
Der neue Johannisplatz
Schon im Mittelalter gehörte die sogenannte Johannisvorstadt zu den ältesten Stadtteilen von Jena. Liutdraha (Leutra), das später in der Johannisvorstadt aufging, wird in einem klösterlichen Register des 9. Jh. gleich neben Jani erwähnt. Ein vermutlich schon im 10. Jh. oder noch früher existenter, sehr bedeutsamer Handelsweg führte in West-Ost-Richtung verlaufend aus dem Mühltal kommend durch die Ober- oder Wagnergasse, das (1304 erstmalig urkundlich erwähnte) Johannistor, die Johannisgasse und Saalstraße hinunter zur Saalefurt. Wie der Name schon andeutet, saßen in der Wagnergasse die Handwerker, die sich um die Fuhrwerke kümmerten und eventuelle Schäden an Rädern, Achsen und Speichen ausbesserten. Bis heute haben Wagnergasse und Johannisplatz zusammen mit dem benachbarten Heinrichsberg einen urtümlichen historischen Charme bewahrt. Die großen schattenspendenden Bäume auf dem Platz, das alte Straßenpflaster, die gemütlichen Kneipen und geschichtsträchtigen Häuser, die Johanneskirche — die Jenaer und ihre Gäste lieben dieses einmalige, authentisch gebliebene Stadtviertel.
Die Stadtverwaltung Jena, allen voran Stadtarchitekt Dr. Matthias Lerm, kann diesen Emotionen offenbar nur wenig abgewinnen. Sie wollen die — sicher notwendige — Sanierung der Abwasserkanäle in der Wagnergasse mit einem grundhaften Ausbau und der Erneuerung des "Quartiersplatzes" verbinden. Ziel sei es dabei, die "Aufenthaltsqualität" und die "Nutzbarkeit des Platzes" erheblich zu verbessern. Bei der alltäglich bis in den Abend hinein gut gefüllten Wagnergasse kann man sich nur schwer vorstellen, dass die bisherige Aufenthaltsqualität so schlecht gewesen ist. Aber die Frage, ob denn überhaupt jemand diese "Verbesserungen" wünscht, wurde nie gestellt. Eine kürzlich dem Stadtentwicklungsausschuss vorgestellte Berichtsvorlage zur Entwurfsplanung sieht "die Zielstellung in einer einheitlichen Platzwirkung", was immer auch darunter zu verstehen ist. Zusätzlich zur Vereinheitlichung haben wir es auch mit einer Standardisierung zu tun, denn die "Grundelemente der Gestaltung sind dem Gestaltungshandbuch „Formatio Jenensis“ als Standard für die Gestaltung des öffentlichen Raumes entnommen." In diesem Handbuch lesen wir, dass "Eigenart" und "Charakter" des öffentlichen Raumes zunehmend "durch eine oft zu große Vielfalt an Materialien, Ausstattungs- und Gestaltungselementen" gestört wird. Wer sich hier warum und wie gestört fühlt, bleibt dahin gestellt. Dessenungeachtet möchte man sich "der Ausformung öffentlicher Straßen, Wege und Plätze nach einheitlichen Prinzipien" verschreiben und "bausteinartig Vorgaben für Profile, Materialien, Farben, Verlegearten und Qualitäten" formulieren. Wenn man das liest, wird es zumindest verständlicher, warum man Dinge nicht einfach so lassen kann wie sie sind, sondern der Einheitlichkeit, den Standards, Vorgaben und Bausteinen unterwerfen will. Der zwanghafte Normierungsdrang deutscher Beamter hat mal wieder zugeschlagen.
In der Wagnergasse und vor allem auf dem Johannisplatz stört eine ganze Menge. Ungünstige Oberflächenneigungen, schiefe Mauern, alte Treppen, sogar das Segmentbogenpflaster ist in den Augen des Stadtarchitekten ein Ärgernis. Er möchte es lieber in gerader Passeverlegung haben. "Die Treppen werden aus Betonblockstufen hergestellt, wobei die 1. und die letzte Stufe für Sehbehinderte einen entsprechend hohen Kontrast aufweisen. Die Stützmauern werden ebenfalls aus Beton, mit gestrahlter Oberfläche hergestellt." Moderne Standards so ohne Beton, das geht gar nicht. Grünflächen, Sträucher, unversiegelten Boden gibt es nicht.
