
Das ganze Leid dieser Welt
"Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken."
Matthäus 11:28
"Ich dachte, ich trüge die ganze Welt auf meinem Rücken."
Christophorus
"Ich bin wie alle Menschen: Ich sehe die Welt so, wie ich sie gerne hätte, und nicht so, wie sie tatsächlich ist."
Paulo Coelho
"Was man will, wird nicht; was wird, will man nicht."
Japanisches Sprichwort
Dieser Planet ist ein unwirtlicher Ort. Schuld daran sind nicht die natürlichen Gegebenheiten, sondern die Menschen selbst, die sich gegenseitig das Leben schwer machen. Laut einem aktuellen Bericht des UNO-Kinderhilfswerks UNICEF sterben in jeder Minute 11 Kinder an Mangel- und Unterernährung, Krankheiten oder fehlendem Zugang zu sauberem Wasser. Tag für Tag. Das ist erschreckend und beschämend. Es wirft ein merkwürdiges Licht auf eine Gattung, die sich selbst für intelligent hält, aber es nicht mal schafft, den eigenen Nachwuchs zu schützen und zu versorgen. Aber es war all die vergangenen Jahre und Jahrzehnte so und den übergroßen Teil der Bewohner der kapitalistischen Wohlstandsgesellschaften hat es nicht die Bohne gejuckt. Als die Kriegs- und Embargopolitik der Amerikaner allein im Irak 500000 Kindern das Leben gekostet hat, rief diese Unmenschlichkeit nicht mal ein Sturm im Wasserglas hervor. Die heute so öffentlichkeitswirksam Empörten und Gerührten schwiegen und wählten brav die Parteien weiter, die den Wahnsinn unserer "Verbündeten" guthießen und unterstützten. Während also die sattsam bekannten Fotos Tausender klapperdürrer, vor sich hin sterbender afrikanischer Kinder keinen Hund hinterm Ofen hervorgelockt haben (erstrecht keinen Politiker), ist nun bei einem einzigen toten Jungen an einem Strand alles anders. Jetzt ist die Gelegenheit gekommen, für die eigenen Sünden zu büßen. Das Himmelreich der multikulturellen bunten Republik naht und verheißt nur Gutes.
Die angesichts des derzeitigen Flüchtlingsdramas eingeforderte Betroffenheits- oder "Willkommenskultur" täuscht nur schlecht darüber hinweg, dass die krassen Probleme dieser Welt mit Kuscheltieren in Bahnhofshallen nicht gelöst werden können. Wie so oft verbirgt sich hinter schönen Bildern von Solidarität und Selbstlosigkeit nur eine Mischung aus Scheinheiligkeit, Gewissensberuhigung und ideologischen Utopien, die auf ihre Realitätstauglichkeit nicht hinterfragt werden, ja nicht hinterfragt werden dürfen. Hinzu kommt die Instrumentalisierung des Leids fremder Menschen für den eigenen politischen Vorteil. Bestes Beispiel sind die Grünen, die sich regelrecht darin überschlagen, Menschen aus Ländern wie Afghanistan, Libyen, Irak oder Ex-Jugoslawien willkommen zu heißen, deren Zerstörung sie durch ihre eigene Kriegspolitik und ‑propaganda mit befördert haben. Es ist in diesen Wochen sehr leicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen, die weniger begeistert oder sogar eher kritisch eingestellt sind. Mit nur wenigen Sätzen kann man zeigen, dass man auf der richtigen Seite steht und zu den Guten gehört. Damit sonnt man sich in einer Moral, die man nie gehabt hat und versucht Kapital aus einer Situation zu schlagen, für die man selbst mit verantwortlich ist. Vielleicht sind ja deswegen die Töne so schrill und das Geifern so heftig, um ja nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, man hätte selbst irgendetwas damit zu tun.
Das trifft im Übrigen und bedauerlicherweise auch auf die Linken zu, die jeden als Mob, Pack oder Nazi beschimpfen, der in das allgemein-euphorische Wir-schaffen-das-Theater nicht einstimmen mag. Sie verschließen absichtlich die Augen vor der Tatsache, dass es auch in diesem reichen Land massenweise Leute gibt, die nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen, hoffnungslos und verarmt sind. Leute, für die so gut wie nie etwas Wesentliches getan wird, auch unter linken Landesregierungen nicht. Dabei ist das doch genau die gesellschaftlich längst abgeschriebene Klasse, für deren Befreiung die Linken einst angetreten waren. Doch statt sich für deren Rechte und Auskommen einzusetzen, führt man sie in den Medien als "Ewiggestrige" und Idioten vor und selbsternannte linke Intellektuelle übertreffen sich gegenseitig in der Verachtung des Lumpenproletariats. Aber leider hat noch nie jemand Claudia Roth oder Bodo Ramelow beim Anblick eines deutschen Obdachlosen weinen sehen, umso mehr aber vor laufenden Kameras beim Empfang von Flüchtlingen, die nicht selten mehrere Tausend Euro für mafiöse Schlepper ausgegeben haben, um in das vermeintliche Paradies zu gelangen. Die Inszenierung ist immer perfekt und selbst eine Angela Merkel, die sonst für Nichtstun und das unterwürfige Lecken des Ami-Hinterns bekannt ist, schafft es in diesen Tagen als Heldin gefeiert zu werden. Wer weiß, vielleicht haben aber auch nur ein paar Journalisten hochaufgelöste Merkel-Poster in die Hände einiger Flüchtlinge gedrückt. Gut für die Titelseiten. Es ist doch irgendwie schön und vermittelt ein tolles Gefühl, wenn sich Menschen aus aller Herrgottsländer auf Old Germany freuen, auch wenn sie dort nur in Zelten, Containern und Turnhallen hausen und ihnen niemand sagen kann, was sie hier eigentlich tun und mit welcher Perspektive sie hier eigentlich leben sollen. Aber nur nicht zu viele Fragen stellen. Das ist im fad zurechtgerührten Einheitsmeinungsbrei gefährlich. Erstrecht nicht die Frage, wieso die verlorene Heimat der Flüchtlinge so beklagenswert, deren ethnische Identität, Religion und Kultur so wichtig sein sollen, während man für die Kultur der Deutschen und deren nationale Identität nur Verachtung übrig hat, "Deutschland verrecke" skandiert und Hymnen auf den Volkstod singt, den deutschen Volkstod, versteht sich. Heimat hat in Deutschland den Ruch eines konservativen Anachronismus. Soetwas Überflüssiges kommt nur in Liedern von Bands wie Frei.Wild vor und muss sofort als braun und nationalistisch gegeißelt werden. Gleichzeitig ist es en vogue, über die zerstörte und verlassene Heimat der Flüchtlinge bittere Tränen der Betroffenheit zu vergießen und über die Integration in ihre neue Heimat zu fantasieren. No Borders, no Nations — die nützliche Brachialmixtur für die schöne neue, zwangsglobalisierte Welt, in der niemand mehr weiß, wo er eigentlich hingehört und sich alle gegenseitig fremd sind und die Hölle auf Erden bereiten. Teile und herrsche funktioniert immer noch prächtig.
