Gesellschaft am Rande des Abgrunds
Vor nicht allzu langer Zeit probierte ich als Radfahrer auf dem Heimweg eine neue Route aus. Der angebliche Radweg, den ich benutzte, endete im Nirgendwo und ich musste auf eine schmale Wohngebietsstraße einschwenken. Leider war nicht zu erkennen, dass ich nun entgegen einer Einbahnstraße fuhr, aber die harte Realität belehrte mich sofort eines Besseren. Ein PKW, der mir entgegenkam, blockierte die enge Straße und ich musste anhalten. Der Fahrer öffnete sein Fenster und ging mich sofort rüde an. 50 m hinter mir tauchte plötzlich ein Rentner auf, der mich aus dieser Entfernung wie ein Irrer anschrie und beleidigte. Ich ignorierte ihn und erklärte dem Fahrer, dass ich die Einbahnstraße nicht erkennen konnte, weil ich vom Radweg käme. Dann wollte ich auf mein Rad steigen, um die Straße zu verlassen. Das Ergebnis war, dass ich fortgesetzt angehupt und fast umgefahren worden wäre.
Die Leute laufen mittlerweile wie scharf geschaltete Sprengladungen durch die Gegend. Man braucht sie nur mit einer Nichtigkeit in Schwingung zu versetzen und sie gehen hoch wie eine Rakete. Es ist auch offensichtlich, dass es allen schwer fällt noch zuzuhören, was der Andere eigentlich zu sagen hat. Im privaten, alltäglichen, gesellschaftlichen und politischen Sinne haben sich die Menschen aus der Mitte — aus ihrer Mitte — herausbewegt und nehmen jetzt Positionen ein, die sie sich vor kurzer Zeit noch kaum vorstellen konnten. Und der Staat gibt sich jede erdenkliche Mühe, das auf allen Ebenen zu befördern.
Noch ein Beispiel. Vor vielen Jahren hatten meine damalige Lebensgefährtin und ich losen Kontakt zu einer Stammtischrunde, in der beim Bier vorrangig politische, desöfteren auch verschwörungstheoretische Themen diskutiert wurden. Durch einige gravierende Änderungen in meinen persönlichen Lebensumständen verlor ich den Kreis irgendwann aus den Augen. Als ich kürzlich einen alten Bekannten aus diesen Zeiten zufällig auf der Straße wiedertraf, machte ich eine merkwürdige Entdeckung. Der Mann hatte sich deutlich radikalisiert. Seine Frau war ihm davongelaufen. Er drückte mir eine Visitenkarte mit der Adresse eines Online-Portals in die Hand. Seinen ursprünglichen Job hatte er aufgegeben. Ich sah mir im Internet die Seite inkl. Buchshop an und stellte fest, dass es sich um haufenweise üblen Nazikram handelte, Verherrlichung des Dritten Reichs, Wehrmacht, Weltkrieg, Hitler und so weiter, ihr wisst schon. Es schauderte mich. Was hatte diesen eigentlich doch nicht unsympathischen Mann dazu getrieben, auf einmal Positionen am äußersten rechten Rand einzunehmen?
Wenn eine Gesellschaft den Zusammenhalt verliert, äußert sich das nicht nur auf der Ebene der ganz großen Politik, wo es auf einmal kaum noch möglich erscheint, eine funktionierende Regierung zu bilden und auffällige Verschiebungen in den Wahlergebnissen den Kommentatoren den Schweiß auf die Stirn treiben. Es manifestiert sich auf jeder Ebene, selbst im scheinbar privaten Winkel kleinbürgerlicher Existenzen. Je vehementer, man könnte auch sagen verzweifelter, der politisch-mediale Komplex Toleranz, Vielfalt und die offene, bunte und humanistische Gesellschaft beschwört, umso klarer wird, dass längst das pure Gegenteil nicht nur die öffentliche Debatte, sondern auch das ganz normale Leben beherrscht. Die achso Toleranten haben kein Problem damit, Kleinwagen (ihrer Mitbürger) anzuzünden, Politiker (der AfD) zu verprügeln, Polizisten (die das Demonstrationsrecht schützen) anzugreifen, Straßenzüge (von normalen Leuten) zu verwüsten, Supermärkte zu plündern. Unsägliche Gewaltdelikte erschüttern irgendwelche verschlafenen Kleinstädte, deren Namen früher niemand kannte. Migrantengangs und mafiöse Familienclans kontrollieren ganze Viertel der Großstädte. Schlägereien, Messerangriffe, Raubüberfälle, unzählige Vergewaltigungen, Mord füllen die Spalten der Tageszeitungen. Menschen werden vor einfahrenden Bahnen auf die Gleise gestoßen, Frauen unvermittelt von hinten Treppen hinuntergetreten. Oder ins nächste Gebüsch gezerrt und vergewaltigt. Als Freizeitvergnügen probiert man aus, schlafende Obdachlose anzubrennen. Einfach so. Da sind auch keine kriminellen Randexistenzen mehr unterwegs, sondern hasserfüllte Totschläger ohne jede Emotion und ohne jedes Gewissen. Grassierende Psychopathologie. Da wird nicht nur ein Rentnerehepaar vorm eigenen Haus überfallen und gezwungen Geld und Wertgegenstände herauszugeben, nein, sie werden gefesselt, der Mann getötet, das Haus angezündet. Der Bürgerkrieg hat längst begonnen und viele tun immer noch so, als bräuchten sie nur wegsehen, damit der Schrecken an ihnen selbst vorübergeht.
