Der verwaltete Eros (Teil 1)
"Erotik ist Überwindung von Hindernissen. Das verlockendste und populärste Hindernis ist die Moral." (Karl Kraus)
Wie wahrscheinlich bei vielen anderen auch, war mein erstes Mal wenig berauschend. Ich komme nicht umhin, ein wenig aus dem Nähkästchen zu plaudern, um mich dem Kern meines Themas anzunähern. Man möge es mir verzeihen. Es war Silvester 1982 und ein kleiner Kreis junger Leute feierte in einem Gartenhaus in der Nähe eines kleinen thüringischen Waldortes. Es war kalt und es lag viel Schnee. Die Party war nicht der Knaller, dafür waren wir zu jung und viel zu gut erzogen. Wir spielten irgend so etwas wie Flaschendrehen. Man musste hin und wieder eines der Mädchen küssen oder etwas anderes Lächerliches tun. Irgendwann in der Nacht blieben nur noch mein bester Schulfreund mit seiner Freundin, außerdem ein mir bis dahin unbekanntes Mädchen und ich selbst zurück. Das Pärchen verschwand im Nachbarraum und so führte das Zusammenschmelzen der Runde zu einer Situation, in der wir übrigen zwei uns mit einer gewissen unabänderlichen Logik dazu gedrängt/genötigt/verführt fühlten, miteinander Sex zu haben. Wir verständigten uns darüber nicht, jedenfalls nicht verbal. Als Greenhorn beschränkte sich mein Talent darauf, meine lange Unterhose auf eine brennende Kerze zu schmeißen und die Situation so unverfänglich wie möglich hinter mich zu bringen. Ihr Talent beschränkte sich darauf, die ganze Zeit wie ein lebloser Holzblock da zu liegen, heftig zu atmen und darauf zu warten, dass es zu Ende war. Wir redeten auch im Anschluss und in der Folge nie über dieses Geschehen und erstrecht nicht über Sex. Obwohl ich weder verliebt war, noch besonders auf dieses Mädchen stand, fühlte ich mich verpflichtet, etliche Monate mit ihr eine Fernbeziehung zu führen, die ich kurz nachdem ich zum Wehrdienst eingezogen worden war, beendete.
Ja, es waren prüde Zeiten damals. Wir hatten von nichts eine Ahnung. In meinem Elternhaus war nie eine Silbe über Sexualität verloren worden. Natürlich konnte man brav sein und darauf verzichten, die durch und durch passive Weiblichkeit zu bedrängen, aber dann konnte man auch gleich ein Klostergelübde ablegen. Am erfolgreichsten in diesen Dingen waren die Jungs mit der größten Klappe und dem geringsten IQ, wahrscheinlich weil sie keinen Gedanken an Moral oder Anstand verschwendeten. Nach heutigen Maßstäben wäre es für das Mädchen von damals ein Leichtes gewesen, mich der Vergewaltigung zu bezichtigen. Wir hatten keine einzige Sekunde darüber nachgedacht, ob wir nun in gegenseitigem Einvernehmen gevögelt hatten oder nicht. Es wäre mir nie gelungen, ihr Einverständnis zu beweisen. Selbst viel später hätte sie sich noch umentscheiden und plötzlich feststellen können, dass ja alles gegen ihren ausdrücklichen Willen passiert war. Wie man heute weiß, geht das sogar noch nach Jahrzehnten. Die sprichwörtliche Arschkarte wäre mir als Mann auf jeden Fall sicher.
Der Unterschied von damals zu heute besteht darin, dass wir uns in den Achtzigern unsere sexuelle Freiheit mühsam erarbeiten mussten, nicht gegenüber einer repressiven Institution, sondern gegenüber uns selbst. Jedem war dabei klar, dass nicht alle Erfahrungen der ultimative Kick sein konnten. Man fand sich hin und wieder in Situationen wieder, die man später besser vergaß. Das war ja im restlichen Leben auch nicht anders. Aber es war genauso jedem klar, dass es besser war, Erfahrungen zu machen, in denen man reifen und dazu lernen konnte, als aus falscher Zurückhaltung gar nichts zu tun und als verachtetes Mauerblümchen zu enden. Niemand hätte abgestritten, dass man für alles selbst verantwortlich war, für die Lust, den Rausch und das Glück genauso wie für den Mist, den man baute oder über den man gelegentlich stolperte. In dieser Hinsicht gab es (noch) keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen.
In der postmodernen kapitalistischen Gesellschaft ist nun alles anders. Sexualität ist allgegenwärtig und schon Zehnjährige klicken auf einschlägigen Internetportalen alle denkbaren sexuellen Spielarten durch. Jeder weiß was Sache ist. Die Freiheit zu tun und zu lassen was man möchte, war noch nie so groß wie heute. Erstaunlicherweise führt das jedoch nicht zu einem selbstbestimmteren Leben, sondern zum Gegenteil. Die Schneeflöckchen-Generation lehnt es ab, Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen. Die Irritation ist groß, das Selbstbewusstsein klein. Nicht nur im Bereich der Sexualität fühlt man/frau sich überfordert, angegriffen, diskriminiert, missachtet und in einem ständigen Zustand der Verteidigung gegen alles und jeden. Schuld daran haben immer nur die anderen. Das Leben muss süß wie rosa Zuckerwatte sein, die man in einem Safespace schleckt. Und wehe, es guckt jemand dabei zu.
