Das Blaue vom Himmel
Sechs Wochen vor der Thüringer Landtagswahl wird wieder exzessiv plakatiert, die Parteien auf Wählerfang. Ich fahre durch Jena und da ist er wieder, mein spezieller Freund — Prof. Dr. Dietmar Schuchardt (CDU) an jedem zweiten Mast. Unangenehm drängt sich etwas in meine Wahrnehmung, was dort eigentlich nicht mehr sein sollte: überdimensionales Plakat, albern himmelblauer Photoshop-Hintergrund, unverbindlich-nichtssagendes Gesicht in Saubermann-Manier. Nee, oder? Hat er wirklich dasselbe Foto wieder verwendet? Genau dasselbe Konterfei wie zur OB-Wahl vor zwei Jahren und wie im Mai zur Kommunalwahl erneut tausendfach an Jenaer Straßen? Das grenzt an Körperverletzung ... und damit meine ich nicht den Körper von Herrn Schuchardt.
Sehr viel Lust hatte er also nicht, etwas anders zu machen. Den grafischen Aufwand schätze ich auf ein paar Minuten. Zack, anderer Text in die Textebene, fertig. Den Schuchardt-Wählern muss nicht viel geboten werden, die sind vielleicht so anspruchslos. Denen reicht es, immer mal wieder das vertraute Gesicht vor die Nase gesetzt zu bekommen. So wie die Honecker-Bilder damals in jedem Klassenzimmer. Öde und bieder zwar, aber irgendwie auch vertraut. Inhalt oder gar politische Aussagen würden da nur stören. Naja, der "große Vorsitzende" halt, wie er in den Lichtstadt-News genannt wurde.
Immerhin erfahren wir doch etwas mehr über unseren Vorzeigepolitiker. Er möchte liebend gern "Für Sie in den Landtag". Das nehm ich ihm ab. Für irgendwas muss ja jedesmal dieses Fluten der Stadt mit seinen Plakaten gut sein. Aber "Für Sie" bedeutet auch für mich. Och nöö, Herr Schuchardt, was wollen Sie schon für mich im Landtag tun? Sich gegen den ausufernden Überwachungsstaat einsetzen? Konsequent Bürgerbeteiligung und partizipative Demokratie in Thüringen weiter entwickeln? Soziale Ungleichheit ausmerzen und die Kluft zwischen wenigen Reichen und der Mehrheit, die kaum weiß, wie sie über die Runden kommen soll, verringern? Konsequenten Landschafts- und Naturschutz betreiben? Für eine transparente, bürgerfreundliche und serviceorientierte Verwaltung sorgen? Wann und wo haben Sie denn die letzten Jahre auch nur eines dieser Themen vertreten und vorangebracht? Irgendwie muss ich da was verpasst haben. Also für mich in den Landtag, das wird schonmal nichts.
Wir erfahren überdies, dass Herr Schuchardt "Gut für Jena" ist. Erinnert an Tablettenwerbung gegen Sodbrennen. Selbst wenn, was hat das eigentlich mit dem Landtag von Thüringen zu tun? Gehört irgendwie zum guten Ton, sich für seine Heimatstadt einsetzen zu wollen, oder? So eine Art must have des Wahlgesülzes. Macht wahrscheinlich jeder. Zum Schluss haben wir einen wilden Haufen von Landtagsabgeordneten, die alle irgendwie Gut für Stadt/Dorf XYZ sind. Das bringt das Bundesland Thüringen bestimmt total weiter.
