Schlechter Stil statt konstruktivem Dialog
Nachdem nun die Sitzung der AG Bürgerhaushalt bereits zwei Tage zurück liegt und mir trotzdem dazu noch eine Menge Gedanken im Kopf herumschwirren, möchte ich etwas davon "zu Papier bringen".
Man muss am Anfang konstatieren, dass die AG auch dieses Jahr in meinen Augen eine tolle Arbeit gemacht hat. Die Broschüre zum neuen Bürgerbeteiligungsverfahren kann sich sehen lassen und ist im Druck, die Öffentlichkeitsarbeit ist angelaufen, ab 1. September startet die Abstimmung. Flyer wurden gedruckt und verteilt; Plakate werden in den Straßenbahnen und Bussen auf das diesjährige Thema "KITA-Gebühren in Jena" aufmerksam machen und zur Teilnahme an der Abstimmung aufrufen. Angesichts der fortgesetzten Unfähigkeit der Stadt, öffentliche Daten transparent, nachvollziehbar, leicht zugänglich und für jeden Bürger verständlich aufzubereiten und zu präsentieren (Stichwort "Offener Haushalt") sind die umfangreichen und strukturiert zusammengefassten Informationen zu den KITA-Gebühren in der Haushaltsbroschüre nicht positiv genug einzuschätzen. Jeder Bürger kann hier ab sofort nachlesen, wie sich die Finanzierung der KITAs in Jena zusammensetzt, wie die Gebühren berechnet werden und wie sich Änderungen an den verschiedenen "Stellschrauben" der Gebührenberechnung für die Eltern auswirken.
Nachdem nun also die diesjährige Arbeit getan war, hatte sich die AG in ihrer Sitzung vorgenommen, mal durchzuatmen und in einer Art Brainstorming die Arbeitsgruppe selbst und Möglichkeiten der zukünftigen Arbeit zu thematisieren. Schließlich sollen möglichst viele Bürger sich eingeladen fühlen, am Bürgerhaushalt mitzuwirken und ihre eigenen Ideen einzubringen. Für diese Selbstreflexion der AG verständigten wir uns auf ein bewährtes Verfahren, bei dem jedes AG-Mitglied auf Zetteln frei und anonym Stichworte, Gedanken und Kritik aufschreiben konnte. Die Zettel wurden eingesammelt und an einem Flipchart zusammengetragen und thematisch sortiert. So kristallisierten sich im Laufe der Auswertung schnell verschiedene Komplexe heraus, etwa Mitgliederwerbung, Öffentlichkeitsarbeit, Rechenschaftslegung oder Zusammenarbeit mit Politik und Verwaltung. So weit so gut.
Mit in der Sitzung anwesend waren auch die beiden Stadträte Denis Peisker (Bündnis90/Die Grünen) und Lutz Liebscher (SPD). Es ist etwas eigenartig an dieser Stelle berichten zu müssen, dass das Auftreten dieser beiden Kommunalpolitiker die konstruktive und offene Grundstimmung in der AG in kürzester Zeit zu einem heftigen, unausgewogenen und teilweise respektlosen Disput kippen ließ, der den Adrenalinspiegel der ehrenamtlich tätigen Bürger (zu Recht) in die Höhe trieb. Der Versuch der beiden Stadträte, die Diskussion der Bürger zu dominieren und die Arbeit der AG zu kritisieren, stand dabei in keinem Verhältnis zum Ansinnen des Tagungsordnungspunktes und löste in der Runde der AG-Mitglieder Erstaunen, Ärger und Widerstand aus.