Unser Grundgesetz sieht in Artikel 16 das Recht auf Asyl vor, hinzu kommt die Genfer Flüchtlingskonvention, ich glaube niemand will das in irgendeiner Form in Frage stellen. Die Deutschen sind selbst kriegsgebeutelt und zumindest die älteren Generationen wissen noch, wie es ist vertrieben zu werden und mit Kindern, Sack und Pack die Heimat verlassen zu müssen. Aber wer es noch nicht gemerkt hat, in diesem Text geht es ausnahmsweise mal nicht um Asylanten oder Flüchtlinge oder "Zuwanderer", wie sie neuerdings auch genannt werden. Es geht um die andere Seite der Medaille. In den letzten Jahrzehnten hat die Umverteilungsspirale von unten nach oben beängstigende Ausmaße angenommen. Nur eine marginale Minderheit rafft den Reichtum dieser Gesellschaft in ihren wenigen Händen zusammen, die Mehrheit ist ständig am Verlieren. Sie verliert nicht nur das mühsam erarbeitete Vermögen oder Eigentum, sie verliert auch an Selbstachtung, Würde und Lebensqualität. Sie wird ausgeplündert, bevormundet, schikaniert, ideologisiert, belogen und manipuliert. Bildung und Teilhabe wird für diese Mehrheit immer mehr zum Fremdwort und Jahr für Jahr werden die Mittel zusammengestrichen, die für Schulen, Lehrer, Kindergärten, Familien und soziale Projekte noch zur Verfügung stehen. Hass, Ressentiments und Menschenfeindlichkeit tragen selbstredend nichts zur Lösung der Probleme bei. Aber es ist schon auffällig, dass auch die Frage gleich mit verdammt wird, warum für Armutszuwanderer von heute auf morgen Milliarden locker gemacht werden, die in der Vergangenheit für sozial Bedürftige, Arbeitslose, unzumutbare Schultoiletten oder Jugendarbeit auf keinen Fall hätten zur Verfügung stehen können. Die Systemfrage soll ja niemand stellen. Und was ist eigentlich mit den Millionen von hungernden Indern, den Hunderten Millionen von Armen der chinesischen Unterschichten, den Bewohnern der lateinamerikanischen Slums, den Bitterarmen Vorderasiens? Sind das schlechtere Arme als die Opfer der imperialistischen Kriege und Interventionen? Wenn wir schon alle im Taumel der Begeisterung umarmen wollen, dann bitte schön auch die. Wieviele Millionen verkraftet ein Land, das im internationalen Vergleich immer noch als sozial vorbildlich gilt, auch wenn dies — relativ gesehen — schon lange nicht mehr der Wirklichkeit entspricht? Wieviele Millionen, bevor alles im Chaos versinkt und den Bach runtergeht? Und um welchen Preis und auf wessen Kosten? Die offensichtlichen Probleme werden jetzt schon klein geredet, ignoriert und totgeschwiegen. Was nicht sein darf, das nicht sein kann. Norwegen, Rotherham und Marxloh lassen grüßen. Welches Ausmaß an Totalitarismus und Gewalt daraus in Zukunft erwachsen kann, mag sich jeder selbst ausmalen.
Mächtige Akteure, die mit Nationen wie mit Schachfiguren spielen, die Unmengen jeder beliebigen Währung jeden Tag über den Erdball verschieben und damit das Schicksal von Millionen Menschen verzocken, die für Profite und Strategiespiele Kriege anzetteln und über Berge von Leichen gehen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken — diese Kräfte wollen mir und meinen Landsleuten gerade weismachen, dass wir das ganze Leid dieser Welt auf unseren Rücken tragen müssen. Sorry, wir sind schon blöd. Blöd genug, jeden Tag auf Arbeit zu gehen, um euren Reichtum zu mehren. Blöd genug still zu halten, selbst wenn es die Substanz unseres eigenen Lebens aufzehrt. Saublöd, wenn es um unsere Rechte, Teilhabe und Freiheit geht.
Aber so blöd nun auch wieder nicht.
Titelbild:
Atlas Turned to Stone (1882) by Edward Burne-Jones (Public Domain)