Religiöse und Agitatoren
Religionsfreiheit gehört zu den Grundpfeilern einer demokratischen Gesellschaft. In der neuen fanatischen Bemühtheit um Political Correctness und im immerwährenden Kampf gegen jede Form von Diskriminierung – was immer man auch darunter verstehen will – scheint jedoch das Wissen darum, dass es sich dabei um ein individuelles Recht handelt, verloren zu gehen. Keineswegs kann dieses Recht den Zugriff auf den Nächsten, bestimmte Minderheiten oder gar die gesamte Gesellschaft beinhalten. Es wäre absurd, um der Menschlichkeit und Freiheit willen religiösen Bewegungen das Recht einzuräumen, genau diese Freiheit einzuschränken oder gar abzuschaffen.
An dieser Stelle sind wir beim Thema der offenbar allerorten grassierenden Islamophobie. Phobien sind ja bekanntlich bis zur Krankheit manifestierte Ängste, die sich in zwanghaftem Verhalten äußern und nicht einfach so verschwinden, nur weil dies wünschenswert wäre. Es ist ganz schick geworden, dem ideologischen Gegner Unzurechnungsfähigkeit vorzuwerfen oder anzudichten. Es funktioniert auch ganz gut, weil niemand mit Leuten in Verbindung gebracht werden will, die nicht ganz richtig im Kopf sind. So behaupten die einen, dass Homo- oder Bisexualität eine Krankheit ist, die sogar heilbar wäre. Im Gegenzug bekommen diese verwirrten Leute das Stigma der Homophobie aufgedrückt. Zum Schluss sind beide Seiten irgendwie psychisch behandlungsbedürftig und die offensichtliche Unfähigkeit, sachliche Argumente auszutauschen, fällt dahinter nicht mehr so schlimm auf.
Jahrzehntelang galten verschleierte muslimische Frauen als Inbegriff diskriminierter Weiblichkeit, für deren Befreiung man guten Gewissens kämpfen kann, ja gelegentlich sogar – wie in Afghanistan – in den Krieg ziehen muss. Die Tatsache, dass nicht wenige dieser Frauen verschleiert sein wollen, wurde dabei ignoriert oder so uminterpretiert, als wären diese Frauen irgendwie vorgestrig und müssten einfach nur richtig aufgeklärt werden. Im Zuge des in Frankreich erlassenen Gesetzes, das als Burkaverbot Schlagzeilen machte, las ich kürzlich in einem Zeitungskommentar eines Verfassungsjuristen, dass es sich dabei eindeutig um Diskriminierung handelt und das Recht der Frauen, ihr Gesicht zu verhüllen, missachtet wird. Er postulierte ein "Recht, für sich zu sein" (1), allerdings mitten in der Öffentlichkeit. (Es scheint ungefähr das gleiche Recht zu sein, dass die Berliner Piratin und Europawahl-Kandidatin Anne Helm in Anspruch nahm, als sie mit verhülltem Gesicht die zivilen Kriegsopfer der Dresdner Bombennacht verhöhnte. Klar wollte sie vor laufender Kamera ganz für sich sein und als das nicht funktionierte, protestierte sie beleidigt für ihr Recht, anonym hanebüchenen Blödsinn treiben zu dürfen.) Beim Lesen des Kommentars musste ich unwillkürlich laut loslachen. Die Frau von heute, egal in welcher Gesellschaft sie lebt, entkommt nicht so leicht ihrem Opferstatus und hat sich gefälligst diskriminiert zu fühlen. Trägt sie in einer islamischen Gesellschaft eine Burka, so ist sie eine bedauernswerte und unterdrückte Frau, soll sie diese in der westlichen Gesellschaft ablegen, hat sie sich gleichfalls unterdrückt zu fühlen. Besonders wichtig erscheint mir an beiden Fällen nur, dass sie unglücklich ist und bleibt, damit die selbsternannten Tugendkrieger und Diskriminierungsgegner ihren Heiligen Krieg für die gute Sache führen können.