Das ging damit los, dass man die AG-Mitglieder zur persönlichen Vorstellung der eigenen Niederschriften drängen wollte, obwohl sich die AG für ein anderes Verfahren entschieden hatte. Desweiteren offenbarte Lutz Liebscher seine offensichtliche Unkenntnis des neuen Regelwerks des Bürgerhaushalts und beschwerte sich darüber, dass er nicht mit abstimmen durfte. ((Eine entsprechende Passage im Regelwerk sieht vor, dass an den Abstimmungen der AG nur teilnehmen kann, wer in den letzten 6 Sitzungen mindestens 3x anwesend war.)) Es wurde außerdem lautstark eingefordert, die AG möge doch in den Abstimmungen die Bürger auch darüber befragen, welche zukünftigen Themen der Bürgerhaushalt aufgreifen soll. Dumm nur, dass in diesem Jahr auf dem Abstimmungsbogen unter Pkt. 6 genau diese Frage schon auftaucht. Gern hätte die AG etwas zur öffentlichen Unterstützung des Bürgerhaushalts durch Stadtrat, Fraktionen und Parteien gehört. Stattdessen forderten die beiden Stadträte vehement eine Verbesserung der Öffentlichkeitsarbeit der AG in den Ortsteilen. Schönes Ablenkungsmanöver. Der Hinweis der Sprecherin der AG Frau Knips, dass Kontakte zu einzelnen Ortsteilbürgermeistern im letzten Jahr nicht zum gewünschten Erfolg geführt hätten, wurde mit einem Angriff auf die Arbeit und Einstellung der beiden AG-Sprecher beantwortet, die angeblich den schwarzen Peter anderen zuschieben würden, anstelle bei sich selbst anzufangen. ((Es gibt sogar einen Ortsteilbürgermeister, der es sich schriftlich verbeten hat, von Informationen des Bürgerhaushalts belästigt zu werden!)) Genauso im Ton daneben griff Lutz Liebscher mich als Sitzungsleiter massiv an ("Leitest du noch die Sitzung oder schläfst du schon?"), nur weil er nicht sofort das Rederecht erhielt und stattdessen eine direkte Erwiderung auf die Meinungsäußerung einer Bürgerin vorgezogen worden war. Geduld und Respekt? Fehl am Platz. Man muss an dieser Stelle klar sagen, dass die AG einen anderen Stil pflegt und Diskussionen zwar nicht selten intensiv ablaufen, aber wohl nie derart grundlos aggressiv.
Spätestens an dieser Stelle kann sich jeder vorstellen, wie sich die bislang offene Diskussion in kürzester Zeit zu einem bloßen zweiseitigen Wortwechsel zwischen Politik und AG wandelte. Dabei sahen sich die Bürger plötzlich in einer Verteidigungs- und Rechtfertigungsposition, die nicht im geringsten sachdienlich war. Etwa beim Thema Rechenschaftslegung des Stadtrats. Ein Bürgerhaushalt macht schließlich nur dann Sinn, wenn die Ergebnisse der Beteiligungsverfahren auch ernstgenommen, öffentlich diskutiert und bei den Haushaltsberatungen und ‑beschlüssen im Stadtrat auch berücksichtigt werden. Vermutlich haben die meisten Stadträte noch nicht einmal mitbekommen, dass der Punkt Rechenschaftslegung ebenfalls Teil des neuen Regelwerks ist. Jedenfalls gibt es bislang keine diesbezügliche Äußerung oder gar Beschlussvorlage im Stadtrat. Warum also beispielsweise die Finanzierungsentscheidungen zum Kulturbetrieb in Jena im letzten Jahr so und nicht anders gefallen sind und wie dabei die Ergebnisse des Bürgerhaushalts 2011 Berücksichtigung fanden, kann sich der Bürger also bisher allenfalls selber zusammenreimen. Die Kommunalpolitik sieht dazu bisher keinen Anlass, sich zu äußern.
