Zeitverschwendung
Die Stadt hat zum 2. Workshop "Leitlinien Mobilität in Jena 2030" eingeladen. Im Plenarsaal des Rathauses finden sich ca. 30 — 40 Leute ein. Natürlich sind Vertreter der Verwaltung und einige Stadträte anwesend, aber auch viele interessierte Bürger. Der Workshop ist Teil der Bürgerbeteiligung zur Erarbeitung neuer Leitlinien für zukünftige Mobilitäts- und Verkehrskonzepte in Jena.
Gleich zu Beginn werden drei Szenarien vorgestellt, denkbare Entwicklungsvarianten für Mobilitätsarten und Verkehrsmittel und damit verbundene Planungen:
Szenario 1: richtet sich "offen gegen vermeidbaren und substituierbaren motorisierten Individualverkehr" und möchte dessen Anteil am sogenannten Modal Split zugunsten der Verkehrsmittel des "Umweltverbundes" (Fußgänger‑, Rad- und Nahverkehr) reduzieren. Um genau zu sein, von 34 % zum jetzigen Zeitpunkt auf 25 %. Dabei wird der Fußgängerverkehr als höchstrangig betrachtet und Restriktionen insbesondere des ruhenden Verkehrs (= Parkplätze) in Kauf genommen (wahrscheinlicher: herbeigeführt). Es wird darauf hingewiesen, dass es sich bei diesem Szenario um den "aktuellen Stand der vorherrschenden Lehrmeinung in den Verkehrswissenschaften" handelt.
Szenario 2: ist mit "Interessenausgleich" überschrieben. Die Anteile des Modal Split sollen auch zukünftig unverändert bleiben. Irgendwie ist nicht so richtig klar, was hier zu tun oder zu lassen ist. Das Szenario beschreibt sozusagen die Vorgehensweise der letzten Jahre und Jahrzehnte. Es wird darauf hingewiesen, dass auf der Basis dieses Szenarios Planungen schwierig sind und laufend politische Einzelentscheidungen getroffen werden müssen, deren Aufwand und Mühseligkeit hoch ist.
Szenario 3: trägt den Titel "Laissez-faire" und soll merkwürdigerweise den Anteil des Autoverkehrs von derzeit 34 auf 40 % steigern, zu Lasten des Fußgänger- und Nahverkehrs. Warum das so sein sollte, erschliesst sich nicht. Die Verkehrsmittelanteile sollen grundsätzlich nicht durch Planungen beeinflusst, sondern dem "Spiel der Marktkräfte" überlassen werden. Ziele sollen sich auf die Beseitigung von Engpässen für den Kfz-Verkehr und die Verkehrsflußoptimierung beschränken.
Als nächstes tritt der "wissenschaftliche Beistand" der Verwaltung auf, ein Herr Dr. Wilde von der Goethe-Universität Frankfurt/M. Gleich zu Anfang gibt er freimütig zu, dass er in Frankfurt arbeitet und in Jena wohnt. Seine Aufgabe ist es — bevor auch nur ein einziger Satz in einer offenen Diskussion geäußert worden wäre — alle drei Szenarien wissenschaftlich zu bewerten. Heraus kommt ein leidenschaftliches Plädoyer für Szenario 1, alles andere ist für ihn völlig indiskutabel. Die Argumente sind teilweise etwas skurril, etwa dass Jena in Konkurrenz mit Hongkong und Tokyo attraktiv für die "wissenschaftliche Elite" sein muss. Attraktivität heißt für ihn autofreie Stadt. Mir ist klar, dass er sich selbst auch für einen Teil dieser Elite hält. Ob er bei seinen Mobilitätsvorstellungen auch an Familien, Arbeiter, Gewerbetreibende, Handwerker und Dienstleister denkt, die am Tag noch ein paar Wege mehr zu absolvieren haben als bis ins Büro, ist mir dagegen nicht klar.
