Alle tun es — nur Lehrer nicht!
Die deutschen Pädagogen sind empört, ja sogar "alarmiert". Nein, nicht über die desolate Finanzierung der Schulen und anderen Bildungseinrichtungen in diesem Land, auch nicht über fehlende Ausstattung, Computer, Lehrbücher und Anschauungsmaterialien. Erstrecht nicht über die katastrophale Toiletten-Situation in deutschen Schulen oder ungenießbares Schulessen. Noch nicht einmal über Politiker, die lieber 300 Millionen Euro in die Stasi-Großmachtphantasien des BND investieren statt in die Zukunft unserer Kinder. Was den Lehrern den Schlaf raubt und ihnen den moralinsauren Schweiß auf die Stirn treibt, sind die gefährlichen Abgründe der Online-Enzyklopädie Wikipedia.
In einer kürzlich veröffentlichten Stellungnahme hat nämlich der Deutsche Lehrerverband in der Wikipedia "Porno-Links" ausgemacht und sieht nun die seelische Gesundheit, Leib und Leben unserer Kinder in Gefahr. Bei genauerem Hinsehen greifen die immerfort Besorgten auf eine Recherche des "Bildungsmagazins" News4Teachers zurück, bei der in den verabscheuungswürdigen Untiefen des allzeit üblen Internets Erschreckendes entdeckt wurde. So bietet beispielsweise das Stichwort Ejakulation nicht nur eine ausführliche Erklärung des physiologischen Vorgangs, gesundheitliche Aspekte, Begriffsklärungen, Einzelnachweise und Weblinks an (Ooooh!!!), sondern zeigt das Ganze auch in einer Fotoserie (Gott!!!). Den Gipfel der Schamlosigkeit bildet jedoch ein Verweis auf eine Seite der Mediendatenbank Wikimedia Commons, die zum Stichwort unter anderem auch Videos bereithält (Nein!!!). Das kann man/frau/kind natürlich auch mit anderen Stichworten aus dem Bereich der genitalen Anatomie oder des menschlichen Sexualverhaltens ausprobieren und erhält so einen nicht immer hochqualitativen, aber doch repräsentativen, manchmal auch skurrilen Anschauungsunterricht zu diesen interessanten Dingen des Lebens.
Bei dem Gedanken, dass ein Artikel über die Vulva auch Vulvas zeigt, einer über den Anus munter diverse Popos abbildet und unter dem Stichwort Hentai auch wirklich Hentai zu finden ist, wird dem Lehrer nach deutschem Reinheitsgebot übel. Das konnte man so nun wirklich nicht erwarten. Stattdessen hätte man ja farbreduzierte Schemata, abstrahierte Strichzeichnungen oder Bienen, Schmetterlinge und Blütenstaub abbilden können. Dieses unter pädagogischen Gesichtspunkten absolute Fehlverhalten geißelt der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes Josef Kraus mit den Worten, es sei "höchste Zeit, dass Wikipedia als Ausweis vermeintlicher Schwarm-Intelligenz entzaubert wird".
Nun wissen wir ja — auch ohne Wikipedia -, dass es keine Tugend ist, die eigene Blödheit so weit heraushängen zu lassen, aber nichtsdestotrotz kann man aus derartig verzweifelten Protestnoten des Biedermeier-Bürgertums noch einiges lernen. Zum Beispiel, dass man das, was man selbst nicht versteht, am besten zum Bösen an sich erklärt. Da ist das Internet, das immer an allem schuld ist. Da sind frei zugängliche digitale Medien, aus denen man sich nach eigenem Gutdünken informieren kann, ohne einen Lehrer vorher fragen zu müssen. Da ist der Anspruch eines eifersüchtig gehüteten Bildungsmonopols, das es so schon lange nicht mehr gibt und vielleicht nie gegeben hat. Natürlich bekommen wir — wieder einmal — unter die Nase gerieben, dass Sex böse ist und einer gesunden Entwicklung abträglich und wie groß die Ignoranz gegenüber einem ganzen Stapel von Untersuchungen sein kann, die das Gegenteil nachweisen. Wir lernen etwas darüber, dass der mittelalterliche Sündenpfuhl der schmutzigen Leiblichkeit im 21. Jahrhundert ganz säkular und modern verpackt daherkommen kann. Wir lernen auch, dass Lehrer nur bedingt lernfähig sind. Nun ja, das ist keine Neuigkeit. Wir sind ja alle auf irgendeine Schule gegangen.
