Der Wahnsinn der allgemeinen Begriffe
1876 veröffentlichte der noch relativ junge Friedrich Nietzsche als "Viertes Stück" seiner "Unzeitgemäßen Betrachtungen" eine Schrift mit dem Titel "Richard Wagner in Bayreuth". Er verpackte darin nicht nur seine ganze überschwängliche Verehrung für den Festspielkomponisten, sondern formulierte vor allem die ins Pathetische gesteigerte Hoffnung aus, dessen Musik könne zur Überwindung der künstlichen Entfremdung zwischen den Menschen beitragen und die in unsäglicher Armuth und Erschöpfung befindliche Cultur wieder zu Erhabenheit und antiker Größe führen. ((Nietzsches hochgesteckte Erwartungen an Wagner und die Wirkung seiner Musik wurden bitter enttäuscht. Seine Anwesenheit bei der Erstaufführung des "Ring des Nibelungen" im August 1876 lehrte ihn das Gegenteil. Die in Arroganz und Eitelkeiten gefangene Gesellschaft der Berühmten und Reichen und ihre Ignoranz der großen Kunst gegenüber stießen ihn zutiefst ab. Der ebenfalls anwesende Tschaikowski kommentierte damals bissig: "Während des ganzen Festspieles [war] das Essen der Hauptgesprächsstoff der Leute. Die künstlerischen Darbietungen standen erst an zweiter Stelle. Koteletts, Bratkartoffeln und Omeletts wurden weitaus eifriger diskutiert als Wagners Musik." )) Diese eher ungewöhnliche Erwartungshaltung an Musik begründete er mit einem kritischen Urteil über die Sprache seiner Zeit und schrieb dazu folgenden denkwürdigen Satz:
"Der Mensch kann sich in seiner Noth vermöge der Sprache nicht mehr zu erkennen geben, also sich nicht wahrhaft mittheilen: bei diesem dunkel gefühlten Zustande ist die Sprache überall eine Gewalt für sich geworden, welche nun wie mit Gespensterarmen die Menschen fasst und schiebt, wohin sie eigentlich nicht wollen; sobald sie mit einander sich zu verständigen und zu einem Werke zu vereinigen suchen, erfasst sie der Wahnsinn der allgemeinen Begriffe, ja der reinen Wortklänge, und in Folge dieser Unfähigkeit, sich mitzutheilen, tragen dann wieder die Schöpfungen ihres Gemeinsinns das Zeichen des Sich-nicht-verstehens, insofern sie nicht den wirklichen Nöthen entsprechen, sondern eben nur der Hohlheit jener gewaltherrischen Worte und Begriffe: so nimmt die Menschheit zu allen ihren Leiden auch noch das Leiden der Convention hinzu, das heisst des Uebereinkommens in Worten und Handlungen ohne ein Uebereinkommen des Gefühls." ((Friedrich Nietzsche, Richard Wagner in Bayreuth, 1875, § 5 — Hervorh. d. d. Autor))
Wer sich ein wenig mit deutscher Kultur- und Geistesgeschichte beschäftigt, wird fast zwangsläufig über beängstigende Parallelen zu aktuellen Entwicklungen stolpern. Der "Wahnsinn der allgemeinen Begriffe", den Nietzsche hier beklagt, kommt uns nur allzu vertraut vor. In Zeiten, in denen die großen, politisch bestens mit der Macht vernetzten Medien zu Erziehungsanstalten einer sich selbst verachtenden Nation verkommen sind, prasseln diese allgemeinen Begriffe in nicht enden wollenden Kaskaden auf unsere Häupter hernieder. In der Welt der gewünschten Verkennung ((Ebenda)) können diese Begriffe alles und nichts bedeuten oder ihre Bedeutungen genauso gut wechseln, je nachdem wie es in den Kram passt. Wir haben sie dabei immer so zu deuten und zu verstehen, wie es die Mächtigen für uns vorgesehen haben.
So konnte noch vor kurzem ein Spitzen- und Kanzlerkandidat der SPD mit dem Wort Gerechtigkeit wahlkämpfend durchs Land ziehen, ohne ein einziges Mal zu erklären, was er darunter versteht und wie er denn eine gerechtere Gesellschaft herbeizuführen gedenkt. Dies war auch gar nicht vorgesehen. Eine leere Worthülse sollte lediglich Sympathien für jemanden wecken, den es nach der Macht gelüstete. Es war dabei nicht notwendig, mit der Lebenswirklichkeit und Alltagserfahrung der Leute, Nietzsche würde sagen mit ihren Empfindungen, eine authentische Verbindung herzustellen.