Der Staat, der für die Sicherheit seiner Bürger sorgen soll, handelt mittlerweile völlig irrational. Gefährder, IS-Terroristen, Drogenhändler, Schwerstkriminelle lässt man an der langen Leine laufen, teilweise gibt es Kontakte zu den Geheimdiensten und zu V‑Leuten — beim NSU genauso wie bei Islamisten. Selbst für erschreckende Untaten gibt es nur Bewährungsstrafen oder man lässt die Täter gleich wieder laufen. Aber ein alter dementer Mann an einer Bushaltestelle bekommt ein Bußgeld aufgebrummt, weil er angeblich dort nicht ausruhen darf, einer 77-jährigen Frau pfändet man die kleine Rente, weil sie ihren GEZ-Zwangsbeitrag nicht bezahlen kann, eine andere Rentnerin muss in den Knast, weil sie aus Hunger gestohlen hat. Statt zu fragen, warum es sein muss, einem Menschen auch noch das Allerletzte, nämlich sein Trinkwasser, zu nehmen und ihn dazu zu treiben, einen Lokalpolitiker mit dem Messer anzugreifen, wird diese symptomatische Verzweifelungstat zum ideologischen Hassverbrechen aufgebauscht und man veranstaltet Lichterketten gegen den vermeintlichen Nazi. Erst nimmt man jemandem alles und wenn er nichts mehr zu verlieren hat und durchknallt, benutzt man sein Schicksal zur Volkserziehung. Selbst der einfache gesunde Menschenverstand funktioniert nicht mehr. Es läuft alles völlig aus dem Ruder.
Der eigenen Bevölkerung schlägt ungezügelter Hass entgegen, von linken Journalisten, von hochrangigen Parteipolitikern, von Intellektuellen und aus Talkshow-Runden. Man hasst die Ossis, man wünscht sich den Volkstod für alle Kartoffeln. Jeder der den Mund aufmacht und etwas zu sagen wagt, was nicht in den Mainstream passt, ist ein Nazi und wird der Verachtung überantwortet. Die sozialen Netzwerke schwappen über vor Wut, Hass und verbalen Ausfällen nach allen Richtungen. Richtet sich die Wut gegen Migranten und Ausländer, bist du ein Nazi und Rassist, deine Beiträge werden zensiert, gesperrt und gelöscht. Kommt die gleiche Wut und der gleiche Hass von der anderen Seite, von links oder von Islamisten, lässt man sie gewähren. Du musst wieder lernen eine Rolle zu spielen, um nicht zu den Bösen zu gehören, wie in der DDR. Es ist wieder wichtig geworden zu überlegen, was man sagt. Nicht nur öffentlich, sondern auch Verwandten und Kollegen gegenüber. Denunziation und Blockwartmentalität sind wieder en vogue in Deutschland. Ein Zensurgesetz wird erlassen und schon zinken sich alle gegenseitig an. Der Wahnsinn greift in atemberaubender Geschwindigkeit um sich. Als Polizisten mit Hilfe ihres Hundes die sexuelle Attacke auf eine Frau durch einen Migranten unterbinden, zögern zwei andere anwesende Frauen keine Sekunde, die Beamten anzuzeigen: wohl wegen Ausländerfeindlichkeit und Diskriminierung. In einem im Internet verbreiteten Video sieht man ein paar junge Ausländer auf einer Straße auf einen äteren Mann zugehen. Sie sprechen ihn an. Einer fragt was und lenkt ihn ab. Als der Mann irgendwohin zeigt und wegsieht, schlägt einer aus der Gruppe unvermittelt und hart zu. Der alte Mann fällt ohnmächtig in das Gebüsch am Straßenrand. Das Verbrechen, die paranoide Gewalt sind längst keine spannende Unterhaltung im Fernsehen mehr. Es handelt sich nicht mehr um Einzelfälle. Ihre Zahl sprengt das Fassungsvermögen und führt zu Abgestumpftheit und Gewöhnung an etwas, an das man sich niemals gewöhnen sollte. Hinter der mühsam aufrechterhaltenen Kulisse ("ein Land, in dem wir gut und gerne leben") breitet sich schleichend das Entsetzen aus und vergiftet das menschliche Miteinander. The Walking Dead.
Das Wort Hetze, das in zwei vergangenen deutschen Diktaturen inflationär gebraucht wurde, feiert heute wieder fröhliche Urständ. Es gibt nur noch zwei randständige Extrempositionen, die sich gegenseitig der Hetze beschuldigen. Dazwischen ist nichts mehr. Im besten Fall vielleicht noch Schweigen und Wegsehen. Es ist klar, dass man auch den kleinsten Angriff auf einen Politiker (von der richtigen politischen Seite) öffentlich hart geißeln, verurteilen und bestrafen muss. Denn das verachtete Volk braucht nur einen minimalen Anstoß, um nach Blut zu lechzen und dann würde es richtig zur Sache gehen. Die irrationalen Fakten passen in einfachen Köpfen nicht mehr zusammen. Ich empfehle die Lektüre der Geschichte der Französischen Revolution. Der gesellschaftliche Friede ist nicht mehr in Gefahr, er ist bereits Vergangenheit. Der Riss, der sich so harsch durch die Gesellschaft zieht, verschlingt täglich ein bisschen mehr Restvernunft. Übrig bleibt ein Abgrund, von dem man nicht weiß, was aus ihm entsteigen wird. Ich glaube, nichts Gutes.
Titelfoto: Twitter (genaue Quelle unbekannt)
One thought on “Gesellschaft am Rande des Abgrunds”
Deine Zeit ???? ???? Zusammenfassung ist komplett. Könnte ich so nicht formulieren ! Aber was nun z. heutigen 1.Advent u. Einweihung d. Universitätskirche St. Paulin nach d. Sprengung 1968 in der Heldenstadt? Jena wird ohne Rücksicht weiter zubetoniert und viele Stadtratsköpfe ebenso. Was tun sprach Zarathustra als er die Bürger befragt hatte?
L. G. 2017-12-03