Das große Saubermachen (Teil 1)
"Kaum verloren wir das Ziel aus den Augen, verdoppelten wir unsere Anstrengungen." (Mark Twain)
Dies wird eine Glosse, obwohl das was gerade passiert bzw. noch passieren wird, gar nicht mehr so witzig ist.
Nein Moment, Leute, fangen wir nochmal von vorn an. Dies wird ein Rant und ein bitterböser obendrein. Ja, so klingt das schon deutlich besser. Es soll keine/r sagen, sie/er wäre vorher nicht gewarnt worden.
Das große Saubermachen hat begonnen. Die Saubermänner und ‑frauen sind auf dem Vormarsch. Wenn man etwas Dubioses vor hat, schiebt man am besten immer Kinder vor, fällt euch das auch auf? Niemand will Kindern etwas Böses (naja, zumindest tun alle so), weswegen man so schlecht nein sagen kann. So war das bei den Internetsperren und jetzt müssen für die anstehenden Bereinigungskampagnen als erstes die Kinderbücher herhalten. Deswegen muss der Negerkönig weg, der Mohr auch und die Zigeuner [1] sowieso. Und aus den 10 kleinen Negerlein werden Schornsteinfegerlein. Nun ja, das sind immer noch Schwarze, irgendwie hat man bei der Bereinigung da was übersehen. Schwarz war mal eine Zeit lang auch kein guter Begriff zur Bezeichnung eines Menschen mit dunkler Hautfarbe, weswegen man auf farbig verfiel. Unter farbig versteht man nun im Deutschen gewiss etwas völlig anderes, was zu einem Unbehagen bei der Verwendung dieses Begriffs führt. Schließlich ist es bestimmt ebenso rassistisch, wenn man sich im sprachlichen Gegensatz zu farblos jetzt Afrikaner blau, gelb und grün vorstellt. Bunt ist dementsprechend noch weniger geeignet. Der Realität am nächsten käme braun, aber braun in Deutschland? Daher erscheint nun doch wieder schwarz, lat. niger, spanisch negro, als politisch korrekter, dieses Mal natürlich ohne jeden kolonial-rassistischen Anklang, den man ... ähm ... rausfiltert oder beiseite lässt ... irgendwie.
Mit dem Tilgen böser Wörter tilgt man auch alle Ressentiments. Scheint man zumindest zu glauben. Das ist genauso intelligent wie davon überzeugt zu sein, dass Männer mit weißen Hemden automatisch moralisch integer sind. Und ein Abgeordneter in Krawatte und Anzug unbestechlich. Als die Kirche im Mittelalter das Fluchen — eine wunderbare Erfindung der menschlichen Sprache — verbieten wollte, fluchten die Menschen halt mit frommen Wörtern: Herrgottssakrament zum Beispiel. Damit war der Euphemismus geboren und ab sofort konnte man seinen verhassten Lehnsherren mit Allerwertester ansprechen und jeder wusste doch, dass damit ein Arsch gemeint war. In letzter Konsequenz gab es dann nur noch das Nichtbezeichnen, etwa wenn der Teufel in Sagen als "Der, dessen Namen man nicht nennt" vorkommt. Neger könnten wir daher durch "Mensch mit einer nicht näher bezeichneten Hautfarbe" ersetzen und den Schwulen als "Mann, auf dessen sexuelle Vorliebe ich nicht näher eingehe". Wobei sich schwul vom Schimpfwort der absolut untersten Kategorie zur selbstbewussten und selbstverständlichen Eigenbenennung gewandelt hat. Komisch. Wenn man es frühzeitig aus dem Sprachgebrauch gestrichen hätte, wäre das nicht passiert.
Am politisch korrektesten wären eigentlich Bezeichnungen ohne jede Bedeutung, etwa wie beim Roboter R2D2 aus Star Wars. Wie ich neulich lesen musste, sind die Wörter "Frau" und "Mädel" schon so historisch belastet und sexistisch abwertend besetzt, dass man sie als Mensch, dem Diskriminierung fremd ist, kaum noch in den Mund nehmen kann. Wir sollten sie daher konsequenterweise aus dem Sprachschatz streichen und stattdessen beispielsweise R1 und R1.1 verwenden. Das Kinderbuch-Dilemma könnten wir damit lösen, dass wir sämtliche anrüchigen Wörter durch Platzhalter ersetzen, z.B. <...> Dann geraten wir nicht in Gefahr, dass im Grunde JEDER weiss, dass es sich beim Südseekönig eigentlich um einen verkappten Negerkönig handelt, der nur Südseekönig heißt, weil man einen R2D1 - Jessas Maria nochamoa - auf gar keinen Fall Neger nennt. Leuchtet ein, oder?
