Volle Kraft zurück
Zur Eichplatz-Debatte in der Stadtratssitzung am 25. März 2015
Wer die gestrige Debatte im Stadtrat zum Eichplatz aufmerksam mitverfolgt hat, dem ist sicher auch der eklatante Widerspruch in der Argumentation der Koalition (+ FDP) aufgefallen. Vorausgesetzt, man kann überhaupt von einer Art Argumentation sprechen. Denn die sattsam bekannte Basta-Politik setzt sich fort. Der Widerspruch besteht darin, dass man unentwegt forderte, man müsse von einer breiten Basis ausgehen und das Projekt im weiteren Verlauf des Verfahrens immer mehr bündeln, die Ergebnisse zusammenfassen und auf einen Punkt bringen. Sonst käme man nie zu einer Variante, die auch umsetzbar und finanzierbar wäre und würde wieder alles zerreden. Beschlossen hat man das genaue Gegenteil. Man geht von einer denkbar schmalen Basis aus (gerademal 30 Bürger sollen beteiligt werden) und möchte die erarbeiteten "Planungsziele" der Arbeitsgruppe aus Verwaltung, Fachleuten, Politik und einigen Bürgern — möglicherweise — am Ende durch eine breite Bürgerbefragung abstimmen (vielleicht besser absegnen?) lassen. Was passiert, wenn die große Mehrheit der — vorher nicht beteiligten — Bürger dann sagt, nöö, jetzt auch nicht und das erarbeitete Planungsziel ablehnt? Keiner der Redner hat dies in Erwägung gezogen, vermutlich weil man — zum zweiten Mal — hofft, dass es nicht passiert.
Statt volle Kraft voraus nun also eine Neuauflage des Eichplatz-Verfahrens, wie wir es schon kennen. Die Eichplatz-Jury heißt jetzt einfach nur "Gremium", die Eichplatz-Bürgerinitiativen hält man draussen, die stören nur, weil sie vorbelastet sind und man jetzt unbelastete Bürger braucht. Warum die Vertreter der Verwaltung und Politik im Gremium im Gegensatz dazu als unschuldig und unbelastet gelten, wird wohl ein Rätsel bleiben. Eines der vielen Rätsel, die angesichts der Wiederauferstehung einer — leider schon allzu bekannten — Diskussion Kopfzerbrechen bereiten. Ich traute meinen Ohren nicht, als in der Debatte mein Name fiel. Herr Dr. Nitzsche meinte, ich als Pirat hätte ja auch im Stadtentwicklungsausschuss der erwähnten Bündelung des Verfahrens zugestimmt. Ja, ich finde es ja toll, wenn ich zitiert werde, aber warum man dann die andere Hälfte meines Statements weglässt, kann sich jeder selbst ausdenken. Die lautete nämlich, dass man am Anfang des neuen Verfahrens die Bürger so frühzeitig und breit wie möglich einbinden muss und erst wenn man weiß, was die Bürger sich denn für ihr Stadtzentrum so vorstellen, könne man die Ergebnisse aufbereiten und in eine Planung und einen Bebauungsplan überführen. Stattdessen wissen nun die Stadtoberen wieder nicht, was sich denn die Bürger wünschen und es beschleicht mich der Verdacht, dass sie es auch gar nicht wissen wollen. Der Ideenwerkstatt zum Eichplatz, an der sich sehr viele Menschen beteiligten (zumindest mehr als 30) wirft man in der Beschlussvorlage eine "übergroße Vielfalt der Ideen und fehlende Repräsentativität" vor. Was an 400 angeschriebenen Bürgern bei einer Einwohnerzahl von 100000 repräsentativ sein soll, sagt man aber auch nicht. Die entscheidende Frage ist und bleibt: Was will die Mehrheit der Bürger auf dem Eichplatz? Dazu bedarf es einer speziell dafür (am besten extern) konzipierten Befragung, die mehr Möglichkeiten vorsieht, als nur ja oder nein zu einem bestehenden Entwurf zu sagen. Dazu bedarf es einer externen Auswertung der dann vorliegenden Ergebnisse. Dazu bedarf es einer oder mehrerer Planungswerkstätten, die diese Ergebnisse aufbereiten und in Planungsziele gießen. Dazu bedarf es Fachleute, die diese Planungsziele in einen neuen Bebauungsplan verwandeln. Dazu bedarf es letztendlich eines Stadtrates, der diesen Bebaungsplan beschliesst. Und schon haben wir einen sinnvollen Weg ausgehend von einer breiten Basis der Bürgerbeteiligung hin zu einem konkreten Entwurf, der große Chancen hat, auch umgesetzt zu werden. Nun hält man sich den Großteil der Bürger vom Hals und glaubt, den Kaffeesatz von vorgestern ("Nutzung von Gutachten und Vorarbeiten aus bisherigem Verfahren") nochmal neu aufbrühen zu können. Irgendwem wird es schon schmecken. Frau Dr. Jänchen als eine der wesentlichen Initiatorinnen des Eichplatz-Bürgerprotestes verlautete daraufhin auf Twitter: "Bürger, die nicht beteiligt werden, beteiligen sich womöglich selber." Ja, man darf gespannt sein, was die Bürgerinitiativen nun aus dieser Beschlussvorlage so machen.