Ich bin ehrlich gesagt perplex. Bevor auch nur ein einziger Bürger an diesem Abend auch nur ein Wort verlieren konnte, liegen schon alle Karten auf dem Tisch. Woran und wozu hier Bürger beteiligt werden sollen, weiß ich nicht. Einzig sinnvoll, modern, ideologisch gewünscht und wissenschaftlich gesichert ist Szenario 1. Szenario 2 kann man nicht mögen, weil wir es ja jetzt schon haben und die ganzen damit verbundenen Probleme der Verkehrsplanung in der Stadt. Szenario 3 ist faktisch das Gegenstück zur schönen heilen Fußgängerwelt und geht gar nicht. Wenn böse Autos rollen, dann muss man sich das faktisch so vorstellen, dass anachronistische Metallkisten die ganze Stadt blockieren und verpesten. Menschen sitzen da nicht drin und erstrecht nicht aus einem bestimmten Grund, weil die wollen ja lieber auf autobefreiten Straßen in Cafés sitzen und ihr Leben genießen.
Damit niemand auf den Gedanken kommt, diese vorkonfigurierte "Diskussionsgrundlage" in Frage stellen zu wollen, werden jetzt nur "Verständnisfragen" zugelassen. Mir fallen eigentlich nur zwei Fragen ein: erstens ob Dr. Wilde mit dem Fahrrad oder zu Fuß zwischen Jena und Frankfurt pendelt und zweitens, wozu eigentlich der 1. Workshop stattgefunden hat und was aus den dort diskutierten Thesen geworden ist. Mir kommt Prof. Beckstein von den Piraten zuvor, der fragt, was man denn jetzt an den vorbereiteten Tischen noch diskutieren solle, da doch schon alles erklärt, bewertet und vorgegeben wäre. Einen zweiten Versuch startet Dr. Nitzsche, der meint, dass man keines der drei Szenarien irgendwie ernsthaft in Erwägung ziehen könne. Er hat sich offenbar vorbereitet und möchte noch eine Abwandlung von Szenario 3 zur Diskussion stellen. Herr Wöckel fragt, ob er denn einer (so einseitigen, aber das sagt er diplomatisch wie er ist nicht) wissenschaftlichen Expertise vertrauen könne und nicht andere Experten anderer Meinung wären. Selbstverständlich sind sie das nicht.
Die Teilnehmer sollen sich nun an einzelne Tische umsetzen, um dort die vorformulierten Szenarien zu diskutieren. Jeder bekommt Punkte, die er am Ende des Abends auf die einzelnen Szenarien verteilen kann. Man möchte sehen, wo die Sympathien der Anwesenden liegen. Ich erinnere mich daran, dass wir auch beim ersten Workshop die vorformulierten Thesen nicht zerpflücken, sondern lediglich abstimmen sollten. Dazu dienten nicht Punkte, sondern Striche auf großformatigen Papieren, aber die Vorgehensweise war die gleiche. Im Bericht zum 1. Workshop ist von diesen Strichen keine Rede mehr, wahrscheinlich war man mit den Abstimmungsergebnissen nicht so zufrieden.
Ich bin immer noch perplex. Ein wichtiges Prinzip guter Bürgerbeteiligung ist Ergebnisoffenheit. Hier darf man entweder gar nicht diskutieren oder nur über das, was vorgekaut, vorbewertet und vorfavorisiert schon auf dem Tisch liegt. Die Realität scheint in diesen ideologischen Wunschvorstellungen keinerlei Rolle zu spielen. In meinem Geiste bildet sich ein Durcheinander aus 25000 tagtäglichen Pendlern (die nur zum Spaß und weil sie Grüne ärgern wollen, mit dem Auto unterwegs sind), Park+Ride-Plätzen, die von der Stadt nicht gewünscht sind, öffentlichem Nahverkehr, der in allen drei Szenarien praktisch keine Rolle spielt, einem dafür umso mehr gewünschten Einkaufzentrum in der Stadtmitte, Wohngebieten in Nord und Gewerbegebieten in Süd und glücklichen Menschen, die auf ihre Autos verzichten, weil sie in Zukunft nur noch zu Fuß oder per Rad unterwegs sind.
Bei immerhin drei kommunalpolitischen Abendveranstaltungen in dieser Woche reagiere ich allergisch, wenn man mir meine Zeit stehlen will. Das hier ist mir zu blöd und im wörtlichen Sinne Zeitverschwendung. Ich stehe auf und gehe.
Später lese ich noch, dass das Wort Szenario vor allem im Film- und Theaterbereich verwendet wird. Das passt.
