Das Schuchardt-Phänomen
Einen Tag nach der Kommunalwahl fahre ich meinen täglichen Arbeitsweg von Lobeda ins Stadtzentrum — und reibe mir die Augen. Kann das möglich sein? Quasi über Nacht hat sich die Schwemme an Schuchardt-Plakaten, die in den letzten Wochen in fast unerträglicher Weise die ganze Stadt überzogen hat, in Nichts aufgelöst. Herr Schuchardt von der CDU ist wieder in die Bedeutungslosigkeit und das Nichtstun seines bisherigen Stadtratsdaseins zurückgekehrt. Der Spuk ist vorbei, man könnte auch von faulem Zauber sprechen.
Ich kenne Leute, die von seinem Konterfei geträumt haben. Einfach, weil es überall war. Ein Exzess der politischen Eitelkeit, sich selbst an allen Masten zu sehen, vieltausendfach, auf Großplakaten, in Anzeigen in Tageszeitungen — immer und überall das gleiche Foto. Wenn man als Partei richtig Kohle hat, geht das. Man beauftragt eine Agentur zur Herstellung des Plakats und eine andere zum Aufhängen. Man zückt die Geldbörse und schwuppdiwupp ist schon ein Tag nach der Wahl wieder alles verschwunden. Das ist so professionell und funktioniert so gut, dass gar nicht auffällt, dass Inhalte dabei nicht vorgesehen sind. Man prügelt einen Namen und ein (schlecht fotografiertes) Abbild eines Kopfes ins Unterbewußte der Wähler und wartet auf die Stimmen, die wie von selbst kommen — im Falle von Herrn Schuchardt waren es dieses Mal 6324. Warum Herr Schuchardt eigentlich mit so brachialer Gewalt in den Jenaer Stadtrat will und was er dort zu tun und zu bewegen gedenkt, erschliesst sich mir nicht. Denn auch in der vergangenen Amtsperiode ist er dort nicht in Erscheinung getreten. Er ist auch im Wahlkampf nicht in Erscheinung getreten — wenn man mal von der Seuche seines Konterfeis in der Stadt absieht.
Dieser Wahlkrieg fällt nur wenigen Menschen auf. Ich erinnere mich an eine Frau, die noch am Freitag vor der Wahl an den Stand der Piraten in der Jenaer Innenstadt kam und sich darüber beschwert hat, dass in Jena-Süd von den Piraten nichts zu sehen war, an den Masten nicht und in den Briefkästen nicht. Ich muss dabei auf einmal an den Film "Der letzte Samurai" denken, an dessen Ende die Krieger mit ihren Lanzen und Schwertern und dem aus der Mode gekommenen Ehrenkodex ganz unehrenhaft von automatischen Geschützen sauber aus der Ferne niedergemäht werden, bis keiner mehr übrig ist. So ähnlich ist es auch im Wahlkampf gegen die etablierten Parteien. Was hinter diesen Parteien steht oder in ihren Parteiprogrammen ist dabei nebensächlich. Es ist sogar nebensächlich, was auf den Plakaten steht (vorausgesetzt, es steht überhaupt etwas drauf). Wichtig ist nur, dass man sich die Materialschlacht leisten kann. Auf die Wahrnehmung des Wählers so vehement wie möglich draufzudreschen, ersetzt die politische Aussage.
Der Wahlkampf mit ungleichen Mitteln ist uns als kleiner Partei schwergefallen und hat nicht wenige unserer Aktivisten an den Rand der Erschöpfung getrieben. Jedes unserer Plakate ist von uns selbst entworfen, die Druckdatei dafür selbst hergestellt, in Druck gegeben, aufgeklebt und (mit Ausnahme der Kandidaten-Plakate) auch mit eigenen Händen aufgehangen worden. Alle ca. 28000 Piraten-Flyer wurden von einem Piraten selbst zu Fuß zu den Briefkästen dieser Stadt getragen und dort eingeworfen. Jede Zeile unseres Programms haben wir selbst erarbeitet, ausformuliert und basisdemokratisch abgestimmt. Unsere Wahlseite im Internet haben wir selbst gemacht und selbst mit Inhalten gefüllt. Unsere Kandidatenfotos sind von uns fotografiert und bearbeitet worden. Außerdem noch Wahlprüfsteine, Interviews, Podiumsdiskussionen, Infostände, Pressemitteilungen ...