Achja, und dann gab es da noch unseren Oberbürgermeister. Der hatte es nicht so mit der Bürgerbeteiligung. Für ihn waren andere Argumente wichtiger. "Es gibt keinen Wohlstand ohne Wachstum." Ich muss echt nochmal googeln, ob dieser Satz von irgendeinem Alt(Neo-)-Liberalen stammt. Er ist falsch und altbacken und konservativ und wärmt eine zweifelhafte Mär von vorgestern auf. Man ist ja mittlerweile einiges von Sozialdemokraten gewöhnt, aber erstaunlich ist es immer wieder. Außerdem war ihm wichtig, dass die Stadt ihren guten Ruf nicht verliert und die Stadt beweist, dass sie noch etwas auf die Reihe bekommt und die Stadt nicht in den Verdacht gerät, keine großen Projekte mehr stemmen zu können usw. Machen um des Machens willen. Um irgendwem irgendwas zu beweisen. Um nach außen weiterhin die tolle Großstadt zu mimen, die Jena nie sein wird. Und über wen spricht der OB eigentlich, wenn er immerzu über die Stadt redet. Was ist eine Stadt ohne ihre Bürger? Und für wen agiert Stadtpolitik, wenn nicht für die Einwohner der Stadt? Eine 0815-Shoppingmall in ein Stadtzentrum zu knallen beweist gar nichts. Außer dass man nicht zur Kenntnis nimmt, dass das in anderen Städten schon nicht gutgegangen ist und dass sehr oft die Bürger ihren Unmut darüber kundgetan haben, dass es sehr wohl Wichtigeres in einem Gemeinwesen gibt als einkaufen zu können. Aber vielleicht fiel dem OB just in diesem Augenblick wieder ein, dass er einen neuen Anzug braucht und dass er den in Jena nicht bekommt, wer weiß. Mehr Herrenausstatter braucht die Stadt. Sonst verliert sie ihren guten Ruf. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir das in Kürze mit der Vorlage der neuen Einzelhandelskonzeption zu hören bekommen.
Bei Wachstum-über-alles-Botschaften hätte man ja erwarten dürfen, dass die Grünen aufspringen und protestieren. Wegen der Nachhaltigkeit und so. Den knappen Ressourcen. Und der grünen Ideologie. Und den erstaunlichen Thesen, die man auf der Internetseite der Grünen unter dem Stichwort Wachstum und Wachstumskritik so findet. Pustekuchen. Ein grüner Fraktionsvorsitzender verteidigte die Beschlussvorlage der Koalition, ein grüner Ortsteilbürgermeister redete auch noch — irgendwas. Alle Änderungsanträge der Opposition wurden abgelehnt. Herr Prof. Beckstein von den Piraten gab sich alle erdenkliche Mühe, den Brückenschlag zu versuchen und die Gemeinsamkeiten zwischen den alten und neuen Fronten herauszustellen. Leider vergebens. Die Betonkoalition lässt grüßen. Ein Talent, eine ausgestreckte Hand zu ergreifen, einen Konsens herzustellen, die Bürger ins Boot zu holen und mitzunehmen, gibt es nicht. Einen guten politischen Stil auch nicht. So kann und wird das in einer Stadt wie Jena nicht funktionieren. Ich fürchte, das wird sich in den kommenden Monaten erneut herausstellen.
2 thoughts on “Volle Kraft zurück”
Der Artikel ist mir als "Außenstehendem" zu lang. Ansonsten nichts Neues aus der Politik. 😉
Gruß Fidel
Die Grünen haben ihren Fashion Protest, wo die Leute lernen, über ein paar Wochen mit einer begrenzten Anzahl Kleidungsstücken auszukommen (also das, was unsereins in jedem Urlaub praktiziert). Und dann feiern sie mehr Möglichkeiten, um Klamotten zu kaufen. Was ist nachhaltiger als so eine Müllkippe? Kann man in 100 Jahren noch haben.
Vermutlich ist es ein gutes Gefühl, wenn man die Opposition einmal im Monat in den Arsch treten kann. Aber wir sind noch nicht fertig miteinander, versprochen!