
Moderne Kunst
Banause ist ein schönes, leider nicht mehr oft gebrauchtes Wort. Man kann Kunstbanause sein oder auch allgemeiner ein Kulturbanause. Obwohl ich mich bisher für durchaus kunstinteressiert hielt, erwischte mich das Kunstbanausentum hinterrücks und ohne Vorwarnung im Serralves-Museum für Zeitgenössische Kunst in Porto. Mein Reiseführer meint, bei diesem Museum würde es sich um ein "Kulturzentrum von internationalem Format" handeln, also machte ich mich auf den Weg. Entlang der trostlos langweiligen Avenida da Boavista (die besagter Reiseführer für mondän hält) laufe ich mir bei brütender Hitze die Hacken wund. Dies ist durchaus so gewollt, denn ich habe den ganzen Tag Zeit und zu Fuß nimmt man seine Umgebung intensiver wahr. Das Museumsgebäude wurde Ende der Neunziger Jahre in den weitläufigen Landschaftspark der Casa Serralves implantiert. Der Park und die Casa im Art-déco-Stil waren vor gut 100 Jahren als Sommerresidenz im Auftrag eines reichen Portuenser Textilfabrikanten errichtet worden und sind bestimmt sehenswert. Leider — und das ist die erste Enttäuschung — sind beide an diesem Tag aufgrund der Vorbereitung einer öffentlichen Veranstaltung nicht zugänglich. Also widme ich mich dem Museum, das ein Werk des Stararchitekten Álvaro Siza Vieira ist und schlappe 27 Millionen Euro gekostet hat. Der Baustil ist minimalistisch, aber trotz einer Umrundung bleiben in meinem Gedächtnis nur ein paar weiße Mauern, die auch gut zu einer Klinik passen könnten.
Bei Stiftungen, die das Geld mit vollen Händen aus dem Fenster schmeißen, fällt mir die heimische Leuchtenburg wieder ein. Offenbar neigen solche Institutionen dazu, einen gewissen Größenwahn zu entwickeln. Der Eintrittspreis ist mit 8,50 Euro nicht hoch, aber für portugiesische Verhältnisse überdurchschnittlich. ((Eintrittspreise für Museen in Porto belaufen sich auf 3 — 4 Euro, Kinder und Jugendliche haben freien Eintritt. Manche Museen, wie etwa das Centro Português de Fotografia bieten auch freien Eintritt an.)) Bei so einer teuren Schatzkiste erwartet man auch einen entsprechend spektakulären Schatz. Die erste Halle des Museums empfängt mich mit einer Gruppe von elektrischen Kinderberuhigungsmaschinen aus Plastik, die allesamt vor sich hin wippen und schaukeln. Sie sind mit allerhand Klimbim verkleidet, was sie vermutlich aus einem japanischen Warenhausartikel in ein modernes Kunstwerk verwandelt. Ratlos stehe ich eine Weile davor, versuche die Intention des Künstlers zu verstehen und gebe es dann auf. Es folgen weitere Exponate "von internationalem Format", die in meinem — durchaus empfänglichen — Gemüt keinerlei Emotionen hervorrufen. Eine Gruppe von Grünpflanzen, deren Zweige sich beim Vorbeigehen leicht bewegen. Schnell entdeckt man, dass dies durch Bewegungssensoren und kleine Elektromotoren an der Decke bewerkstelligt wird, an denen die Zweige mit Nylonschnur festgebunden sind. Wie originell. Es geht weiter mit ein paar Meter durchsichtiger Kunststofffolie, die wellenförmig aufgefaltet an der Wand klebt. Vor lauter Verblüffung über diese Ansammlung von bedeutenden Werken der modernen Kunst, die eher einem Eltern-Bastelnachmittag aus einem örtlichen Kindergarten zu entstammen scheinen, vergesse ich sogar zu fotografieren.
An der Wand eine farbige Platte, darüber eine kleine Palme, die von einem Mini-Ventilator angeblasen wird. In einer Glasvitrine eine Aufbewahrungsbox für Kontaktlinsen neben einem Fläschen für Kontaktlinsenflüssigkeit. Fertig ist das Kunstwerk. Nicht auszudenken, wenn ich jetzt diese Vitrine öffnen und das Fläschen verrücken würde. Ist das jetzt Satire oder Ernst, Pop-Art, meditatives Sehen von Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs oder einfach nur blanker Bullshit? Ich furche ein wenig meine Stirn, der Widerhall in meinem bemühten Geist ist gleich Null. Null oder Nichts ist auch der Inhalt eines Kunstwerks aus der Serie Inertgase eines bestimmt wahnsinnig bekannten und geschätzten Künstlers. Es besteht aus einem weißen Karton in Plakatgröße. Darauf ist nichts zu sehen, kein Partikel Farbe, einfach nur leer. Nun ja, das ist zumindest irgendwie logisch, wenn es um die Darstellung eines Gases geht. Das ist ja schließlich auch unsichtbar.