Was auch nicht geht, ist die Verlegung eines Abwasserkanals ohne die fast komplette Zerstörung des Baumbestandes auf dem Johannisplatz. Derzeit stehen dort 9 Bäume (1 Birke, 1 Pyramideneiche und 7 Linden), die durch die Baumschutzsatzung der Stadt geschützt sind. Leider hat die Baumschutzsatzung einen ähnlichen Wert wie Klopapier, weswegen die Bäume letztendlich dann doch nicht geschützt sind. Im Zuge der Erneuerung werden 6 von ihnen gefällt. Bäume, die seit Jahrzehnten dort stehen und weitere Jahrzehnte dort hätten stehen können, ohne dass darüber jemand nachgedacht hätte, zeigen nun auf einmal gravierende Schwächen in ihrer "Standsicherheit", "nachlassende Vitalität" oder eine "mangelhaft ausgebildete Krone". Nach Einschätzung der Baumschutzkommission sind drei Bäume "unbedingt erhaltenswert" und die Linde südlich des Johannisplatzes 19⁄20 ist "prinzipiell erhaltenswert", weil sie "eine ausreichende Vitalität" aufweist. Man lehnte sich weit aus dem Fenster und forderte sogar, "die möglichen Maßnahmen anzuzeigen, die einen sinnvollen Erhalt des Baumes ermöglichen." Das war das falsche Ergebnis, sechs, setzen! Also wurde — dieses Mal durch ein externes Büro — nochmal neu begutachtet. Jetzt kann diese prinzipiell erhaltenswerte Linde auch weg. Immerhin plant man einige Bäumchen als Ersatz zu pflanzen. Alte Stadtbäume leisten einen unschätzbaren Beitrag zum Mikroklima der Stadt. Sie liefern Sauerstoff, binden Feinstaub und Schadstoffe, speichern Feuchtigkeit, kühlen ihre Umgebung, spenden Schatten. Gewinnt der Platz an "Aufenthaltsqualität", wenn sie verschwunden sind? In der erwähnten Sitzung des Stadtentwicklungsausschusses äußerte der grüne Ortsteilbürgermeister Philler sein Bedauern darüber, dass die Bäume gefällt werden müssten. Aber stattdessen würden ja "nachhaltige Bäume" gepflanzt. Was er in diesem Zusammenhang unter Nachhaltigkeit versteht, bleibt sicher sein Geheimnis. Zehn Punkte beim Bullshit-Bingo des politischen Alltagsgeschwätzes. Vor kurzem haben wir in der Innenstadt die Temperaturmarke von 40 °C überschritten und es ist zu befürchten, dass diese Extreme in der Zukunft eher häufiger auftreten. Man kann also den Platz unter Gastronomie-Schirmen begraben oder in der sengenden Hitze neben gestrahlten Betonmauern sitzen. Schön, dass wir Gestaltungsstandards haben. Alte Bäume mit Vitalitätsschwächen sind da nicht vorgesehen.
Warum muss das eigentlich alles so ablaufen? Wer genau will das überhaupt? Kann man mit modernen Baumethoden nicht einen Abwasserkanal erneuern, ohne einen ganzen Platz inklusive sämtlicher dort stehender Bäume in Mitleidenschaft zu ziehen? Derartige Fragen scheinen leider keine große Rolle gespielt zu haben. Die Träume des Stadtarchitekten von der "einheitlichen Platzwirkung" waren offensichtlich wichtiger. Außerdem wichtig waren schonmal die Auswahl der Sitzbänke (Modell Kombial FL 30 Pag) und 18 Fahrradanlehnbügel nebst Baumschutzbügel zum Abstellen weiterer Fahrräder. Na, wenn das kein Trost ist. Dutzende abgestellte Fahrräder sind für einen Platz sicher ein ganz großer Pluspunkt für die Aufenthaltsqualität.
Es soll hier nicht der falsche Eindruck vermittelt werden, dass Wagnergasse und Johannisplatz nach den Baumaßnahmen schlecht saniert wären oder man gar von Baumängeln ausgehen müsse. Nein, sicher wird hinterher alles toll, neu und in Ordnung sein. Mit dieser "Ordnung" wird jedoch auch die Wagnergasse und der Johannisplatz, wie wir sie kennen und wie sie über die Jahrhunderte gewachsen sind, ein für allemal der Vergangenheit angehören. Worin bestehen denn der Charme und der spezielle liebenswerte Charakter von solchen historischen Straßen und Plätzen? Was ist denn das Anziehende für Menschen, die sich dort gern aufhalten? Sind es nicht genau das Alter, die Unvollkommenheit, die fehlende Normiertheit, der nagende Zahn der Zeit, der Riß in der glattgebügelten modernen Einheitsrealität, die immer und überall gleich aussieht, egal in welcher Stadt man sich gerade befindet? Ein archaischer Anklang jenseits von DIN-Vorschriften, begradigten Stützmauern und architektonischen "Korrekturen"? Nicht der "Standard" begeistert uns und weckt Emotionen, sondern das Einmalige, das unverwechselbare Flair, die Atmosphäre, die es dort und nur dort gibt. Wie so oft in letzter Zeit in Jena möchte man auch hier laut "Haltet ein!" rufen, bevor ein solch unersetzlicher Verlust eingetreten ist. Ich befürchte nur, dass es da niemanden gibt, der ihn hören will.
4 thoughts on “Der neue Johannisplatz”
Romantiker!
Kann sein. Ich weiß allerdings nicht, ob es etwas mit Romantik zu tun hat, wenn man nicht immer alles nur unter rationalen Erwägungen betrachten will (Nutzen, Kosten, Altes muss durch Neues ersetzt werden usw.), sondern auch mal unter ideellen Gesichtspunkten. Auch ein ideeller Wert kann unermesslich sein und durch ein paar neben her getroffene Entscheidungen einfach so vernichtet werden.