Ein irrer Duft von frischer Science Fiction
Dieser Text ist zwei großartigen Männern gewidmet. Der eine hieß Otto Hanf und war mein Großvater, der andere Raymond Douglas Bradbury und war ein amerikanischer Science-Fiction-Autor. Beide Männer sind über einen merkwürdigen Draht miteinander verbunden, der eine kleine Geschichte bildet, die es wert ist erzählt zu werden...
Mein Opa Otto, wie er allgemein in der Familie hieß, war nicht mein leiblicher Großvater, sondern der zweite Mann meiner Großmutter mütterlicherseits, die im selben Jahr starb als meine Mutter mich gerade in ihrem Bauch herumtrug. Da Erna und Otto zu dieser Zeit bereits jenseits der Grenzen des real existierenden Sozialismus lebten, hinderte das DDR-Regime meine Mutter daran, zur Beerdigung ihrer eigenen Mutter auszureisen. Mein Vater schmiss damals seinem Parteisekretär sein SED-Parteibuch vor die Füße und erklärte seinen Austritt, was mutig war, aber nichts nützte. Meine Eltern sprachen persönlich in Berlin vor, um die Ausreise doch noch zu erreichen — ohne Erfolg. Noch viele Jahrzehnte später brach meine Mutter in Tränen aus, wenn man sie auf diesen Umstand ansprach und ich denke heute, dass der Anflug von Tod, Melancholie und politischer Dystopie den kleinen Embryo des Jahres 1964 sicher nicht wenig prägte.
Wie jeder weiß, achtete die DDR sorgsam darauf, dass dem Sozialismus keine Bürger verlorengingen, war aber umgekehrt sehr dankbar, wenn sich Westdeutsche auf den beschwerlichen Weg machten, ihre Verwandten im Osten zu besuchen — trugen sie doch etwas mit sich, das man damals Devisen nannte und hinter dem man her war wie der Teufel hinter der Seele. So kam es, dass mein Opa Otto alle zwei oder drei Jahre "von drüben" kam und uns besuchte. Von klein auf verband mich mit ihm eine Freundschaft, die von gegenseitiger Neugier, Zuneigung und von Respekt geprägt war. Bei jedem Besuch, der manchmal nur ein paar Tage dauerte, reservierte Otto einen ganzen Nachmittag für seinen Enkel. Wir stellten ein Schachbrett auf, warfen alle anderen aus der "guten Stube" und spielten stundenlang Schach miteinander. Opa Otto war die Ruhe in Person; er verlor nie die Contenance, selbst dann nicht, wenn Hilde — die Ernas Platz eingenommen hatte — ihm mit ihrem Wessi-Wohlstandsgetue gehörig auf die Nerven ging. Ich erinnere mich, dass er eines Tages einen Rubik's Cube mitbrachte und gleichzeitig dazu auf einem Zettel sorgfältig aufgezeichnet den Lösungsweg — eine Lösung, die er sich selbst ohne fremde Hilfe ausgedacht hatte. Er schleppte auch ausrangierte Unterhaltungselektronik von Grundig oder Telefunken an, die er mit eigenen Händen wieder instandgesetzt hatte. Ja, er war klug, mein Opa Otto und er hegte ein seltsames Verständnis und Einfühlungsvermögen für die Spinnereien und Fantasien eines heranwachsenden Knaben. Zum Betrübnis meines Vaters, der ein ausgesprochen handwerklich begabter Mensch war, vertiefte ich mich nämlich lieber in Bücher und träumte von Abenteuern auf unbekannten Inseln und fernen Planeten. So kam es, dass mir Opa Otto vorschlug, mit den "Westpaketen" immer auch ein paar Bücher mit zu schicken.
Diese Westpakete waren ein Mysterium für sich, jeder "Ossi" weiß, wovon ich spreche. Die meisten dieser Pakete, die damals die mit Selbstschussanlagen gesicherte Grenze nur in eine Richtung überquerten, waren im Aldi oder einem anderen Discounter für wenig Geld gefüllt worden — mit Ananaskonserven, Asbach Uralt, Lübecker Marzipan, Spearmint Kaugummi für die Kinder und Kaffee für die Erwachsenen, mit Sprengel Schokolade (und den darin befindlichen Sammelbildchen), After Eight, Dr. Oetkers Backpulver und natürlich mit Seife, Nivea-Creme und diverser anderer Kosmetik. Meine Eltern versuchten sich mit Thüringer Wurst zu revanchieren, aber es war verboten Lebensmittel auszuführen. Genauso war es verboten, Bücher aus dem Land des imperialistischen Klassenfeinds anzunehmen. Meinen Opa juckte das wenig; während er sich eine von seinen typischen Zigarillos ansteckte, machte er sich mit ironischem Lächeln desöfteren über beide Seiten lustig — über das Politbüro und die gebügelten Volksuniformierten an der Grenze genauso wie über die Habgier und die Arbeitswut im vermeintlich freien Westen. Er wurde nicht müde meinen Eltern klar zu machen, dass jenes Bananenparadies, von dem sie träumten, nicht wenige und gravierende Schattenseiten besaß. Es sollten noch mehr als 20 Jahre vergehen, bevor meine Eltern begriffen, von was er gesprochen hatte.
