Die Stimme des Volkes
Warum Bürgerbeteiligung keine Umfrage ist
Am 1. September wurden im Rathaus in einer öffentlichen Veranstaltung — wie immer vor sehr überschaubarem Publikum — die Ergebnisse des diesjährigen Bürgerhaushalts vorgestellt. Mit dem Thema Entschuldung hatte die AG Bürgerhaushalt wieder einmal einen Nerv getroffen, mit immerhin 20% Rücklaufquote war das Interesse der Bürger recht groß. Auch das Votum ist beeindruckend: dreiviertel der Befragten sprechen sich gegen die Aufhebung des Neuverschuldungsverbots aus, ein klares Signal an die Kommunalpolitik. Was ich an dieser Stelle jedoch einmal diskutieren möchte, ist das Gespenst der Repräsentativität, das — wie schon im letzten Jahr — auch dieses Mal beständig durch die Präsentation und die Auswertung geistert. War die Befragung repräsentativ? Sind die Ergebnisse repräsentativ und wenn nein, warum nicht bzw. wie muss neu gewichtet werden, damit sie repräsentativ werden?
Wikipedia klärt uns auf, was unter Repräsentativität zu verstehen ist. Da nur eine begrenzte Zahl von Bürgern eine Broschüre mit dem Abstimmungsbogen erhält, muss die Auswahl dieser Teilmenge so erfolgen, dass die Ergebnisse Rückschlüsse auf die Meinung aller Bürger (die Verhältnisse in der sogenannten Grundgesamtheit) erlauben. Beim Bürgerhaushalt bilden alle wahlberechtigten Bürger zwischen 18 und 85 Jahren mit Hauptwohnsitz in Jena die Grundgesamtheit. Daraus werden per Zufallsverfahren prozentual anteilig wie in der Gesamtbevölkerung nach statistischen Bezirken, Alter und Geschlecht 15000 Bürger zur Befragung ausgewählt. Damit wird die Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen vermieden.
Auf der einen Seite ist es verständlich, dass auf Repräsentativität des Beteiligungsverfahrens Wert gelegt wird. Vermutlich schwingt dabei die Angst mit, die Ergebnisse könnten sonst von den politischen Entscheidern nicht ernstgenommen werden. Ganz augenscheinlich wird diese Problematik, wenn das Bürgervotum gewissen Intentionen der Politik widerspricht. Dann wäre fehlende Repräsentativität ein bequemes Argument, die unliebsame Meinung der Bürger vom Tisch zu wischen. Repräsentativität gibt dem Verfahren zudem einen Anstrich von Seriösität, Wissenschaftlichkeit und Professionalität. Auf der anderen Seite führt die Überbetonung von Repräsentativität meiner Meinung nach jedoch zu Folgeerscheinungen, die dem Bürgerbeteiligungsverfahren insgesamt nicht gut tun:
1. Bürgerbeteiligung wird mit einer Umfrage verwechselt
Wir kennen ja das Phänomen aus Wahlkampfzeiten. Meinungsforschungsinstitute führen eine Umfrage mit meist wenigen Beteiligten durch und schließen mit einer "Hochrechnung" auf die Meinung der Grundgesamtheit. Ein Bürgerhaushalt ist jedoch keine Umfrage, sondern ein Instrument der partizipativen Demokratie, sprich der Bürgerbeteiligung und ‑mitbestimmung. Umfragen können auf verschiedene Art und Weise durchgeführt werden, auch einfach nur in der Tageszeitung oder als eVoting auf einer Internetseite. Ein Bürgerhaushalt soll dagegen möglichst vielen Bürgern die Möglichkeit einräumen, sich mit ihrer Meinung an wichtigen finanziellen Entscheidungsprozessen der Kommune zu beteiligen. Wenn lediglich auf die Repräsentativität einer Befragung Wert gelegt wird, tritt dieser Aspekt in den Hintergrund. Es ist dann nicht mehr so wichtig, wieviele Bürger sich tatsächlich beteiligen konnten, Hauptsache Umfrage und Ergebnisse sind repräsentativ. Umfragen sind ein einfaches Mittel mit möglichst geringem Aufwand möglichst präzise Ergebnisse zu erzielen, d.h. zu Aussagen, Prognosen, Einschätzungen, Trends usw. zu kommen. Bürgerbeteiligung verfolgt ein völlig anderes Ziel. Ich würde es so formulieren: mit einem vertretbaren Aufwand die größtmögliche Zahl von Bürgern an Entscheidungsprozessen zu beteiligen und damit einen hohen Grad an demokratischer Mitbestimmung zu erreichen.
