Die Angst vor den Bürgern
Nun liegt seit einigen Tagen die neue Koalitionsvereinbarung von CDU, SPD und Grünen für den Jenaer Stadtrat vor, die an vielen Stellen recht aufschlussreich ist. Ihre Aussagekraft bezieht die Vereinbarung allerdings weniger aus den formulierten Themen und politischen Zielen als aus dem, was zwischen den Zeilen so zu lesen ist. Abgesehen davon, dass man den Sinn einer "Koalition" auf der kommunalen Ebene einer Stadt von etwas mehr als 100000 Einwohnern aus vielen guten Gründen bezweifeln darf, zeigt sich an der Vereinbarung eher, was man in Jena nicht möchte.
Schauen wir uns beispielhaft das Kapitel XIV "Neue Wege der Bürgerbeteiligung" an. Es ist recht überschaubar, um nicht zu sagen kurz ausgefallen, was angesichts des gerade erst gefassten Stadtratsbeschlusses 14/0077-BV überrascht. In diesem weitreichenden Beschluss möchte die Stadtverwaltung, ausgehend vom Dezernat III Stadtentwicklung & Umwelt, in der nächsten Zeit einen umfassenden Prozess der Weiterentwicklung von Bürgerbeteiligung anstossen. Dazu gehören Vorhabenlisten für die Stadtentwicklung und die Eigenbetriebe, die Erarbeitung von Leitlinien zur Bürgerbeteiligung und einer Bürgerbeteiligungssatzung und standardisierte Beteiligungskonzepte und ‑instrumente. Die sehr lobenswerten Ambitionen der Stadtverwaltung finden bei den politischen Entscheidern der Koalition kaum einen Widerhall. Es ist lediglich vermerkt, dass man den partizipativen Prozess aktiv unterstützen will. Bei dieser mehr als allgemein gehaltenen Willensbekundung bleibt es. In den kommenden Monaten wird sich zeigen, wie die politische Unterstützung dann in der eher schnöden Realität der Jenaer Kommunalpolitik wirklich aussieht.
Der Kernsatz des Kapitels findet sich zu Beginn des zweiten (und gleichzeitig schon letzten) Absatzes:
"Wir wollen Bürgerbeteiligung als ergebnisoffenen Prozess in dem Bewusstsein gestalten, dass in einer repräsentativen Demokratie die gewählten Organe wie der Stadtrat und der Oberbürgermeister legitimiert sind, am Ende eines Beteiligungsprozesses die Entscheidung zu treffen."
Wenn man sonst schon nichts groß zum Thema Bürgerbeteiligung zu sagen hat, so wiegt die Bedeutung dieses einen Satzes um so schwerer. Aus ihm sprechen gleichermaßen Unsicherheit, Angst und Machtgehabe. Der Bürger soll sich keinen großen Illusionen hingeben, wer "der Herr im Hause" ist, nämlich die "gewählten Organe", keineswegs aber er. So als hätte es in den letzten Jahren und Jahrzehnten keinerlei Entwicklung in Sachen partizipativer und direkter Demokratie gegeben, rückt man die repräsentative Demokratie — und damit sich selbst — in den Mittelpunkt eines Abschnittes, in dem es eigentlich um Mitsprache und Mitbestimmung von Bürgern gehen soll. Die Angst geht um, vor einem Bürger, der mehr will als nur ein bisschen laut reden, der mehr will als hier und da eine Umfrage oder eine Meinungsäußerung in einer Bürgerversammlung. Die Angst geht um vor selbstbewussten Bürgern, die an Entscheidungen beteiligt werden möchten, die Rechenschaft einfordern gegenüber dem eigenen Votum, die eine transparente und nachvollziehbare Politik ohne Hinterzimmer wollen.
Man möchte schon — irgendwie — Bürger beteiligen, aber versichert sich lediglich der eigenen Entscheidungsgewalt, an der auf gar keinen Fall gerüttelt werden darf. Wer aber gar nicht gewillt ist, von seiner Macht ein Stück abzugeben, für den ist Bürgerbeteiligung lediglich ein hübsches Mäntelchen, in das man sich gelegentlich hüllen muss, um nicht als anachronistischer Polit-Dinosaurier zu gelten. Dass dies nicht funktionieren kann, hat sich in der Eichplatz-Debatte gezeigt und wird sich bei jedem weiteren Großprojekt in der Stadt wieder zeigen. Laut den Untersuchungen der Bertelsmann Stiftung wünschen sich 78 % der Bürger mehr direkte Beteiligung. In einer Studie aus dem "Kompetenzzentrum Öffentliche Wirtschaft, Infrastruktur und Daseinsvorsorge e.V." an der Universität Leipzig befürworteten dreiviertel der Befragten Protestaktionen gegen Vorhaben, die nach ihrer Meinung "ohne ausreichende Berücksichtigung der Bürgerinteressen umgesetzt werden sollen". Unsichere und ängstliche Politiker, die auf der einen Seite angeblich auf gleicher Augenhöhe mit dem Bürger kommunizieren wollen, ihm aber auf der anderen Seite als erstes demonstrieren, dass sie unantastbar in der Hierarchie über ihm stehen, werden es in Zukunft wohl sehr schwer haben.
Es scheint so, dass die allerorten konstatierte "Legitimationskrise politischer Entscheidungen, die sich aus der Diskrepanz von politischer und gesellschaftlicher Realität ergibt" ((Zitat aus besagter Studie des Kompetenzzentrums)) (abzulesen beispielsweise an den stetig sinkenden Wahlbeteiligungen oder der Ablehnung von Parteien) von unseren wackeren Koalitionären völlig ignoriert wird. Augen zu und durch. Das sagt nicht nur etwas über die Kompetenz beim Thema Bürgerbeteiligung aus, sondern auch über die angestrebte Ernsthaftigkeit bei der Etablierung von Prozessen, bei denen es um Teilhabe geht und nicht um die Selbstbestätigung der Macht. Die Kommunalpolitiker der Koalition ähneln autoritären Eltern, die am Familientisch den Kindern um des lieben Friedens willen ein bisschen Mitsprache vorgaukeln, aber hinter deren Rücken dann doch lieber alles allein entscheiden. Nun ist es sicher zu viel verlangt, hier von Parteien wie der CDU oder der SPD große Wunder zu erwarten. Dass sich allerdings die Grünen als selbsterklärter Motor für Beteiligungsprozesse in Deutschland nur allzu gern in dieses Theaterspiel hineinziehen lassen, ist — wieder einmal — enttäuschend.
Die ebenfalls im Kapitel zur Bürgerbeteiligung erwähnte "vertrauensvolle Verständigung" wird so ad absurdum geführt, bevor sie überhaupt begonnen wurde. Man kann niemandem vertrauen, der vorgibt mit einem reden zu wollen, aber eigentlich nur auf seiner eigenen Entscheidungsgewalt beharrt. Übrig bleibt dann nur leeres Gerede, dass der Wirklichkeit nicht standhält. Im Stadtrat hat das die Koalition bereits bewiesen, in dem sie einen Antrag, der zu mehr Transparenz bei Bürgeranfragen geführt hätte, ohne Begründung abgelehnt hat.
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