Keine Lust auf Opposition
Die Aufmerksamkeitsspanne für politische Ereignisse ist kurz, selbst wenn diese gravierende Auswirkungen für alle haben. Neben der Ehe für alle und der gerade hochkochenden Pseudo-Diskussion über linksextremistische Gewalt ist daher das sogenannte Netzdurchsetzungsgesetz schon wieder im allgemeinen Rauschen untergegangen. Nichtsdestotrotz wird es am 1. Oktober in Kraft treten und weitreichende Auswirkungen auf die grundgesetzlich garantierte Meinungsfreiheit in diesem Land haben — vorausgesetzt, es wird nicht vom Bundesverfassungsgericht kassiert. Letzteres ist nicht unwahrscheinlich, da schon im Vorfeld bei einer Anhörung Mitte Juni 8 von 10 Rechtsexperten das Gesetz als äußerst kritisch oder sogar verfassungswidrig beurteilten. Neben dieser Einschätzung gab es eine breite Front von netzpolitischen, journalistischen und juristischen Akteuren, die gegen das Gesetz mobilgemacht hatten. Wie mittlerweile jeder wissen sollte, verpflichtet das NetzDG Unternehmen wie Facebook oder Twitter, sogenannte Hasskommentare und Fakenews zu löschen. Tun sie das nicht, drohen unverhältnismäßig hohe Geldstrafen. Was mit Hatespeech wirklich gemeint sein soll, bleibt diffus. Denn erstens waren bestimmte Delikte wie Volksverhetzung oder Schmähung auch jetzt schon strafbar, zweitens ist auch der weniger stilvolle, um nicht zu sagen rüde Ausdruck von eigenen Meinungen und Emotionen mehrfach durch das Bundesverfassungsgericht zugunsten der Meinungsfreiheit in einer Demokratie gewertet worden und drittens hat die jetzt schon geübte Praxis gezeigt, dass bestimmte Hasskommentare (z.B. von Islamisten oder Linksextremisten) außen vor bleiben. Zudem ist immer wieder die Verlagerung von rechtsstaatlichen Aktivitäten (bspw. die Entscheidung eines Gerichts) in eine Art Privatzensur kritisiert worden.
Man sollte nun meinen, dass die Entscheidung über so ein hochumstrittenes und verfassungsrechtlich bedenkliches Gesetz im Bundestag eine ausführliche, wenn nicht gar heftige Debatte hervorruft und die Abstimmung darüber im Interesse jedes einzelnen Abgeordneten liegt. Das Gegenteil war der Fall. Fernsehbilder lassen vermuten, dass von den 630 Bundestagsabgeordneten vielleicht zwischen 40 bis 60 anwesend waren. Da erst ein Tagesordnungspunkt zuvor die Ehe für alle vor vollem Hause diskutiert und abgestimmt worden war, stellt sich die Frage: Was war da los? Feueralarm? Pinkelpause? Standen alle draußen am Dönerstand an? Oder tanzten die Abgeordneten durch die Flure des Bundestages, um das gerade beschlossene Heiratsrecht für etwa 2 % der Bevölkerung zu feiern, während man drinnen im Saal mal eben die Meinungsfreiheit aller Bürger zu Grabe trug? Warum interessierte die Abgeordneten ein Gesetz, dass derart die Grundfesten der Demokratie angreift, einen Scheiß? Man könnte vermuten, dass es tatsächlich den meisten egal war. Denkbar ist auch, dass man der Ansicht ist, es würde schon die Richtigen treffen. Die Richtigen sind derzeit vor allem konservative, liberale und rechte Accounts in den sozialen Netzwerken, die schonmal prophylaktisch dichtgemacht werden. Leute, die von Dächern Gehwegplatten auf Polizisten werfen oder sich inbrünstig den Volkstod wünschen, sind vom geplanten Eingriff in die Meinungsfreiheit ja eher nicht betroffen.
Erwartungsgemäß wurde das Gesetz daher von dem anwesenden kläglichen Häuflein unserer Volksvertreter durchgewunken. Mit einer Ausnahme, die Fraktion der Linken stimmte dagegen. Prima, denkt man, da gab es noch welche, die den Mumm hatten, diesen Angriff auf ein demokratisches Grundrecht abwehren zu wollen und kompromisslos dagegen hielten. Aber ach, unsere Begeisterung schmilzt wie Vanilleeis in der Mittagssonne: wieviel der 40 — 60 anwesenden Abgeordneten mögen wohl Linke gewesen sein?
Ich habe sowohl bei der Partei als auch bei der Fraktion über Twitter nachgefragt. Eine Antwort gab es keine. Hatte auch die Opposition keinen Bock? Hätte man die Beschlussfähigkeit des Plenums in Frage stellen können? Was wäre passiert, wenn plötzlich die drittgrößte Fraktion mit ihren 64 Abgeordneten vollständig im Saal gesessen hätte? Wäre das Gesetz gekippt worden? Hätte man die Abstimmung hinausgezögert, um die Abgeordneten der Regierungskoalition aus der Kantine zu holen? Wer sorgt dafür, dass auch bei geringer Anwesenheit die Mehrheitsverhältnisse gewahrt bleiben? Kungelt man das vorher irgendwie aus, wieviele Leute von der Opposition maximal im Saal sein dürfen?
Man kann einwenden, dass wir naiven Wähler keinen Plan von der Parlamentsarbeit haben, das Gesetz ja vorher in einem oder mehreren Ausschüssen beraten wurde und es keine Anwesenheitspflicht bei Abstimmungen im Bundestag gibt. Man könnte ebenso vermuten, dass ein Großteil der Abgeordneten sowieso keine Ahnung vom Neuland hat, das Gesetz vorher weder gelesen noch verstanden hatte und daher lieber fernblieb. Daraus folgt zudem der Vorteil, später seinen nachfragenden oder gar erzürnten Wählern sagen zu können, man sei an der umstrittenen Abstimmung gar nicht beteiligt gewesen.
Was bleibt, sind viele unbeantwortete Fragen und der schale Nachgeschmack des inszenierten Polit-Theaters für die dumme Masse. Es bleibt der Eindruck, dass das Ergebnis einer Abstimmung vorher schon feststeht, ganz egal wieviel Abgeordnete sich im Saal befinden. Es bleibt der Eindruck, dass auch eine Opposition keine Lust hatte, an den Spielregeln irgendetwas zu ändern, nicht mal bei einem so wichtigen Thema. Egal worum es sich bei diesem beschämenden Vorgang des offensichtlichen Desinteresses handelt, die Botschaft an die Menschen im Land ist klar und kommt auch so an. Meinungsfreiheit, Grundgesetz, Demokratie — wen juckt's? Hauptsache, die Machtverhältnisse bleiben gewahrt und die Diäten stimmen.
One thought on “Keine Lust auf Opposition”
Ich finde die gesamte Diskussion zu den Hasskommentaren äußerst lächerlich. Was musste man stets für fiese Kommentare und Hetze im Netz lesen, wenn es gegen die Amerikaner geht. Besonders zur NSA/Snowden- Zeit.
Niemand, aber absolut niemand hat etwas unternommen oder sich aufgeregt, aber wenn es gegen Flüchtlinge geht...und damals konnte man noch viel schlimmere Sachen lesen, als das was heute als Hasskommentar gilt.
Fazit: gegen die bösen Amis kann man sagen was man möchte, aber wehe es kommt was gegen Flüchtende raus.
Auch die Amerikaner sind ein Volk, ergo -> Volksverhetzung!