Die Gesellschaft muss sich nun auf einmal Generationen erwehren, die jedwede Unwägbarkeit der Realität als Bedrohung und Angriff gegen die eigene Person empfinden. Ob das ein Ergebnis der berüchtigten Helikopter-Erziehung oder einer materiell überreichlich ausgestatteten Kindheit ist, weiß ich nicht. Fakt ist jedoch, dass wir es auf der einen Seite mit Menschen zu tun haben, die gegenüber tatsächlichen Bedrohungen und Verbrechen total ohnmächtig und hilflos sind, andererseits aber bei Nichtigkeiten absurdester Art Aufschrei-Kampagnen lostreten, die aggressiver kaum sein könnten. Vorsicht Triggerwarnung: Eine ungewollte Hand auf einem Knie ist kein Erdbeben und keine Hungersnot, keine grausame seelische Verletzung und auch keine gewalttätige Übertretung eherner Menschenrechte. Es ist einfach nur eine Hand auf einem Knie. Diese Berührung kann man nicht beantragen wie einen Eintrag ins Einwohnerregister und im Einzelfall auch nicht verhindern, es sei denn man läuft sein ganzes Leben in einer eisernen Rüstung herum. Aber selbst eine Rüstung hat ein Knie, an das man sich heranwagen kann. Mit anderen Worten, der Vorrat an unerwünschten Ereignissen, über die man sich empören kann, ja muss, ist unerschöpflich. Man kann das Spiel mitspielen oder nicht, doch in den seltensten Fällen wird diese Entscheidung von der rationalen Vernunft getroffen. Das Unbewusste ist da viel schneller.
Einen anzüglichen Witz, einen lüsternen Blick auf einen Hintern, eine ungewollte Berührung oder ein komisches Kompliment als Übergriff zu betrachten, sagt mehr über diejenigen aus, die sich angegriffen fühlen als über die vermeintlichen "Mikroaggressoren". Wird frau in Kürze gegen Regen, Wind oder eine Schlammpfütze auf dem Weg einen Aufschrei starten? Sollte der Staat dafür sorgen, dass es keine Schlammpfützen mehr gibt, damit niemand hineintreten oder gar darin ausrutschen kann? Oder sollte man nach wie vor erwarten dürfen, dass jemand die Kraft hat, einfach darum herum zu laufen? Oder seine Schuhe zu säubern, wenn er doch hineingetreten ist? Die eigenen Makel, Probleme oder Fehlschläge sind jetzt nicht mehr auf dem eigenen Mist gewachsen, sondern werden zu gesamtgesellschaftlichen Phänomenen hochstilisiert, die jeden anzugehen haben. Hast du keine Lust dir die Jacke anzuziehen, gehörst du zu den Schuldigen.
In den Leitmedien wird in den letzten Jahren viel über eine Krise der Männlichkeit räsoniert. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass sich auch die Weiblichkeit in einer Krise befindet, die krasser nicht sein könnte. Der tatsächliche und besorgniserregende Angriff läuft auf Hochtouren gegen die Geschlechtlichkeit von Männern UND von Frauen. Klassische Weiblichkeit und die mit ihr verbundene Erotik, wie sie noch vor 20 Jahren (oder vor 100 Jahren!) völlig normal war, wird heute mit großen Anstrengungen zerbrochen. Sexuell extrem repressive Religionen wie der Islam gehen dabei einen merkwürdigen Pakt mit identitätszerstörenden "linken" und "feministischen" Kampftruppen ein, deren Gleichstellungs- und Diversity-Fanatismus einen neuen, wahlweise meta- oder asexuellen Menschen zum Ziel hat. Dieser Mensch ist global gleich, wurzel- und kulturlos und daher beliebig zu formen, musterhaft zu prägen und leicht zu unterwerfen.
Wie verworren, ja psychopathologisch die gesellschaftlichen Vorstellungen in dieser Hinsicht mittlerweile sind, sieht man daran, dass angesichts einer Welle schwerwiegender sexueller Gewalt, die dieses Land gerade überzieht, über lächerliche Einvernehmlichkeitsrituale und ‑verträge diskutiert wird, als könnte man auch die feinsten erotischen Signale wie ein Versicherungsmakler in einer Excel-Tabelle verwalten ((Schweden soll da Vorreiter werden mit dem "Verkehrsabkommen".)). Wir stehen mittlerweile einer "Kultur" gegenüber, die Frauen steinigt, anzündet, mit Säure verätzt, absticht oder mit einem Strick um den Hals an einer Anhängerkupplung durch die Straßen schleift und regen uns angesichts dieses Grauens über harmlose, vorzugsweise ältere weiße Männer auf, die nackte Comicfiguren auf ihrem Hemd tragen ((gemeint ist der Fall des Rosetta-Wissenschaftlers Matt Taylor, z. B. hier beschrieben: https://www.welt.de/vermischtes/article134377376/Shirtgate-bringt-Rosetta-Forscher-zum-Weinen.html)) oder es wagen, einer Staatssekretärin zu sagen, dass sie jung und schön ist ((z. B. hier diskutiert: https://www.morgenpost.de/meinung/article212267655/Sexismus-oder-Kompliment-Debatte-um-Chebli-Beitrag.html)).
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Titelfoto: Straßenszene Kalifornien in den 60igern — Foto von LeRoy Grannis (Quelle: Twitter History Lovers Club)
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