Für die allgemeinen Begriffe hat der normale Mensch ein Gefühl, was sie denn bedeuten sollten und doch wird ihm unablässig die Deutungshoheit dazu abgesprochen. Vielmehr soll er diese — für ihn wahren und natürlichen — Gefühle ablegen und durch ideologisch oder propagandistisch vorgeprägte Schemen ersetzen, die eine selbsternannte Geisteselite für nötig befindet, um die eigenen Ziele möglichst ohne Aufbegehren zu erreichen. Der Begriff Heimat ist dafür ein passendes Beispiel. Heimat ist rückwärtsgewandt, anachronistisch und rechtsnational, wenn ihn Deutsche für sich reklamieren, aber sentimental, selbstverständlich und ihr Verlust beklagenswert, wenn es sich um Flüchtlinge und Migranten handelt. Heimatgefühl ist etwas, das ausgemerzt und zerstört werden muss, weil es angeblich diskriminiert und ausgrenzt, kann aber gleichermassen trotzdem als Schlagwort für den Umweltschutz und grüne Wahlwerbung verwendet werden. Das alles ist kein Widerspruch. Es gibt darin auch keinen Sinn zu entdecken, da es sich um reine Manipulation handelt.
Im Eintopf der rhetorischen Beliebigkeiten fällt mir auch immer wieder der Begriff der Rettung auf. Wir sind ständig aufgefordert, irgendwas oder irgendjemanden zu retten, nur nie uns selbst. Das Klima muss gerettet werden, obwohl das schon von der Formulierung her keinerlei Sinn macht. Flüchtlinge müssen gerettet werden, jetzt und sofort, selbst dann wenn sie bereits ein halbes Dutzend sicherer Länder durchquert haben. Wir müssen um jeden Preis Banken retten und die Demokratie vor den Rechtspopulisten. Und die Atmosphäre vor dem Diesel und dem Feinstaub. Aber es ist ebenso völlig klar, dass wir keine Vögel und Fledermäuse vor Windkraftanlagen retten müssten oder eine wachsende Zahl von Obdachlosen oder gar Rentner, die nur wenig mehr als 100 Euro im Monat zum Leben haben. Auch retten wir keine Frauen davor, in aller Öffentlichkeit vergewaltigt zu werden. Auch vor Terror muss niemand gerettet werden, denn der gehört heute zum modernen Leben einfach dazu. Du musst heute dein letztes Hemd ausziehen und morgen wegsehen. Rettung ist so wechselhaft wie das Wetter. Das liegt daran, dass der von Nietzsche angeprangerte Wahnsinn dafür sorgt, dass zutiefst menschlichen Begriffen eine beliebige Bedeutung unterlegt wird, um einen bestimmten Zweck zu verfolgen. Die gesunde Vernunft der Menschen, mit solchen Begriffen umzugehen, wird durch die politische Agenda ersetzt. Die Sprache wird zur Gewalt für sich, die die Menschen schiebt, wohin sie eigentlich nicht wollen.
An derselben Stelle schreibt Nietzsche weiter:
"... so ist man jetzt, im Niedergange der Sprachen, der Sclave der Worte; unter diesem Zwange vermag Niemand mehr sich selbst zu zeigen, naiv zu sprechen, und Wenige überhaupt vermögen sich ihre Individualität zu wahren, im Kampfe mit einer Bildung, welche ihr Gelingen nicht damit zu beweisen glaubt, dass sie deutlichen Empfindungen und Bedürfnissen bildend entgegenkomme, sondern damit, dass sie das Individuum in das Netz der „deutlichen Begriffe“ einspinne und richtig denken lehre: als ob es irgend einen Werth hätte, Jemanden zu einem richtig denkenden und schliessenden Wesen zu machen, wenn es nicht gelungen ist, ihn vorher zu einem richtig empfindenden zu machen." ((Ebenda))
Es ist beeindruckend, wie scharfsinnig Nietzsche damals einen ideologischen Mechanismus erfasst und begriffen hat, der uns heute wieder in gleicher Weise lähmen und verwirren soll. Man möchte uns erneut richtig denken lehren, weil unser eigenes Denken und Empfinden in den Ränkespielen der Macht nur störend ist. Wahrhaftige und in direkter Beziehung zum Leben stehende Begriffe, die jeder Mensch aus seiner natürlichen Anschauung des Herzens heraus versteht, werden so zu umlaufenden Wort- und Begriffsmünzen der Gegenwart. ((Friedrich Nietzsche, Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874, § 10))
Wenn wir uns nicht wehren, werden sie uns solange einspinnen, bis unsere eigene Sprache uns nichts mehr sagt und zum wertlosen Plunder auf dem Markt der Scheinheiligkeiten und Doppelmoral verkommen ist. Aus Menschen mit eigener Kraft, Identität und Gedankenfülle sind dann leicht manipulierbare und willfährige Zombies geworden, über die Nietzsche auch einen passenden Kommentar parat hat:
"... wollen sie sprechen, so flüstert ihnen die Convention Etwas in’s Ohr, worüber sie vergessen, was sie eigentlich sagen wollten; wollen sie sich mit einander verständigen, so ist ihr Verstand wie durch Zaubersprüche gelähmt, so dass sie Glück nennen, was ihr Unglück ist." ((Richard Wagner in Bayreuth, Ebenda))
Titelfoto: Nietzsches Handschrift — Erster Entwurf zur „Ewigen Wiederkunft des Gleichen“ (Public Domain / Quelle: Wikimedia Commons)