Wird das vom Wähler honoriert? Natürlich nicht. Es wäre töricht, dass anzunehmen. Im Gegenteil, als Antwort auf unsere Briefkasten-Aktion ist mir nur die Kritik eines Bürgers im Gedächtnis geblieben, der sich darüber beschwerte, dass wir ihn trotz "Keine Werbung"-Aufkleber mit unserer Wahlinformation nicht verschont haben. Hätten wir alle "Keine Werbung"-Briefkästen weggelassen, wäre die Aktion sowieso sinnlos und der Aufwand für die Verteilung ins Unermessliche gewachsen und nicht mehr zu bewältigen gewesen. Vermutlich hätte es dann vehemente Beschwerden gegeben, warum wir keine Flyer verteilen und nicht präsent sind. So wie die großen Parteien das machen.
Ist das jetzt Wählerschelte? Nein, daran liegt mir nichts. Es ist nur ein etwas ernüchternder Blick auf politische Realitäten, die sich wohl so bald nicht ändern werden, egal wie sehr wir uns das auch wünschen. Die Piraten Jena sind mit 2 Kandidaten in den Stadtrat eingezogen und das ist ohne jeden Zweifel ein Erfolg. Wir hatten keine Scheinkandidaten wie den OB oder Dezernenten, die nur zum Stimmenfang auf Listen stehen, ohne ein Mandat in Betracht zu ziehen. Selbst wenn wir so bekannte Leute hätten aufstellen können, wären wir wohl nie auf den Gedanken gekommen das zu tun. Tja, der Ehrenkodex. Irgendwie dumm, oder? 11000 Stimmen für den OB, der separat gewählt schon im Stadtrat sitzt und daher gar nicht gewählt werden muss, sind das Geschützfeuer, unter dem jeder Ehrenkodex zusammenbricht. Zum Schluss gibt es strahlende Sieger und die Leichen der Verlierer werden weggeräumt. Nur das zählt. Pech, ihr Piraten. Ihr bringt's halt nicht.
In Kürze wird sicher irgendein Neunmalkluger öffentlich feststellen, dass sich seit dem Einzug der Piraten in den Jenaer Stadtrat gar nichts geändert hat und es daher mit den großen Idealen und Zielen der Piraten nicht weit her sein kann. Natürlich gibt es dafür logisch begründbare Ursachen, weil zwei ehrenamtlich tätige Menschen (die bisher sogar noch ohne Fraktionsstatus sind) gar nicht alle Ausschüsse besetzen können, weniger Rechte haben und gegen die Mehrheitswand der weiter fest im Sattel sitzenden Betonkoalition rennen werden. Macht nix, so genau will da keiner hinschauen. Es reicht zu sehen, dass sie kaum etwas bewirken, um den Daumen zu senken. Dass man als Wähler "den Neuen" nicht wirklich Vertrauen einräumen wollte und doch wieder dieselben Gesichter wie alle Wahlen zuvor gewählt hat, spielt dabei keine Rolle.
Ich habe alle Hochachtung vor unseren Leuten, die jetzt ihr Schwert gürten werden, um den aussichtslosen Kampf aufzunehmen. Das Schicksal von Idealisten ist meist ungewiss und von wenig Lorbeeren gekrönt. Ich bin absolut sicher, dass sie ihr Bestes tun werden. Vielleicht muss man mehr Geduld aufbringen und ich bin bekanntermaßen ein ungeduldiger Mensch. Vielleicht sollte man sich aber auch mal klarmachen, dass der Kampf mit ungleichen Mitteln nicht gewonnen werden kann. Nicht in diesem System, so wie er jetzt abläuft. Das ist schade, denn Veränderungen sind gut für ein System. Sie bedeuten Entwicklung und Fortschritt. Ein Jenaer Stadtrat, in dem sich nichts ändert, bedeutet auch für diese Stadt Stillstand. Das hat man schon in den letzten fünf Jahren gesehen und diese Tendenz wird sich weiter fortsetzen.
Vielleicht — diese Hoffnung kann man ja haben — wird dann bei der nächsten Wahl noch mehr Leuten ein Licht aufgehen, dass ein vieltausendfach in der Stadt präsentes Gesicht gar nichts aussagt und nichts bedeutet. Überhaupt gar nichts.
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