Wenn ich auch von den Sorgen der Erwachsenen noch wenig begriff, so wartete ich nun umso mehr auf jene gelben Bundespostpakete, enthielten diese doch eine Welt, von der ich bisher nicht die geringste Ahnung gehabt hatte. Inmitten des typischen Supermarkt-Sammelsuriums der westdeutschen Wohlstandsjahre stapelte mein Opa nämlich von diesem Zeitpunkt an ein paar Diogenes Taschenbücher, die damals alle das gleiche schwarz-gelbe Design hatten. Ich schlug ein Buch mit amerikanischen Shortstories auf, das den Titel "Der illustrierte Mann" trug, steckte meine Nase zwischen die Seiten, sog den Duft nach Lux-Seife und Dalmayr-Kaffee ein und begann die erste Science Fiction meines Lebens zu lesen — von einem Autor namens Ray Bradbury. Das im wahrsten Sinne des Wortes phantastische Buch verschlang ich in einem Stück. Auf meinem Wandklappbett stand zu dieser Zeit ein kleines Holzschiff, dessen Segel von einer Glühbirne erhellt wurde. Abends verstaute ich das Lampenschiff sorgfältig unter meiner Bettdecke und wenn sich vor meiner Kinderzimmertür alles beruhigt hatte, steckte ich meinen Kopf unter die Decke, schaltete meine Lampe an und las, bis mir die Augen zufielen.
Auf den letzten Seiten der Taschenbücher waren damals noch die lieferbaren Titel der Taschenbuchprogramme aufgelistet und so konnte ich einfach meine Wünsche unter den nächsten Brief meiner Eltern schreiben und bekam einige Zeit später meinen heiß ersehnten Lesestoff. Am Rande sei auch jene kuriose Anekdote erwähnt, dass ich mich mit meiner Vorliebe für Düsteres und Abenteuerliches eines jugendlichen Tages für ein Buch mit dem Titel "Nachtgeschichten" entschied. Das dünne Taschenbüchlein von einem Autor namens William Kotzwinkle entpuppte sich bei seinem Eintreffen als pornographisches Kleinod, über das sich meine Eltern recht ordentlich entsetzten, während es mich in — nun ja — ganz andere Zustände versetzte. Mein Opa schickte mir auch diese anregende Lektüre ohne Kommentar und unter Mißachtung sämtlicher Prinzipien des Jugendschutzes; er hatte schon immer ein besonderes Verständnis für das Leben und seine Freuden besessen.
Die Möglichkeiten, ein ganzes Volk zu kontrollieren und zu überwachen, waren damals — im Gegensatz zu heute — noch recht dilettantisch ausgeprägt und so kam es, dass soweit ich mich erinnere niemals ein Paket geöffnet und Lektüre beschlagnahmt wurde. Ein großes Glück für einen dankbaren Leser wie mich, denn nach und nach hatte ich mich an den vielen Geschichten und einzelnen Romanen von Ray Bradbury festgelesen und bestellte automatisch jede Neuerscheinung von ihm nach. "Fahrenheit 451", "Die goldenen Äpfel der Sonne", "Löwenzahnwein" oder "Medizin für Melancholie", jeder Titel ist noch heute eine Kostbarkeit in meinem Bücherregal, von der ich mich nicht zu trennen vermag. Nicht aufgrund des Geldwertes — Taschenbücher kosteten zu dieser Zeit nur ein paar Mark — sondern aufgrund des Reichtums an Erinnerungen und Abenteuern, an Poesie und Inspiration, der sich zwischen diesen Seiten verbarg — und meine Vorstellungskraft beflügelte.
Es ist eigenartig, dass diese besondere Kombination aus frischen Düften und frischem Lesestoff mir noch viele Jahre später jedesmal einen Schauer über den Rücken jagte, wenn ich eines der Taschenbücher aufschlug und hier und da eine besonders liebgewonnene Erzählung erneut las. Ich bin mir nicht sicher, ob dieses Gefühl heute, im Zeitalter von Google, Blogs und Twitter nachvollziehbar ist. Vermutlich wird man es für romantische Übertreibung halten, aber ich schwöre, dass ich es so dicht an der Wirklichkeit wie möglich geschildert habe. Allerdings hat es schon etwas Romantisches an sich, sogar einen Anflug von Synchronizität, dass auch die Stories von Ray Bradbury mit einer außergewöhnlich sinnlichen Poesie versehen waren. Düfte, Farben, Licht und Dunkel, Gefühle und ein Hauch von Übersinnlichem und Unbekanntem schwebten über jeder Zeile und versetzten mich in einen Rausch des Genießens. Ich glaube, dass es nur selten Schriftsteller gibt, deren Kopf so weit und offen ist und von so vielen originellen Ideen und angenehmen Schauern durchflutet wird wie der von Ray Bradbury.