Begriffen kann man Deutungen und Bedeutungen einfach und beliebig zuschreiben. Sie sind nicht per se böse. Aber das wird zu kompliziert. Der erhobene Zeigefinger und die damit verbundene Moral sind viel einfacher zu vermitteln. Kindern erklärt man ja auch nicht lang und breit, warum sie ins Bett müssen und Erwachsene noch stundenlang weiter fernsehen oder warum über die Porno-DVDs im Nachtschrank der Eltern nicht gesprochen werden darf. Du darfst das nicht, reicht da völlig aus. "Halt den Mund" nimmt so eine völlig neue Bedeutung an. Bevor du ein politisch inkorrektes Wort in den Mund nimmst oder was Falsches sagst, sei lieber still. Frag nicht. Halts Maul. Sonst bekommst du Ärger. So oder so ähnlich stellt man sich doch aufgeklärte Pädagogik am Beginn des 21. Jahrhunderts vor. Die Vorstellung, man könnte Kindern mit Verboten, Sprachzensur und scheinheiliger Selbstgerechtigkeit die Tugend quasi wie eine Schluckimpfung einträufeln, stammt aus der Frömmelei des Protestantismus und seinen Bibelstunden und es mutet äußerst seltsam an, dass diese verquaste Bigotterie im Gewand der Antidiskriminierung fröhliche Urständ feiert.
Es ist euch doch klar, dass wir nicht bei Kinderbüchern Halt machen können, oder? So viele böse Wörter in sooo vielen rassistischen und diskriminierenden Schandwerken. Die deutsche Sprache ist ein Pfuhl der Untugend! Es ist darauf hingewiesen worden, dass selbst ein Max Frisch seinen Neger hat, jawohl! [2] Und Goethe, Schiller und Heine ihre Mohren. Scheiß auf die Klassiker. Wobei Scheiße sollte man nicht sagen, bisher noch eher unbelastet wäre Fäces. Und all die Krüppel, die man in tausenden von verachtungswürdigen Geschichten sich standhaft geweigert hat Anders Befähigte zu nennen. Und die Bastarde, Huren und Schweinepriester! Raus aus meiner Literatur! Und war nicht Dostojewskis "Idiot" vielleicht doch eher ein Praktisch Befähigter oder Seelenpflegebedürftiger Mensch? Und da haben wir uns ja noch nicht mal den Antisemitismus in all seinen Schattierungen vorgenommen. So wunderbare und anerkannte Werke der Weltliteratur wie beispielsweise die "Reise bis ans Ende der Nacht" eines Louis-Ferdinand Céline könnte man dann nicht mehr ungeändert in den Regalen stehen lassen. Es könnte sie jemand lesen wollen und zwar so, wie der Autor sie geschrieben hat! Schreckliche Vorstellung.
Toll, dass wir uns jetzt all dem stellen und unbefangen damit umgehen, sprich es bereinigen, können. So wird die Welt wieder ein Stückchen besser. [3]
Kann man nicht in Zeiten der elektronischen Datenverarbeitung einfach mal einen Suchen-Ersetzen-Algorithmus über die Weltliteratur laufen lassen und gut ist? So ein großes Saubermachen ist schön. Es ist dieses Ariel-Gefühl: nicht nur sauber, sondern rein. Da fühlt man sich gleich besser, auch wenn sich an der eigentlichen Realität nichts grundlegend ändert. Macht doch nix.