2. Politiker bewerten die Ergebnisse niedrig
Es ist ein gravierender Unterschied, ob man Ergebnisse eines Bürgerbeteiligungsverfahrens vorgelegt bekommt, mit denen etwas getan werden muss oder aus einer Umfrage/Befragung lediglich einen Trend der Bürgermeinung zur Kenntnis nehmen will. Im einen Fall wollen Bürger mitbestimmen, was in der Politik geschieht. Der Bürgerwille ist eine klare Aufforderung an die politischen Entscheider. Der Prozess verläuft von unten nach oben. Im anderen Fall schaut die Politik von oben nach unten in die Bürgerschaft, was denn die Leute so zu einem Thema denken. Im schlechtesten Fall schaut man überhaupt nicht hin. Eine Umfrage muss man ja nicht so ernst nehmen. Leider muss man konstatieren, dass in Jena eher Letzteres der Fall ist. Zwar wurde mit dem neuen Regelwerk des Bürgerhaushalts auch die Rechenschaftslegung mit beschlossen, der Stadtrat ignoriert aber nach wie vor seinen eigenen Beschluss und tut in dieser Hinsicht gar nichts. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass Politik und Verwaltung zwar damit einverstanden sind, dass die Bürger zu bestimmten Themen befragt werden, sie aber an den eigentlichen Entscheidungen nicht beteiligen wollen. Wie der Name schon sagt, ist aber genau das Sinn und Zweck von Bürgerbeteiligung.
3. Weniger statt mehr Befragte
Wenn Bürgerbeteiligung auf eine bloße Umfrage reduziert wird, muss man sich — wie wir gesehen haben — um Repräsentativität bemühen, weil man sonst Gefahr läuft, dass die Ergebnisse nicht ernstgenommen werden. Aus verschiedenen Gründen könnte man auf den Gedanken kommen, dass für eine ausreichende Repräsentativität gar nicht 15000 (oder mehr!) Befragte erforderlich sind, sondern weniger. Ein solcher Grund könnte z. B. das Geld sein, das erforderlich ist, um eine Befragung durchzuführen. Warum nicht ein bisschen sparen, wenn wir doch aufgrund der Repräsentativität auch bei einer kleineren Zahl von Befragten schon aussagefähige Ergebnisse erhalten? Da sind wir wieder bei den Meinungsforschungsinstituten. Die rufen 1000 Leute zu Hause an und verkünden dann stolz den aktuellen Trend zu einer bestimmten Frage oder sagen gar die Ergebnisse von demokratischen Wahlen voraus. Die Stichprobe ist denkbar gering, aber indem man nach gewissen Kriterien auswählt, sind die Ergebnisse ausreichend repräsentativ (oder auch nicht), um Verallgemeinerungen zuzulassen. Was für Umfragen und Trends sinnvoll und legitim ist, geht im Falle eines Bürgerbeteiligungsverfahrens in die falsche Richtung. Hier sollen möglichst viele Bürger sich beteiligen und mitbestimmen können. Die Mathematik sagt uns zwar, dass sich bei einer repräsentativen Umfrage die Ergebnisse wahrscheinlich nicht groß von denen einer kleineren Stichprobe unterscheiden werden. Ein Bürgerbeteiligungsverfahren gewinnt jedoch an Qualität, wenn sich in den Beteiligungsprozess eine große Anzahl von Bürgern einbringen können. Im Idealfall alle. Bei Wahlen käme ja auch niemand auf den Gedanken, nur eine kleine repräsentative Anzahl von Bürgern abstimmen zu lassen und die Ergebnisse auf alle Wahlberechtigten hochzurechnen. Können alle Bürger am Verfahren teilnehmen, stellt sich die Frage nach der Repräsentativität der Befragung nicht, Stichprobe und Grundgesamtheit sind identisch.
