sozialisierung in der DDR — voll und ganz unterschreiben.
Jetzt bin ich deshalb auf der Suche nach einem Arzt, der mir das Stockholm-Syndrom attestiert 😉
Bis vor einigen Jahren empfand ich meine Heimat Sachsen eben als normale Heimat und Schluss.
Dann kam die Flutung und damit die Angst, abends rauszugehen, zuviel passiert.
Die Angst der Frauen und Mädchen, die Angst der Väter, Brüder, Ehemänner — sie wuchs ebenso.
Und dann wurden wir beschimpft, verhöhnt, mit Dreck beworfen, beleidigt, verfolgt.
Heute bin ich voller Stolz Sächsin.
Parallel zu den Dreckeimern, die über mir/ uns ausgeschüttet wurden, wuchs meine Liebe zu Sachsen.
Ich fahre heute im Berufsverkehr durch die Stadt, sehe, wie meine Landsleute von morgens 5.00 bis abends 19.00 Uhr im Stau stehen, hetzen, sich mühen.
Und ich empfinde eine tiefe Zusammengehörigkeit, eine Liebe zu meinen Sachsen, zu den Menschen, der Heimat.
Ihr widerlichen Ignoranten habt das Gegenteil erreicht.
Wir halten zusammen, wir sind stolz, unbeugsam. OK — stur!
Als Alt-Ossi Bj. 61 musste ich mit ansehen wie die DDR verramscht wurde, sowohl die Industrie als auch Immobilien und die Menschen. Das war ein Ausverkauf sondersgleichen.
Nun zieht man über uns Ossis, nicht nur Sachsen, her, nur weil wir es gewohnt sind unsere eigene Meinung zu bilden und zu artikulieren, die der überwiegende Teil der Wessis nie hatte.
Aber da wird schon wieder von der Elite das Spiel praktiziert: Ossis gegen Wessis. Es soll gar keine Einheit geben. Denn wären wir uns alle Einig, Frauen und Männer, Diesel- u. Stromfahrer, Braune und Weiße, Arbeiter und Beamte usw. dann wäre die Elite längst in Luft aufgegangen.
Guter Beitrag
/me, Bj 66, fast die gleiche Laufbahn.
Die ersten beiden Ansätze sind ja noch super, leider wirst du in den zwei darauf folgenden etwas schroff, das hättest du besser gekonnt.
Erst ab dem Satz "Ich habe mich immer als links denkender Mensch gesehen, aber jetzt habt ihr es geschafft, dass es mir egal ist, als Nazi beschimpft zu werden." kann ich dir wieder im vollen Umfang zustimmen. So ist es.
Im großen und ganzen, ja es ist bitter was hier derzeit passiert. Danke, in der Summe trotzdem guter und treffender Text.