Nackte oder wenig bekleidete Körper sind – auch historisch gesehen – ein ganz selbstverständlicher Teil unserer Kultur und prägen in einem nicht geringen Maße die westliche Ästhetik. Die Frage ist doch, wem und aus welchem Grund wir gestatten sollten, daran zu rütteln. Den Islam an sich gibt es nicht, genauso wenig wie es die Juden oder das Christentum gibt. Daher existiert innerhalb dieser monotheistischen Hochreligionen ein weites Spektrum an Sichtweisen auf individuelle Freiheit, Enthüllung, Sexualität, Frauenrechte usw. Das wird einem schnell klar, wenn man den Islam der spanischen Mauren mit dem der neuen Kalifatskrieger vergleicht oder das katholische Christentum der Renaissance-Päpste mit dem der Pius-Brüderschaft. Das eigenartige neue Tugendgeschrei zielt jedoch völlig undifferenziert auf alles und jeden, der es wagt, Kräfte zu kritisieren oder in ihre Schranken zu weisen, die offenkundig den unmittelbaren Zugriff auf die freiheitliche Gesellschaft begehren. Dabei kann ich mir schlecht vorstellen, dass diese – meist im linken bis extrem linken Milieu angesiedelten – AktivistInnen, die quasi reflexhaft den Islamophobie-Vorwurf aus dem Ärmel holen, gern in Ländern wie Saudi-Arabien, Bahrain, Sudan, Ägypten, Iran, Irak oder Malaysia leben würden. Vermutlich hätten sie auch keine große Lust, sich der Scharia unterzuordnen, Boko Haram Gesetze machen zu lassen oder als Frau nur in Begleitung von Vater, Bruder oder Ehemann und in der Burka auf die Straße gehen zu dürfen. Sie würden sich überdies mit Sicherheit außerordentlich diskriminiert fühlen, wenn sie wegen eines Kusses auf offener Straße verhaftet würden.
Für mich und wohl die meisten anderen westlichen Menschen ist es unvorstellbar in einem orthodox-islamischen Land zu leben. Man kann dies Islamfeindlichkeit nennen oder eben Islamophobie, wenn man auf ideologisierte Buzzwords steht, man kann es aber auch als eine gesunde Abneigung gegen jedwede Form religiös-totalitärer Übermoral ansehen. Meiner Meinung nach ist es dabei gleichgültig, ob es sich nun um den Islam handelt, der mit seinen militanten Bestrebungen gerade weltweit besonders in Erscheinung tritt. Genauso wenig wünschen sich Europäer wieder in die Zeiten der christlichen Inquisition zurückzukehren. Es ist – wie so oft – einfach nur die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Es ist ebenso gleichgültig, dass es Millionen gemäßigte Muslime gibt, die kein Problem damit haben, sich in eine freie Gesellschaft zu integrieren. Aber es ist jedem vernünftigen Menschen klar, dass die Kritik nicht auf den Islam des freundlichen bosnischen Gemüsehändlers um die Ecke, der türkischen Studentin oder der Arbeitssklaven auf den WM-Baustellen in Katar zielt. Deren Art, die eigene Religion zu leben, tritt öffentlich und politisch kaum in Erscheinung und wehrt sich leider auch nicht gegen die ausufernde Menge an gefährlichen Radikalinskis in den eigenen Reihen.(2)
Seinem Wesen nach ist jeder Monotheismus unduldsam gegen gesellschaftliche Vielfalt, individuelle Freiheit, sexuelle Varianz und Toleranz andersartiger Lebensentwürfe. Ein kurzer Blick in die Geschichte, auch die europäische, genügt, um das zu beweisen. Das liegt einfach daran, dass jede dieser Religionen glaubt, die alleinseligmachende Wahrheit im Glauben an einen einzigen Gott gefunden zu haben. Neben diesem einen Gott darf es keine anderen Gottesbilder geben und jeder, der nicht an den wahren Gott glaubt, ist ein Ungläubiger, der missioniert oder – wenn er besonders widerspenstig ist – bekämpft werden muss. Ordne dich unter und du wirst erlöst. Ordnest du dich nicht unter, bist du der Freund des Teufels und der Feind. Aufgrund dieser verqueren Logik wurden Menschen im Mittelalter auf Scheiterhaufen bei lebendigem Leibe verbrannt, um ihre Seele zu retten.