Schließlich wurden der AG noch die Leviten dahingehend gelesen, dass man doch viel mehr überregionale Veranstaltungen, Treffen und Bildungsangebote wahrnehmen solle. Abgesehen davon, dass Anfragen und Einladungen aus anderen Kommunen an den Jenaer Bürgerhaushalt fast andauernd von der AG Sprecherin Frau Knips und weiteren aktiven Bürgern der AG beantwortet und wahrgenommen werden und zwar ehrenamtlich, in ihrer Freizeit und nicht selten durch Einsatz eigener Urlaubstage — wie sich Lutz Liebscher diese — sicher von allen Aktiven gewünschte — Vernetzung vorstellt, konnte man gleich im Anschluss registrieren. Ein "Netzwerktreffen" mit wissenschaftlichen Koryphäen — und natürlich der Teilnahme von Herrn Liebscher — ist nämlich schon angedacht. Die Bürger der AG spielen dabei die Rolle der Statisten. Sobald Weiteres zur Veranstaltung bekannt wäre, würde die AG schon eine Information dazu bekommen — war zu vernehmen. Wie so oft muss man leider bemerken, dass Bürgerbeteiligung ohne die Bürger zu beteiligen nur schlecht funktioniert, erstrecht wenn sie nur zum Zwecke der eigenen Profilierung — oder gar des bevorstehenden Wahlkampfes? — betrieben wird.
Die Negativbeispiele ließen sich fortsetzen, aber nicht alles ist mir in Erinnerung geblieben — außer natürlich mein Ärger darüber, wie man sich als nicht gerade unbekannte Kommunalpolitiker einen derartigen Fehlauftritt erlauben kann. Es ist leider zu befürchten, dass sich nicht wenige AG-Mitglieder, die ja ihre Freizeit dafür opfern, dass partizipative Demokratie und Bürgerbeteiligung in dieser Stadt weiter entwickelt werden, nun eher abgeschreckt fühlen. Das Gegenteil hätte der Fall sein müssen.
Wie man mit Bürgern ins Gespräch kommt und wie man konstruktive Vorschläge macht, ohne von der Position des Besserwissenden herab daherzukommen, wurde übrigens ganz ausgezeichnet von Herrn Ferge, seines Zeichens Ortsteilbürgermeister von Jena-Nord, demonstriert. Seine Redebeiträge, nicht zuletzt aber seine pragmatischen Angebote die Sache des Bürgerhaushalts in seinem Ortsteil zu unterstützen, rief schließlich zu Recht Applaus in der AG hervor.
So kann es halt auch gehen, wenn man sich mal Mühe gibt.
Was mir an diesem Abend wieder klar geworden ist: Der Jenaer Bürgerhaushalt macht nach wie vor eine sehr gute Arbeit und wird nicht ohne Grund von vielen anderen Kommunen als Vorbild betrachtet — nicht zuletzt aufgrund des persönlichen Einsatzes der Bürger, die jedes Jahr die Beteiligungsverfahren fortführen. Er krankt jedoch vorrangig und weiterhin an der fehlenden moralischen Unterstützung des Stadtrats und der Kommunalpolitik. Dabei müssen nicht immer ein ausreichendes Budget oder aufwändige Diskussionsportale im Internet im Mittelpunkt stehen (aber selbst die sind in anderen Städten selbstverständlich), es würde schon ein Quentchen Stolz und eine öffentlich spürbare Portion Solidarität mit dem Ansinnen des Bürgerhaushalts wahre Wunder bewirken. Jena liebt ja die hübschen Titel, aber auch in dieser Hinsicht ist die "Stadt für Fortgeschrittene" von einem tatsächlichen Fortschritt weit entfernt.
Wenn also in absehbarer Zeit im Stadtrat die neuen Ergebnisse des Bürgerhaushalts präsentiert und diskutiert werden und die allbekannten Ressentiments vom Rednerpult tönen ((So wurde beispielsweise letztes Jahr gefordert, das Budget für den Bürgerhaushalt doch lieber an kleine Sportvereine zu verteilen.)), dann bin ich sehr gespannt, ob ein Lutz Liebscher oder Denis Peisker aufstehen werden und mit der gleichen Aggressivität die Sache des Bürgerhaushalts verteidigen.
- Regelwerk des Bürgerhaushalts Jena
- Beteiligungsverfahren 2012 "KITA-Gebühren in Jena"
- Haushaltsbroschüre 2012 (Link folgt noch)