4. Online-Beteiligung ist weniger wert
Eine nur begrenzte Stichprobe (15000 Bürger, die Broschüren erhalten) führt dazu, dass man parallel nach anderen Möglichkeiten der Beteiligung sucht und da sind wir beim Internet. Es ist sehr einfach, über eine Internetseite und ein passendes Umfrage-Tool (im Falle des Bürgerhaushalts Jena wird LimeSurvey verwendet) eine solche Beteiligungsmöglichkeit bereit zu stellen und zwar allen Bürgern. So einfach und bequem die Online-Abstimmung ist, so problematisch ist sie auch. Nur mit sehr hohem Aufwand kann man die Manipulation des Abstimmungsergebnisses (etwa durch Mehrfachabstimmungen oder Hacking) verhindern. Je mehr Sicherheitsbarrieren allerdings eingebaut werden, umso höher ist die Beteiligungshürde für Bürger, erstrecht wenn diese auf den Schutz persönlicher Daten großen Wert legen. Beim Bürgerhaushalt Jena wird derzeit lediglich eine gültige Emailadresse abgefragt. Je angemeldeter Emailadresse ist nur eine Abstimmung möglich. Dabei wird schnell klar, dass die online erlangten Ergebnisse nicht repräsentativ sein können und zwar aus mehreren Gründen. Ich kann mehrere Email-Adressen nutzen, um als ein und dieselbe Person mehrfach abzustimmen. Ich kann auch als Bürger von Berlin, Rostock oder Moskau mit abstimmen. Ich kann die Emailadressen meines Partners oder meiner Kinder nutzen, um meiner eigenen Meinung mehr Gewicht zu verleihen und deren Meinung einfach unter den Tisch fallen lassen. Und da jeder online teilnehmen kann, ist die Stichprobe nur eine Zufallsstichprobe, die im Vergleich zur Grundgesamtheit nicht repräsentativ ist. So sind Männer technikaffiner und stimmen lieber online ab, was dazu führt, dass der Anteil der beteiligten Männer im Internet im Vergleich zu den Frauen höher (fast 70%) und damit nicht repräsentativ ist. Repräsentativ wäre in Jena ein Verhältnis von 49% Männer und 51% Frauen. Besonders prekär wird dieses Problem, wenn es um sehr emotionale Themen geht, so geschehen im letzten Jahr beim Bürgerbeteiligungsverfahren zum Thema Sportförderung. Hier liegt es nahe, die Befürworter eines gewünschten Ergebnisses zu mobilisieren, was die Repräsentativität jedoch stark verzerrt. Wenn sich die übergroße Mehrheit der FCC-Fans für eine Multifunktionsarena ausspricht, weiß ich immer noch nicht, wie der Rest der Bevölkerung darüber denkt.
Diese Probleme führen regelmäßig dazu, die Ergebnisse der Online-Abstimmung in der Auswertung zwar aufzuführen, mangels Repräsentativität in der Bewertung aber außen vor zu lassen. Das mag mathematisch-statistisch gesehen korrekt sein, im Sinne des Bürgerbeteiligungsverfahrens ist es fatal. Warum soll gerade meine Stimme weniger wert sein, nur weil ich im Internet abgestimmt habe? Warum darf ich zwar mit abstimmen, aber meine Meinung spielt dann hinterher trotzdem keine oder kaum eine Rolle? Und wird mich das in Zukunft motivieren, wieder online an einem Beteiligungsverfahren teilzunehmen?
5. Repräsentativität kann nicht vollständig sein
Die Repräsentativität einer Befragung, auf die sich Politiker so gern verlassen, kann aus logischen Gründen immer nur eine begrenzte Repräsentativität oder gar Pseudo-Repräsentativität sein. Wie wir gesehen haben, erfolgt die Auswahl der 15000 Befragten des Jenaer Bürgerhaushalts nach gewissen Kriterien. Weitere Parameter können in der Befragung selbst erhoben werden (im Falle des diesjährigen Bürgerhaushalts z. B. Alter, Geschlecht und Postleitzahl). Andere — möglicherweise sehr wichtige Parameter — werden jedoch außer Acht gelassen, entweder weil man sie nicht abfragen will oder weil sie erst nach der Befragung, im Zuge der Auswertung der Ergebnisse, als relevant erscheinen. Da es sich beim Bürgerhaushalt immer um finanzielle Belange handelt, wäre beispielsweise die Abfrage des Einkommens der Befragten oft sinnvoll. Verständlicherweise haben viele Bürger Bedenken, wenn es um sehr persönliche Daten geht, was möglicherweise zu einer geringeren Beteiligung führt oder Angaben nicht gemacht werden.