Ähnlich verhält es sich mit dem penetranten Antisemitismus-Vorwurf gegenüber all jenen (und ich meine hier nicht notorische Neonazis), die ihrem Entsetzen über den andauernden Krieg des israelischen Staates gegen die Palästinenser Ausdruck verleihen. Merkwürdigerweise kämpfen Leute, die andere als Antisemiten und Nazis diffamieren, gern für die Rechte von Flüchtlingen, scheinen aber die unsägliche Not und das Leid in palästinensischen Flüchtlingslagern zu ignorieren. Man sieht halt immer nur das, was man gern sehen will. Mit der eher vielschichtigen, komplizierten und unbequemen Realität hat das wenig zu tun. Man empört sich um der Empörung willen und um das eigene Gewissen zu erleichtern. Diejenigen, für deren Rechte man angeblich kämpft, sind dabei nur Mittel zum Zweck.
Im Zusammenhang mit Protestaktionen und ‑camps sogenannter Refugees in Berlin erinnere ich mich an ein Interview mit einem Sprecher der betroffenen Migranten, das auf Deutschlandradio Kultur ausgestrahlt wurde. Dieser Mann erzählte – zu meinem größten Erstaunen –, dass die Flüchtlinge weder den Behördenvertretern noch den AktivistInnen vor Ort trauen würden und sich von beiden Seiten instrumentalisiert fühlen. Offenbar hatten die wenig ideologisierten Ausländer ein gutes Gespür dafür, dass es in diesem Kampf am wenigsten um sie ging. Natürlich hatte man hier ebenso eine passende Phobie parat, die als Rassismus-Vorwurf daherkommt und jedem um die Ohren gehauen wird, der nach dem Sinn von Protestcamps fragt, die bis zum Exzess und mit voller Aggressivität verteidigt werden, ohne Sinn, ohne sachliche Auseinandersetzung, ohne Ergebnisse, erstrecht nicht für die Menschen, deren Probleme gelöst werden sollen. Das Orwellsche „Krieg ist Frieden“ lässt grüßen.
An dieser Stelle schließt sich der Kreis. Die selbstgerechten Krieger der modernen Empöreria haben vieles gemeinsam mit den Gotteskriegern und Orthodoxen monotheistischer Religionen. Jenseits ihrer eigenen Ideologie und Weltsicht können sie kaum etwas anderes akzeptieren und wer ihrer „Wahrheit“ widerspricht, setzt sich Hetze, Häme, Angriffen und Verunglimpfungen aus. Von ihrem Krieg gegen vermeintliche oder tatsächliche Diskriminierungen profitieren nicht die Diskriminierten, sondern nur sie selbst. Und da wo gar keine Diskriminierungen existieren (die meisten Frauen fühlen sich z.B. überhaupt nicht diskriminiert), muss man darauf beharren, dass es sie trotzdem gibt. In Geschäftssprache formuliert könnte man sagen, ohne Werbung kein Profit. Eine Gesellschaft, die sich der Freiheit verpflichtet fühlt, muss sich gegen beide – radikale Religiöse und radikale Ideologen – zur Wehr setzen und sich nicht von Scheinheiligkeit und Pseudo-Antidiskriminierungsmoral einlullen lassen.
(1) Maximilian Steinbeis, Verpflichtet zur Geselligkeit, SZ vom 24.07.2014, http://www.sueddeutsche.de/kultur/debatte-um-vollverschleierung-zur-geselligkeit-verpflichtet‑1.2059875
(2) siehe dazu auch „Der moderate Islam ist irrelevant“, http://evidentist.wordpress.com/2014/07/29/der-moderate-islam-ist-irrelevant/