Die Piratenpartei als temporäre autonome Zone
Rede auf dem Landesparteitag der PIRATEN THÜRINGEN in Erfurt-Schmira am 13. Mai 2012
Liebe Piraten,
ich möchte hier keine programmatische Rede schwingen, sondern eine kleine Geschichte erzählen, die ich interessant finde. Anhand dieser Geschichte habe ich etwas über die Ursprünge des Piratengedankens gelernt und vielleicht können wir daraus auch ein paar Schlüsse für die Zukunft unserer Partei ziehen.
Anfang der 80iger Jahre bildete sich in New York eine Szene aus merkwürdigen Leuten mit anarchistischem Gedankengut heraus. Diese Leute waren überwiegend schwarz, sie standen unorthodoxen Strömungen des Islam nahe und linksanarchistischen Ideologien mit ihrem Warten auf eine Revolution eher spöttisch gegenüber. Die politisch korrekten Etiketten von links und rechts erschienen ihnen bedeutungslos, ebenso Hierarchien und Autoritäten. Sie waren außerdem Fans von Science Fiction und Cyberpunk und gleichzeitig grün denkende Ökologen. An dieser einzigartigen Mischung merkt man schon, daß hier offenbar etwas ganz Besonderes im Gange war. Die Szene wurde von einem Mann geistig befeuert, der Flugschriften, Essays und Kommuniques unter dem Pseudonym Hakim Bey veröffentlichte. Viele Jahre lang wußte niemand, wer Hakim Bey war, es gab von ihm keine Fotos, keine Interviews, er trat nicht im Fernsehen und nicht in der Öffentlichkeit auf und legte auf den Kult um seine Person offenbar keinerlei Wert.
1985 erschien bei einem kleinen New Yorker Verlag namens Autonomedia eine Essaysammlung von Hakim Bey unter dem Namen „T.A.Z. – Die temporäre autonome Zone“. Schlug man dieses Buch auf, fand man im Impressum den Hinweis auf ein Anti-Copyright, außerdem den Vermerk: May be freely pirated and quoted ...
Ich habe dieses Büchlein schon vor vielen Jahren mit großer Faszination gelesen. Als ich es vor kurzem mal wieder in die Hände nahm und aufschlug, traf es mich wie ein elektrischer Schlag, als ich den Titel des ersten Abschnitts las und mich erinnerte: PIRATENUTOPIAS
Der Autor äußert darin die These, daß der zunehmende Zerfall der etablierten politischen Systeme mit der Bildung von Informationsnetzwerken und intentionalen Gemeinschaften einhergeht, die sich der Datenpiraterie widmen, aufgrund der Möglichkeiten des technischen Fortschritts weitgehend autonom vom Establishment agieren und dem Begriff der Freiheit erstmalig wirklich Leben einhauchen.
Der Revolution mit ihrer permanenten Abfolge von kurzzeitiger Befreiung, Reaktion, Verrat und noch stärkerer Repression als zuvor wird hier das Konzept eines temporären Aufstands entgegengesetzt. Dieser Aufstand erhebt sich plötzlich aus dem Nebel der Geschichte, er benötigt keine Gewalt und kein Blutvergießen. Er wird von Aktivisten getragen, deren Methoden ganz anders sind als die der Che Guevaras von gestern: virale Verbreitung von Information, poetischer Terrorismus, Vernetzung, Happenings, spontane Aktionen, Festivals und die unendliche Freude an der Veränderung. Diese temporären Zonen der Freiheit können klein und unbedeutend erscheinen – ein Flashmob in einem Supermarkt, ein illegaler Rave in einer verlassenen Fabrik, eine Kommune in einem besetzten Haus – sie können aber auch aus vielen tausend Aktivisten bestehen, die eine ganze gesellschaftliche Bewegung ins Leben rufen und anfangen, das System tatsächlich ins Wanken zu bringen. Herdenbewußtsein verwandelt sich so in Hordenbewußtsein, Menschen, die durch Solidarität, Gemeinschaft und übereinstimmende Ziele verbunden sind und synergetisch handeln.
Je mehr man sich in Hakim Beys Gedanken hineinvertieft, umso beeindruckender sind die Parallelen zwischen den Piratenutopia-Konzepten von damals und der realen Piratenbewegung von heute, die genau so eine intentionale Bewegung darstellt. In einer Zeit, in der ein allgegenwärtiger Sicherheitsstaat jede Regung der Freiheit zu unterdrücken vermag und jede Regung der Unabhängigkeit im konspirativen Staat der Monopole ertrinkt, bringt nicht die direkte Konfrontation den gewünschten Erfolg, sondern die intelligente Ausnutzung von Rissen und Unwägbarkeiten im System, die vollständige Kontrolle unmöglich machen. Die Piraten von heute sind dabei – ganz im Sinne von Hakim Bey – postideologisch. Sie vereinen Philosophen und Programmierer, Naturwissenschaftler und Taoisten, Unternehmer und Arbeitslose, Religiöse und Atheisten, Sozialisten und Konservative. Wichtig ist nicht was du hast und was du denkst – wichtig ist nur, was du willst.
