
Reisebeobachtungen aus der Provinz
Zwei Wochen Ostseeurlaub und sechs Tage Elberadweg von der deutsch-tschechischen Grenze bis Dessau bieten eine Menge Gelegenheiten zu beobachten und sich seine eigenen Gedanken zu machen. Besonders das Radwandern ist eine ganz eigene Form des Reisens. Man durchquert Orte, in die man mit dem Auto nie fahren würde. Man kommt sehr dicht mit Lebenswirklichkeiten in Berührung, von deren Existenz man zwar irgendwie weiß, die man aber sonst hautnah nie er-fahren kann. Die verschiedenen Wahrnehmungsschnipsel bilden nicht notwendigerweise einen größeren Zusammenhang. Und trotzdem kann man sie zusammenschauen, als Zeichen betrachten, mit den eigenen Werten vergleichen. Sinne und Lebenssinn fühlen sich herausgefordert. Das kann genauso heilsam wie erschreckend sein.
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Wie grundsätzlich und wesentlich Lebenswirklichkeiten von Menschen in Deutschland divergieren, ist mir wieder überraschend und teilweise schockierend bewusst geworden. Hat das junge Pärchen, das — in einem unbekannten Kaff — den Vorgarten vor seinem heruntergekommenen Siedlerhäuschen in Ordnung bringt, etwas mit Berliner Hipstern, Hamburger Antifa-Aktivisten oder Dresdner Kulturtouristen gemeinsam? Hat der Gasthof-Wirt im Niemandsland, der seine Frau an den Krebs verloren hat und nach zwei Flutkatastrophen jedes Mal wieder von vorn anfangen musste etwas gemeinsam mit Feministinnen, Genderprofessoren oder Bundestagsabgeordneten? Worin besteht der Zusammenhang zwischen den von Sonnenaufgang bis ‑untergang die Ernte einbringenden Bauern auf ihren Mähdreschern und den mit ihren Handys auf dem Dessauer Marktplatz herumlungernden Migranten? Die Wahrheit ist, dass sie gar nichts miteinander gemein haben. Der Unterschied könnte nicht größer sein, wenn sie in verschiedenen Ländern leben und unterschiedliche Sprachen sprechen würden.
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Jene Strecke zwischen Riesa und Torgau, rechtsseitig der Elbe, wird mir wohl ewig in Erinnerung bleiben. Sengende Hitze. Kleine, verkommene, geduckte Häuschen an endlosen, schlecht gepflasterten Straßen in toten Käffern. Keine Menschen zu sehen. Kein Laden, keine Kneipe, keine Schule, kein Kindergarten, kein Jugendclub, keine Firma. In Rumänien sieht es keineswegs anders aus. Man befindet sich aber mitten in der ostdeutschen Provinz. Ist hier Frau Merkel jemals gewesen oder auch nur durchgereist? Hat mal mit ein paar Menschen gesprochen, die hier ihr Leben verbringen? Meint sie mit dem Deutschland, in dem wir gut und gerne leben Stehla, Packisch, Adelwitz oder Pülswerda?
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Im Gegensatz dazu die Ostsee — erstrecht in diesem Jahrhundertsommer — immer noch die heile Welt. Sie wird geteilt von den Badeurlaubern und den Leuten, die an diesen Urlaubern verdienen. Dazwischen die Landwirtschaft, staubtrockene Felder bis zum Horizont, über die bis spät abends die Mähdrescher ihre Linien ziehen. Das Meer ist wunderbar, da braucht man keine Karibik. Geborgter freier Kopf vom Alltag, vom Job, vom Stress. Der lauert wie ein bösartiges Tier hinter dem Horizont, da wo der Urlaub wieder zu Ende ist. Nur nicht dran denken. Dieser freie Kopf kann auch eine Überraschung sein. Plötzlich entfaltet sich das Denken wie aus einem Winterschlaf. Man beginnt sich wieder für etwas zu interessieren, begeistert sich für alltagsferne Themen, hat Lust mal etwas Neues zu lernen, zu lesen, zu fotografieren. Wie kreativ könnte man sein, wenn nicht die ganze Energie des Tages durch die Arbeit absorbiert werden würde?
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Die Ostsee ist ein gutes Beispiel dafür, dass Toleranz nur innerhalb des selben Wertesystems funktionieren kann. Noch immer vertragen sich die Nacktbader und die Textilen, die Einheimischen sind freundlich, die Touristen benehmen sich. Man lebt sinnlich. Geniesst das Essen, den Körper, die Natur, das Wasser, die Faulheit. Man hält es auch mal mit ziemlichen vielen Menschen am Strand auf begrenztem Raum aus. Die Parallelgesellschaften sind dort noch nicht angekommen. Unwillkürlich fragt man sich, wann die ersten Salafisten an den Stränden auftauchen, um den Ungläubigen ihre moralische Verkommenheit auszutreiben? Mit Büchern, Plakaten oder Macheten, wer weiß. Es ist nur eine Frage der Zeit, oder? Noch ist jedes Paradies auf dieser Erde irgendwann zerstört worden.