"Die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn" war mein mit Abstand liebstes Kinderbuch. Ich habe es Dutzende Male gelesen, wieder und wieder. Eines Tages beschloss ich selbst eine Geschichte zu schreiben. Ich kaufte mir ein liniertes Schulheft, legte los und begann feinsäuberlich Zeile für Zeile zu füllen. Als ich nach zehn Seiten merkte, dass ich einfach nur das erste Kapitel von "Tom Sawyer" nacherzählt hatte, gab ich beschämt auf. Wie konnte man selbst etwas schreiben wollen, wenn es schon so eine tolle Geschichte gab? Heute sehe ich ein, dieses Buch ist ein abscheuliches Machwerk, das geändert werden muss! Und zwar sofort. Niemand kann es verantworten, dass in einer Südstaaten-Geschichte ein Nigger namens Jim auftaucht. Und der Böse ein Indianer ist, nein ein Halbblut. Oder sagt man besser Mischling? [4] Die hätten doch in vergangenen Jahrhunderten schon wissen — na wenigstens ahnen — können, dass wir heute Rothäute und Indianer nicht mehr lesen wollen, Bleichgesichter natürlich auch nicht, aber das passt jetzt schlecht, weswegen wir es vernachlässigen. "Ein Native American, dessen Haut nur aufgrund der Kriegsbemalung eine rote Färbung angenommen hat, stürzte von einer Kugel getroffen vom Pferd." klingt doch auch gut. Und die preisgekrönte amerikanische Fernsehserie The Wire find ich jetzt auch nicht mehr so doll. Man sagt einfach nicht alle fünf Minuten Nigger oder Bitch oder Motherfucker oder Shit oder solche bösen Sachen. Selbst im kriminellen Drogenmilieu von Baltimore nicht. Das erklärt man den Dealern einmal in vernünftigem Ton und dann machen die das auch nicht mehr.
Also da gibt es einiges zu tun, packen wir es an. Lasst uns gemeinsam etwas Empörung ins Spiel bringen. Wenn wir sonst schon nichts sind, dann sind wir wenigstens empört. Und etwas, worüber man sich empören kann, findet sich immer. Die Wirklichkeit zu verändern ist immer schwierig und mühselig, ja gefährlich. Also lasst uns bei etwas Einfachem beginnen: unserer Sprache.
Für besonders schwierige Fälle — etwa wenn sich schwarze Rapper selbst Niggaz nennen, die Sinti-Allianz sich für den Gebrauch des Wortes Zigeuner ausspricht oder unter den Völkern rund um den Nordpol niemand so richtig weiß, wer oder was eigentlich ein Inuit sein soll — muss man unbedingt eine Enquete-Kommission einrichten. Kommissionen sind immer gut. Die Türen zu dieser Kommission können nicht groß genug sein, um alle Experten hineinzulassen. Bestimmt.
Die Bereinigung der deutschen Sprache von allen Schweinereien heben wir uns für einen zweiten Teil auf.
- Der Begriff Zigeuner hatte für mich von Kindheit an immer den Duft von Freiheit, Umherziehen, Abenteuer, schönen Frauen und Musik. Als ich — noch zu DDR-Zeiten — im rumänischen Sibiu erlebte, wie abwertend Rumäniendeutsche über Zigeuner als Nachbarn redeten, war ich überrascht und entsetzt. Man hätte mir schon als Kind erklären können, dass dieses Wort böse und diskriminierend ist. Dann wäre meine Überraschung und meine Entrüstung nicht so groß gewesen.[↩]
- http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/als_max_frisch_den_neger_doesen_sah/[↩]
- Wie man das Problem umgehen will, dass dann ein R3P1 vorbeigeht und alle wie bisher ihre dummen Witze reißen, ist mir noch nicht ganz klar, aber das kann man ja auch noch später angehen.[↩]
- Ich habe mir sagen lassen, dass die politisch korrekte Bezeichnung dieser Menschengruppe in Nordamerika Mixed Blood oder Interracial ist, aber das KANN nicht euer Ernst sein, oder? All diese düsteren Anklänge an unschöne Blut- und Rassenideologien, da muss sich schleunigst was ändern, Leute![↩]
6 thoughts on “Das große Saubermachen (Teil 1)”
Ich habe mich provozieren lassen:
http://heidrunjaenchen.wordpress.com/2013/02/06/der-mohr-hat-seine-schuldigkeit-getan/
Aber bei mir ist es dann doch die Glosse geworden.
Faszinierend wie geistesverwandt wir sind, liebe Heidrun. 😉
Vielen Dank für diesen Artikel.
Und mein Kompliment: selten so elegant geschriebene Blogartikel gelesen wie hier.