Temporäre autonome Zonen zeichnen sich dadurch aus, daß sie in jedem Augenblick daran interessiert sind, Realität zu erzeugen. Sie bedienen sich virtueller Netzwerke, sind aber selbst nicht virtuell. (Anders ausgedrückt: Wir gucken kein Internet, wir nutzen es!) Genau das tun wir derzeit als Piraten. Wir versuchen unsere Gedanken und Vorstellungen von einer freien Gesellschaft in die Wirklichkeit zu überführen. In eine Wirklichkeit, die sinnlich erfahrbar und erlebbar ist. In der Freiheit, soziale Gerechtigkeit und politische Mitbestimmung nicht nur Talkshow-Themen sind, sondern alltägliche Realität für alle Menschen.
An dieser Stelle sind wir bereits bei den Hindernissen, man könnte auch sagen bei unseren Feinden angelangt. Hakim Bey spricht in diesem Zusammenhang von der Totalität des Systems mit all seinen negativen Konnotationen. Die Totalität ist nicht an Wirklichkeit interessiert, sondern immer nur an Simulation. Sie bevorzugt den Schein vor dem Sein, das Abbild statt der Erfahrung, die Vortäuschung statt einer tatsächlichen Veränderung, die Entfremdung statt Kommunikation und Verbindung.
Das historische Schicksal einer temporären autonomen Zone besteht darin, daß sie zuerst von der Totalität übersehen wird und sich eine Zeit lang ungestört entwickeln kann. Wird sie entdeckt, so wird sie nicht selten ignoriert, gering geschätzt, mit Spott und Hohn überschüttet oder in Verruf gebracht. In dem Moment, wo die Totalität sich jedoch ernsthaft herausgefordert fühlt, reagiert sie relativ schnell und impulsiv auf zweierlei Weise: entweder durch rücksichtslose Gewalt mit dem Ziel der Unterdrückung und Vernichtung (siehe beispielsweise die Räumung des Schloßparks bei Stuttgart 21) oder viel subtiler durch Anpassung.
Die zweite Taktik ist sehr erfolgversprechend und hat bisher so gut wie immer funktioniert. Die vorher Geschmähten und Verfolgten werden nun zum Trend, sie sind hip und überall gern gesehen. Die Vergabe von Geld und die Verleihung von Macht kompromittiert die Anarchie. Der revolutionäre Underground-Grouve von einst wird nun zu den Techno-Charts im Radio. Dieser Sog hat auch die Piraten erfaßt und zwar ganz gewaltig. Den ablaufenden Mechanismus nennt Hakim Bey mediale Vermittlung. Sehen und gesehen werden tritt in den Vordergrund vor dem Handeln. Statt auf der Straße zu stehen, werden Pressemitteilungen geschrieben. Die Talkshow nimmt den Platz des Flashmobs ein, das Happening wird durch den Opernball ersetzt. Wir erfreuen oder ärgern uns über die Berichte in Zeitungen und im TV. Sind damit beschäftigt und ausgelastet zu verwalten. Uns um Parteifinanzen zu bemühen. Ganz nebenbei bleibt die politische Wirklichkeit unangetastet. Ich überspitze an dieser Stelle bewußt, aber die Anzeichen sind unübersehbar.
Besonders perfide ist diese Entwicklung derzeit in der Urheberrechtsdiskussion zu sehen. Den Hackern, Leakern und Datenpiraten hängt man jetzt ganz subtil das anrüchige Etikett der Kostenloskultur an und prompt fallen wir darauf herein. Twitter ist auf einmal voll von Piraten, die sich vehement gegen den Vorwurf der Kostenloskultur wehren und händeringend nach Rechtfertigungen und Entschuldigungen suchen. Der freie Informationsfluß, für den wir mit unserem Herzblut eingestanden haben, wird plötzlich relativiert. Und ja natürlich, die armen Verwerter, die jetzt weniger verdienen. Und ja sicher, man muß doch bezahlen. Alles andere ist böse.