Vor mir unter Glas endlich ein echter, originaler Joseph Beuys. Das Werk ist ein flaches Holzkästchen in etwa DIN-A4-Größe ohne Deckel und trägt den Namen Intuition. Angeblich hat der Künstler das Kästchen innen einfallsreich mit dem Wort Intuition und zwei Linien beschriftet, aber in diesem Moment entgeht mir dieses sicher wichtige Detail. Man steht nicht alle Tage vor einem einzigartigen Werk des Meisters der modernen Kunst, auch wenn es wie auf dem Sonntagvormittag-Flohmarkt erstanden aussieht. Im nachhinein stelle ich mit Hilfe von Google fest, dass es mit der Einzigartigkeit auch nicht weit her ist. Beuys hat diese Dinger in einer Auflage von 12000 Stück hergestellt und für je 8 Euro verscherbelt. Auf Auktionen zahlen Kunstliebhaber heute trotzdem schonmal zwischen 600 und 800 Euro dafür. Die Kästchen wurden zuerst genagelt, später nur noch getackert, ging wahrscheinlich schneller. Nageln fürs eigene Konto. Das nenne ich allerdings wirklich Intuition. Da muss man erstmal drauf kommen.
Ermüdend geht es weiter mit einer Ansammlung von Dingen, deren angeblich beeindruckende Ästhetik ich nicht verstehe. Vielleicht ist es nur konsequent, dass der Besucher des Museums die ganze Zeit von Lärm und Getöse umgeben ist. Eine ohrenbetäubende Mixtur aus Audiocollagen, verzerrten Klängen, Zwitschern und merkwürdig düsteren Schwingungen. Ohne dieses zusätzliche Überstülpen von derart anstrengenden Sinnesreizungen würden die Exponate vermutlich noch leerer und sinnloser wirken. Mir kommt eine Mutter mit einem Kleinkind im Wagen entgegen und ich frage mich unwillkürlich, welche Traumata dieses arme Kind durch die Kakophonie der Klänge gerade erleidet. Neben den Tönen gibt es auch noch verschiedene Videoinstallationen, meist wirre und/oder verfremdete Ineinanderblendungen von Filmschnipseln. Eine dieser Darbietungen ist extra in einem dunklen Raum untergebracht, vor dem Zugang der Hinweis, dass Inhalte des Werkes den Besucher schockieren könnten. Ich stehe, schaue und gebe es nach 10 min auf, irgendetwas zu entdecken, das mich aus dem Gleichgewicht bringen könnte. Alles ist einfach nur herzzerreißend langweilig.
Na klar, ich habe natürlich keine Ahnung von moderner Kunst. Stattdessen sinniere ich darüber nach, ob nicht 27 Millionen in einer Stadt, die hart am totalen Verfall vorbeigeschlittert ist und wo man die Armut der Bewohner an jeder Ecke vor Augen geführt bekommt, nicht anders besser angelegt gewesen wären. Um ein bisschen Plunder von kreativen Freizeit-Bastlern aufzubewahren, hätte doch auch eine Halle in einem Gewerbegebiet gereicht. Dort könnte sich dann die Kunstschickeria mit ihren Ausstellungskatalogen in den Händen versammeln, um geistreich über die genial minimalistische Ausführung des Wellblechdachs zu diskutieren.
Ich überlege außerdem, dass man in 500 Jahren mit sehr großer Wahrscheinlichkeit immer noch still und ergriffen vor einem van Gogh, Klimt, Monet, Böcklin, Picasso, Renoir, Cezanne, Munch, Liebermann und vielen weiteren bedeutsamen Werken stehen wird. Vor einer Glasvitrine mit Kontaktlinsen-Zubehör dagegen wohl kaum. Und selbst wenn wir jetzt mal ganz tapfer sind und so positiv wie möglich denken: kann ja sein, dass diese sogenannte moderne Kunst ironisieren, dekonstruieren, entmystifizieren, provozieren oder bagatellisieren will. Man verlässt ihren Standort und vergisst sie fast im selben Augenblick.
Ich beende meinen Museumsbesuch und gehe doch noch ein Stück in den zugänglichen Teil des Parks hinein. Vor einer Lichtung sitze ich auf einer Bank in der Sonne und schaue drei Rindern beim Grasen zu. So eine ländliche Idylle ist doch etwas Einfaches und Verständliches. Später lese ich, dass die Rinder auch eine Kunstinstallation und Teil der Ausstellung sind. Der Titel ist "For a new city".
Titelbild:
by Leon aus Taipeh (Quelle) / Lizenz: Creative Commons Attribution 2.0 Generic