Bei den Ergebnissen des diesjährigen Bürgerhaushalts fiel z. B. auf, dass bei der Online-Abstimmung mehr Befragte bereit waren, einen bestimmten Obolus zur Entschuldung beizutragen (Antwort auf Frage 3: 69% online, 59% bei der Postrücksendung). Wenn man gleichzeitig weiß, dass sich vor allem Männer einer bestimmten Altersgruppe (30 — 49 J.) online beteiligen, dann könnte man behaupten, dass diese Personen deswegen so abstimmen, weil sie einer höheren Einkommensklasse angehören. Da das Einkommen aber nicht abgefragt wird, bleibt dies Spekulation. Repräsentativ ist an dieser Stelle schon lange nichts mehr, weil auf das verfügbare Einkommen oder Vermögen als Parameter kein Wert gelegt wurde. Je nach Thema der Befragung könnten auch andere Parameter wichtig sein und eine Rolle spielen, beispielsweise der Beruf, der Bildungsgrad, Freizeitverhalten, Familienstand, Kinderzahl usw. Das führt dazu, dass wir beim Bürgerhaushalt zwar eine nach PLZ, Alter und Geschlecht repräsentative Befragung durchführen, aber nicht wissen, ob wir beispielsweise vorrangig Akademiker oder Lehrer oder Leute mit einem bestimmten Einkommen befragen. In dieser Hinsicht ist die Befragung also überhaupt nicht repräsentativ und kann es auch gar nicht sein. Um größtmögliche Repräsentativität zu erreichen, müssten sich die Verhältnisse in der Grundgesamtheit so nah wie möglich auch in der gewählten Stichprobe widerspiegeln. Das erweist sich in der Realität aber als schwierig, wenn nicht gar unmöglich.
Hinzu kommt, dass es einen Unterschied gibt zwischen der Repräsentativität der Befragung (wen wählen wir als Stichprobe aus?) und der Repräsentativität der Ergebnisse (wer antwortet und wie verändert sich die Stichprobe dadurch?). Letztere kann von der Stichprobe unter Umständen deutlich abweichen, sodass im nachhinein mit Gewichtungsfaktoren Anpassungen vorgenommen werden müssen.
Fazit
Bürgerbeteiligung ist ein partizipativer Prozess, der die Mitbestimmung der Bürger bei politischen Entscheidungsprozessen stärkt. Je mehr Bürger sich beteiligen können und von dieser Möglichkeit auch Gebrauch machen, um so besser. Diesen Prozess auf eine Umfrage zu reduzieren und lediglich darauf abzustellen, dass diese Umfrage so repräsentativ wie möglich ist, geht am Wesen von Bürgerbeteiligung vorbei. Obwohl Bürger aufgefordert werden, sich an Entscheidungen zu beteiligen, wird ihr Votum nicht ernstgenommen und lediglich als Umfrageergebnis betrachtet, das man zur Kenntnis nehmen kann — oder auch nicht. Die konkrete Rechenschaftslegung gegenüber den Bürgern wird für nicht erforderlich gehalten und vermieden. Der Stadtrat betrachtet sich nach wie vor als alleiniger Entscheider und möchte diese Entscheidungshoheit auch in Teilen nur ungern an die Bürger abgeben.
Das Dilemma, in dem wir uns befinden, sollte diskutiert und Auswege gesucht werden. Möglich wäre beispielsweise ganz auf die Online-Befragung zu verzichten und dafür die Zahl der verschickten Broschüren merklich zu erhöhen. Nach wie vor wäre jedoch die ideale Lösung für die geschilderten Probleme, grundsätzlich allen (oder wenigstens allen wahlberechtigten) Bürgern die Möglichkeit einzuräumen, sich am Bürgerhaushalt zu beteiligen. Dann wäre die "Stichprobe" mit der Grundgesamtheit identisch und das Problem der Repräsentativität würde sich zumindest in der Auswahl der Befragten nicht stellen. Es wäre auch klar, dass es sich dann um ein Entscheidungsinstrument der Bürgerschaft handelt und nicht nur um eine beliebige Umfrage. Das Votum aus einem solchen Verfahren zu ignorieren, würde politischen Entscheidern sehr schwer fallen. Anders als der Bürgerwille zu handeln, kann im Einzelfall gute Gründe haben. Diese Gründe muss man ein paar Hundert oder Tausend Befragten nicht erklären, der gesamten Bürgerschaft dagegen schon (öffentliche Rechenschaftslegung). Ein solches Verfahren kostet erheblich mehr Geld als es derzeit der Fall ist. Es obliegt den einzelnen politischen Parteien und Akteuren im Stadtrat zu erklären, wieviel ihnen Bürgerbeteiligung in unserer Stadt wert ist. Es obliegt aber auch den Bürgern, angebotene Instrumente der Bürgerbeteiligung zu nutzen, sich einzubringen und diejenigen politischen Kräfte — z. B. bei Wahlen — zu unterstützen, für die Bürgerbeteiligung und ‑mitbestimmung mehr ist als nur ein zeitgemäßes Mäntelchen, das einem gut zu Gesicht steht.
(Anmerkung: Obwohl der Verfasser Mitglied der AG Bürgerhaushalt ist, ist dieser Text keine offizielle Verlautbarung der AG, sondern lediglich eine Zusammenfassung persönlicher Gedanken zum Thema.)