Ist es nicht absurd, daß wir uns als Partei jetzt bemüßigt fühlen, neue Geschäfts- und Überlebensmodelle für Urheber und Verwerter zu entwickeln? Statt die GEMA in die Hölle zu schicken, da wo sie hingehört, erstarren wir jetzt in mimimi-Pose und tun uns selber dabei leid, daß wir jene komische Parzellierung in unseren Köpfen, die geistiges Eigentum genannt wird, ablehnen.
Der Höhepunkt der Absurdität wurde erreicht, als eine gewisse Oberpiratin, die unter dem Namen Afelia twittert, öffentlich darüber nachdachte, ob sie jetzt nicht für irgendein kostenpflichtiges Downloadportal für Filme oder Musik Werbung machen sollte.
Diejenigen, die uns jetzt abschätzig die Kostenloskultur als eine Art achter Todsünde anhängen wollen, sind doch genau diejenigen, die in den letzten 200 Jahren alles, aber auch wirklich alles zur Ware gemacht haben — zur Ware, die bezahlt werden muß. Nicht nur die Dinge der täglichen Daseinsfürsorge, die die Menschen zum Leben brauchen, sondern auch Tiere und Pflanzen, Saatgut, Gene, Bildung, Freizeit, Unterhaltung, Sex, Gesundheit und Krankheit und eben auch Kunst. Lediglich die Luft um uns herum ist noch kostenlos, aber mit dem CO2-Emissionshandel haben wir auch schon in diese Richtung vielversprechende, sprich profitable Schritte unternommen.
Und hallo, Leute, waren es nicht die Piraten, die endlich mal den Mut hatten und freien Zugang zu Kultur und Bildung eingefordert haben oder zumindest erkannten, das mit dem Fortschreiten der digitalen Gesellschaft in jedem Augenblick millionenfach Daten, Software, Wissen und Kultur kostenlos produziert, kostenlos kopiert und kostenlos verteilt wird, nicht zuletzt an diejenigen, die sich das bisher nicht oder nur eingeschränkt leisten konnten. Ist das nicht genau der Begriff der Freiheit, auf den wir so stolz sind, ist nicht genau das – verdammt noch mal — die eigentliche und ursprüngliche Bedeutung des Wortes PIRAT?
Liebe Freunde, es gibt einen bekannten Thüringer Piraten, der einmal auf einem Bundesparteitag eine Rede unter dem Motto „Es hat bereits begonnen“ gehalten hat ... Und in der Tat, es hat nicht nur bereits begonnen, wir sind mittendrin.
Wir haben jetzt die einfache Möglichkeit, uns den Segnungen und Verlockungen der Totalität und ihren Mechanismen des schönen Scheins hinzugeben und uns schleichend an das System anzupassen, das wir doch eigentlich angetreten waren zu verändern.
ODER wir haben die Möglichkeit uns auf unsere starken, lebendigen und zukunftsfähigen Ideale zu besinnen, die Chance des historischen Augenblicks beim Schopfe zu packen und so viel wie möglich davon umzusetzen, was uns am Herzen liegt. Solange es nur irgend geht.
Hakim Bey schreibt: „Sobald die TAZ benannt (repräsentiert, mediatisiert) ist, muß sie verschwinden, wird sie verschwinden und eine leere Hülse zurücklassen, nur um anderswo wieder zu entstehen...“
Machen wir uns nichts vor, liebe Freunde – das ist auch das Schicksal der Piraten. Wenn uns die Totalität irgendwann vollständig aufgesogen hat und wir fett und angepaßt wie die anderen am Trog des Volksvermögens kleben, wird eine neue Bewegung erstehen und uns hoffentlich ordentlich in den Arsch treten.
Bis dahin haben wir noch ein bißchen Zeit, wieviel vermag ich nicht zu beurteilen. Ich weiß nur, daß wir sie nutzen müssen. Das ist unsere historische Aufgabe. Lasst uns loslegen!
4 thoughts on “Die Piratenpartei als temporäre autonome Zone”
Grossartige Rede.
Hakim Bey ist vor einer Woche gestorben. Friede seiner Asche. Siehe:
https://www.heise.de/tp/features/Hakim-Bey-Ikone-der-Hackerkultur-7125094.html
Hallo Mik, danke für den Hinweis. Schade, dass Hakim Bey diese Welt verlassen hat. Ich fand seine Gedanken immer faszinierend und inspirierend. Anfang der 2000er hatte ich versucht, ihn in Deutschland etwas bekannter zu machen und ein Büchlein mit einigen Essays von ihm veröffentlicht.
Diese Rede hier hat sich komischerweise als eine Art Prophezeiung erwiesen, denn vom ursprünglichen Sinn und Ziel der Piraten ist nichts mehr übrig geblieben und die kurzzeitige Chance einer Gesellschaftsveränderung wurde leider in ideologischen Grabenkämpfen vertan.