Titelfoto:
Igor Slovak (Quelle) — Lizenz: CC BY-SA 4.0
2 thoughts on “Zeitverschwendung”
Beim Thema Verkehr wird wieder einmal deutlich, wie in Jena manche städtischen Herausforderungen diskutiert werden. Herr Cebulla formuliert in seinem Beitrag leider Polemik, anstatt sich mit Argumenten einzubringen und um Sachlichkeit zu ringen. Ein Beispiel:
Es sind gerade 14,4 Millionen Euro in den Neubau eines Forschungszentrums geflossen — auch um die Wettbewerbsfähigkeit der Stadt als Wissenschafts- und Forschungsstandort zu stärken. Die OTZ zitiert den Thüringer Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee und den Direktor des Zentrums Ulrich Schubert:
"'Jena steht in harter Konkurrenz mit Asien, und auch die USA sind aufgewacht', sagt der Wirtschaftsminister. [...] 'Der Wettbewerb zwischen den Forschungsgruppen auf unserem Gebiet ist weltweit sehr groß', sagt der Professor." (hier: http://goo.gl/vtiGsa nachzulesen.)
Einerseits dient die Konkurrenz mit Asien und den USA als eine Rechtfertigung für Investition von zig Millionen Euro. Bei anderen Themen wiederum, wie eben hier zum Verkehr, sind es dagegen "skurrile" Argumente (zumindest in den Augen von Hr. Cebulla).
Leider bestätigt der Beitrag von Hr. Cebulla meinen Eindruck der öffentlichen Diskussionkultur in Jena: Während andere Städte versuchen mit verschiedenen, auch ungemütlichen Maßnahmen die Lebensqualität aufzuwerten und damit an Attraktivität zu gewinnen, formiert sich in Jena alsbald eine Gruppe lautstarker Ermahner, sobald die Stadt auch nur anfängt an etwas ähnliches zu denken. Deren Beiträge und Initiativen führen aber nicht etwa dazu, dass die Stadt etwas verbessert, sondern die zur Blockade jeglicher städtischer Gestalltungsbestrebungen führen. Vielleicht ist es Besitzstandwahrung oder Kleingeist, vielleicht auch die Angst vor Veränderung — ich weiß es nicht, möchte auch nichts unterstellen. Bei einer solchen kaum nachvollziehbaren Polemik, wie sie Hr. Cebulla hier zu Tage befördert, fürchte ich nur, dass der Stadt bald die Tatkraft ausgeht und Jena nicht mehr mit anderen Städten mithalten kann.
Brigitte Kornnagel (Jena)
Liebe Frau Kornnagel, besten Dank für Ihren ausführlichen Kommentar. Der Blogpost beschäftigt sich nicht vordergründig mit den Möglichkeiten und Perspektiven der Verkehrsplanung und ‑entwicklung in Jena, sondern vor allem mit der völlig verfehlten Art und Weise der Bürgerbeteiligung zu diesem Thema. Gern hätte ich auf besagter Veranstaltung meine "sachlichen Argumente" vorgebracht, aber wie schon beim ersten Workshop war von offizieller Seite dort niemandem an einer offenen Diskussion gelegen. Vielmehr wurden erneut vorbereitete, konstruierte und mit einer bestimmten Absicht vorformulierte Thesen in den Raum gestellt, die man aufgefordert war abzunicken. Ein wesentlicher Kritikpunkt, den ich dazu äußere ist, dass auf den Ergebnissen des 1. Workshops nicht erkennbar aufgebaut wurde. Das alles demotiviert Bürger, sich einzubringen und zu beteiligen. Wenn vorher schon feststeht, was rauskommen soll, brauche ich dort nicht teilnehmen.
Es ist Ihnen unbenommen, sich eine Stadt zu wünschen, die "ungemütliche Maßnahmen" ergreift, um ihre Attraktivität zu steigern (in meinen Augen schon ein Widerspruch in sich). Es gibt da sicher ein breites Spektrum an Meinungen und Einstellungen zu diesem auch emotionsgeladenen Thema. Allerdings gehört m.E. zur Attraktivität einer Stadt deutlich mehr als den Autoverkehr zu verbannen, mit der Hoffnung, dadurch mehr Lebensqualität für Akademiker zu bieten.