Wer gut für Jena ist, hat das in der Vergangenheit bestimmt schon bewiesen. Sonst käme ja niemand auf den Gedanken, so einen zu wählen. Herr Schuchardt sitzt bekanntermaßen seit 2009 im Jenaer Stadtrat, ist Kreisvorsitzender der CDU und hätte als Mitglied der regierenden Beton‑, ähm Stadtratskoalition aus CDU, SPD und Grünen reichlich Gelegenheit gehabt, Jena Gutes zu tun. Da hatte er ja schonmal richtig die Ärmel hochgekrempelt und zwar keine Maurerkellen in die Hand genommen, aber immerhin "Sieben Meilensteine für Jena" verkündet. Man muss kein Mathematiker sein, um mit einem kurzen Blick festzustellen, dass Jena von diesen Meilensteinen auch nach fünf Jahren regierender CDU noch immer meilenweit entfernt ist. Sogar, wie wir kürzlich erfahren mussten, von den soliden Finanzen. Immerhin hat er es in den letzten fünf Jahren Stadtrat geschafft, ganze 3 — in Worten drei — Themen zum Gegenstand von Anfragen zu machen. Respekt! Das lässt für den Landtag hoffen!
Dass Prof. Dr. Dietmar Schuchardt so richtig "Einer für uns" ist, kann man erst nach einem Blick ins Kommunalwahlprogramm seiner Partei verstehen. Dort finden sich so hehre Ziele wie "eine kommunale Strategie gegen Vandalismus, illegale Graffiti und Vermüllung gemeinsam mit Ordnungsamt und Polizei" zu entwickeln, "konsequent illegale Werbung durch Aufkleber und Plakate" zu ahnden und zu beseitigen (unter "Durchsetzung einer finanziellen Beteiligung der Verursacher" versteht sich) oder "Maßnahmen gegen aggressives Betteln, öffentlichen Alkohol- und Drogenmissbrauch und unwillkommene Musikdarbietungen, vor allem in der Innenstadt" zu ergreifen. Das ist toll, was der Herr Schuchardt da alles so für Jena auf die Beine stellen will! Der Gerechtigkeit halber muss erwähnt werden, dass der CDU kurz vor der Kommunalwahl noch eingefallen ist, eine neue Schwimmhalle in Jena bauen zu wollen. Komisch nur, dass man die CDU und ihren Superman bei der öffentlichen Diskussionsveranstaltung zum Thema am 10. April vergeblich gesucht hat. Waren bestimmt gerade alle unterwegs, um aggressive Bettler von den Jenaer Straßen zu vertreiben.
Da kann man nur dem richtig guten/bösen Kommentar von Lutz Prager von der TLZ zustimmen, der meinte: "Kreischef Dietmar Schuchardt säuft optisch auf seinen Plakaten komplett ab. Erinnert ein bisschen an seine erste Legislatur im Stadtrat." Aber vielleicht ist das Schwimmen auch schwierig, wenn man seinen sicher zeitraubenden und arbeitsintensiven beruflichen Schwerpunkt nicht in Jena, sondern in Leipzig hat.
Auf jeden Fall hat unser CDU-Spitzenkandidat im Juli schonmal einen spitzenmäßigen Landtagswahlkampf hingelegt. Unter den Wahlkampfterminen finden sich u.a. eine Fraktionssitzung, zwei Vorstandssitzungen, eine Stadtratssitzung, zwei Wahlkampfrunden und die Teilnahme an der Thüringenversammlung der CDU mit Frau Merkel. Einer von uns eben, der Herr Schuchardt. Sympathisch und total in unserer Mitte.
So, und nun rennt los und wählt um Gottes Willen den Schuchardt am 14. September endlich — egal wohin -, sonst lässt er sich auf seinem nächsten Plakat mit rosa Hintergrund und Tränen in den Augen fotografieren. Und das kann — beim besten Willen — dann niemand mehr ertragen und die Notaufnahme der Uniklinik wäre von der Übelkeitswelle in dieser Stadt einfach überfordert.
- Wie man Wahlen gewinnt — am Beispiel Jenas, Thüringer Blogzentrale
- Sehr geehrter Herr Moderow ..., Thüringer Blogzentrale
- Wer zahlt eigentlich für die Materialschlacht, Bastian Ebert
- Und täglich grüssen ..., Lutz Prager in der TLZ
- Erfolg ist relativ, Heidrun Jänchen