Schon vor 3000 Jahren haben die Menschen Abbildungen erigierter Phalli auf Felsplatten geritzt und eine der ersten figürlichen Werke überhaupt ist die Darstellung einer Frau mit großen Brüsten und einem prächtigen Schlitz. Der aus Stein geformte Phallus von Schelklingen ist 30000 Jahre alt. Abertausende von Generationen haben ihren eigenen Ausdruck von Sexualität und Lust gesucht und genossen, ihre eigene Art von Doktorspielen gespielt, Kinder gezeugt und Zeugungen verhütet, Liebesinstrumente angefertigt und jedwede denkbare Methode der Befriedigung in die Tat umgesetzt, beschrieben, erzählt, besungen oder abgebildet. Aber ihr kleinen erbärmlichen Lehrerlein des Jahres 2014 in eurem biederen Jammerverein wollt uns und unseren Kindern immer noch erzählen, was moralisch gerechtfertigt ist und was nicht. Dank Wikipedia kann sich nun jeder frei darüber informieren, was für ein wundervolles Organ eine weibliche Klitoris ist oder dass bereits männliche Föten Erektionen haben können. Die von euch schamvoll zurechtgebogenen, kleinen Vorsicht‑, Angst- und "Ich weiß was gut für dich ist"-Häppchen eures Sexualkunde-Unterrichts können da wohl leider nicht mithalten. Das ist nicht unsere Schuld und erstrecht nicht die unserer Kinder.
Lieber Josef Kraus, liebe Lehrer des Deutschen Lehrerverbandes. Wenn Sie mal wieder — selbstverständlich nur aus pädagogisch-kritischen Aspekten — sich über richtig üble Pornografie erzürnen wollen, dann müssen Sie nicht das Internet und schon gar nicht die brave Wikipedia bemühen. Stellen Sie sich einfach zu Hause im stillen Kämmerlein vor einen ausreichend großen Spiegel und lassen die Hose herunter.
Und wenn Sie mal wieder — neben Ihrer aufopferungsvollen Tätigkeit zur moralischen Formung unserer Kinder — ganz viel Zeit haben, dann bringen Sie sich doch bitte (bitte!) einfach auf den neuesten Stand in Sachen Sexualethik, Aufklärung, Medien, Informationstechnologie, digitales Zeitalter, Freizeitaktivitäten, sexuelle Spielarten, Buttplugs, Manga und Anime, Computerspiele, Social Media und zwei Dutzend weiteren Dingen, von denen Sie keinen blassen Schimmer haben und Kinder mittlerweile mehr verstehen als Sie.
Dafür schonmal meinen besten Dank. Setzen.
Interessant auch die Kommentare zum Thema:
http://www.heise.de/newsticker/foren/S‑Lehrerverband-erzuernt-ueber-Porno-Links-in-Wikipedia/forum-280594/list/
Ergänzung:
Herr Kraus scheint nicht ganz unbeleckt im Moralapostelspielen zu sein. Als CDU-Mann hat man da so seine Erfahrung.
siehe: http://www.heise.de/newsticker/foren/S‑DL-Praesident-Josef-Kraus-ist-ein-rechtskonservativer-Fundi-und-CDU-Politiker/forum-280594/msg-25310833/read/
One thought on “Alle tun es — nur Lehrer nicht!”
Es ist immer eine schmale Gratwanderung zwischen dem, was der Information eines Kindes/Teenagers dient und dem, was der negativen Beeinflussung durch "Informationsquellen" Vorschub leistet. Leider hat die Online-Enzyklopädie, an der "jeder" mitwirken kann, nicht das gehalten, was sie versprach.
"Jeder" kann "anonym" mitwirken und mit Hilfe von Spezeleswirschaft oder anderem Schnickschnack ALLES in das "Lexikon" einfügen.