Wenn ich im nachhinein über verschiedene Geschichten und Themen Bradburys nachdenke, so kann ich mir gut vorstellen, dass viele seiner Ideen von universaler Verbundenheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Kultur und der Magie des Lebens genauso in meinen Kopf hineinfluteten und dort wichtige Plätze besetzten, um sie nie wieder zu verlassen. Sehr viel später, als ich von mir selbst — meist mit einem ironischen Unterton — als einem Weltverbesserer sprach, wurde mir klar, dass daran die Dystopien und Utopien von Bradbury und anderen SciFi-Autoren nicht wenig Anteil hatten. Bradburys "Mars-Chroniken" sind ein gutes Beispiel dafür. Er hatte sie faktisch als ein Gleichnis für die Kolonialisierung Amerikas und den Völkermord an den Indianern geschrieben. Besser als jedes Geschichtsbuch machte es den Unsinn und die Unmenschlichkeit von Barbaren deutlich, die ausgezogen waren, angeblichen Wilden die Zivilisation zu bringen und dabei nicht merkten, wie sie als Kulturlose eine ganze wunderbare Kultur unwiederbringlich zerstörten.
In der Geschichte "Der Mörder" erfindet Bradbury visionär schon in den 50iger Jahren eine Welt, in der die Menschen über Armbandsender ununterbrochen miteinander in Kontakt stehen, aber diese Vernetzung nur für banales Geschwätz und gegenseitige Kontrolle nutzen. Diese ungeheuer weitsichtige Geschichte, die heutigen internetversierten Lesern vielleicht zu ludditisch daherkommt, fällt mir jedesmal ein, wenn ich in einem Zug oder in einer Straßenbahn sitze und den Menschen zusehe, wie sie nicht mehr miteinander, sondern nur noch mit ihren technischen Geräten kommunizieren. Es gibt viele solche Momente beim Lesen von Bradburys Werk und es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis auch sein bekanntestes und verfilmtes Buch "Fahrenheit 451" eine unerwartete Aktualität erlangt, wenn illegale Ebooks, Kopien und Medien vernichtet und Downloader und Filesharer endgültig kriminalisiert und bestraft werden.
Das Gros der Science-Fiction-Autoren war und ist von jeher konservativ, ja sogar reaktionär. In ihren Space Operas und zukünftigen Gesellschaften hat sich im Vergleich zur sattsam bekannten irdischen Historie wenig geändert. Es gibt nach wie vor Könige und Fürsten und Hofdamen und Agenten und Soldaten und Banditen. Sie erzählen die gewohnten Geschichten, lediglich im Gewand der Zukunft und erscheinen deshalb nicht selten so langweilig. Nur wenige dieser Autoren sind anarchistisch genug, sich aus dieser konventionellen Programmierung zu befreien und gestatten sich, aus dem was bisher gedacht wurde, auszubrechen. Stanislaw Lem oder Iain Banks gehören zu diesem kleinen Häuflein an Querdenkern, mit Sicherheit aber Ray Bradbury. Ihr besonderes Kennzeichen besteht in ihrer Sensibilität für die menschlichen Dinge, in ihrem Humanismus überhaupt. In diesem Sinne sind sie tatsächlich die Romantiker in ihrer Zunft.
Diese auffällige Sympathie für die Menschen trotz der doch so offensichtlichen Schattenseiten unserer Spezies führt mich auch zu meinem Großvater zurück. Mit seiner unauffälligen, bescheidenen und doch unverwechselbaren Art hat er mich zweifellos geprägt, ohne mich jemals erziehen zu wollen. Vielleicht wäre er ja auch ein guter Schriftsteller gewesen, aber die Zeiten und sein Schicksal hatten das nicht für ihn vorgesehen.
Otto Hanf starb am 25. November 1989 — nur wenige Tage nach Öffnung der innerdeutschen Grenze — im Alter von 70 Jahren.
Ray Bradbury starb am 5. Juni 2012 im Alter von 91 Jahren.
One thought on “Ein irrer Duft von frischer Science Fiction”
Auch wenn es alle geglaubt haben: Bücher von West nach Ost zu schicken, war grundsätzlich nicht verboten. Es gab Bücher, die auf schwarzen Listen standen und die Willkür der Zollbeamten, aber kein generelles Verbot — ein Umstand, dem ich auch allerlei Bücher verdanke.
Ray Bradbury allerdings halte ich auch für einen Konservativen unter den Autoren. Während ich Marschroniken und den Illustrierten Mann noch mit an Sucht grenzender Begeisterung verschlungen hatte, entwickelten wir uns später mehr und mehr auseinander. So wunderbar ist die amerikanische Kleinstadtidylle vermutlich nie gewesen, wie Bradbury schreibt. Ich stolperte über Joe Haldeman und John Brunner und dachte: so muss SF sein. Aber eine Geschichte kann ich bis heute beinahe auswendig: The Green Morning. Ich wollte, es wäre so einfach, einen Planeten zu begrünen ...