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Da ist das schmale blonde Mädchen mit seinen Großeltern am Strand. Es ist vielleicht 10 Jahre alt. Es isst nicht gut, das sieht man gleich. Es traut sich nichts. Von allein macht es gar nichts. Es geht auch nicht einfach so ins Wasser. Die Großeltern (oder sind es doch die Eltern?) ziehen sich nicht aus und gehen nicht schwimmen. Das Mädchen wird über die paar Kiesel am Wasserrand hinweggetragen, denn es kann auf gar keinen Fall darauf laufen. Sie spielen nicht, sie buddeln nicht, sie freuen sich nicht. Es werden ein paar Fotos mit dem Handy gemacht, als Beweis, dass die Kleine "in der Ostsee" war. Nach nicht mal einer Stunde gehen sie wieder. Das dünne, lebensuntaugliche Mädchen hat gerade einmal bis zu den Fußknöcheln im Meer gestanden. Was für eine Generation wächst da heran? Was kann, was wird sie für diese Gesellschaft leisten?
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Städte und Regionen versuchen mit Kultur zu werben, Touristen anzuziehen, hier und da auch den Niedergang zu kaschieren. Am Rande des Weges gibt es viel zu entdecken: Kirchen, Klöster, Gärten, schmucke Altstädte wie in Pirna, Meißen oder Torgau, Schlösser und Landgüter, die Straße der Reformation, Mühlen, Museen, Marktplätze, Wörlitz und Bauhaus in Dessau, von Dresden ganz zu schweigen. Manches ist überragend und beeindruckend, anderes — wie der Lutherkult in Wittenberg — eher skurril. Das kulturelle Erbe ist gewaltig, die teilweise weit über 1000-jährige Geschichte allgegenwärtig. Wie immer stellt sich die Frage, was man mit einem Erbe anfängt. Nur innerhalb von gelebten Traditionen, Geschichtsverständnis, Wertepflege und Wissensweitergabe kann ein Erbe befruchtend wirken. Nur Lockspeise für zahlende Besucher aus aller Welt zu sein, ist zu wenig. Vielleicht liegt darin der Grund, dass trotz der Fülle an Geschichte und Kultur Sachsen-Anhalt und Brandenburg kaum Entwicklung aufweisen. Die Deutschen dürfen kein Volk sein und erstrecht keinen Stolz auf ihre Nation entwickeln. Als Köterrasse beschimpft zu werden, hat für Deutsche keine Beleidigung zu sein. Man bekommt von höchsten politischen Stellen aufs Butterbrot geschmiert, dass es jenseits der Sprache eigentlich gar keine deutsche Kultur gäbe. Traditionen gelten als überholt und vorgestrig, Geschichte wird auf den Fluch des Dritten Reichs reduziert. Identität gilt als rechts. Hofiert wird nur das Fremde, egal wie exotisch oder aggressiv es daherkommt. Da helfen all die Fördergelder und Millionen, die man in die Regionen pumpt, nichts, wenn gleichzeitig die Kulturrevolutionäre und Ideologen das Sagen haben, mit dem einzigen Ziel, den Stolz auf das eigene Land und die eigene Geschichte zu schleifen.
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Zwei Demonstrationen. Die eine zum Christopher Street Day in Rostock. Lautsprecherwagen, offensichtlich wird gerade eine Art Umzug aufgestellt. Mir fallen eine Menge junger Mädchen auf, vielleicht 12 — 15 Jahre alt. Sie tragen alle Regenbogenfahnen über den Schultern und eilen aus allen Richtungen zum CSD. Dazwischen die mit den schwarzen T‑Shirts, auf denen FCK NZS und das Symbol der Antifa abgebildet ist. Sind das die Homosexuellen, die für ihre Rechte kämpfen? Etwas abseits, am Rand, steht ein Transsexueller. Allein. Er sieht irgendwie traurig aus. Als ob er gar nicht dazu gehört. Ich habe ein bisschen Mitleid mit diesem Mann, der wie eine Frau herausgeputzt ist. Mir scheint, dass sein Ringen um Aufmerksamkeit für seinen Lebensentwurf gekapert wurde — durch die "Aktivisten" und Dauerempörten, die Diversity-Fans, die alle gleich aussehen, die Toleranzbesoffenen, die immer GEGEN irgendetwas sind. Gestern gegen den Klimawandel und die Kernkraft, heute gegen Diskriminierung, morgen gegen Nazis und Glyphosat.
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Auf die andere Demonstration stoßen wir in Dresden, mitten auf einem Platz voller Biergärten und Touristen. Ein paar Männer stehen vor einem kleinen Transporter. Es gibt Schilder und Transparente. Auf einem steht: "Nur so viel vorab: Wir sind keine Reichsbürger!" Ein Mann liest vor einem Mikrofon von einem Blatt ab, ein anderer filmt ihn dabei mit einer kleinen Kamera. Wahrscheinlich landet das Ganze später auf Youtube. Die Rede schallt über den Platz. Es geht um den Islam. Besser gesagt gegen den Islam. Was bedeutet eine islamische Gesellschaft für junge Frauen, Alleinerziehende, Homosexuelle, Menschen die nicht heiraten wollen, Atheisten usw. Es ist klar, worauf der Redner hinaus will. Die Demo wird nicht von der AfD veranstaltet. Es scheint sich um eine private Bürgerinitiative zu handeln. Die Protestutensilien sind alle handgemacht, in der heimischen Garage aus Sperrholz und Pappe gefertigt. Es sind auch keine Nazis in Springerstiefeln. Eher so Ingenieurs- und Oberlehrertypen. Die in den Biergärten sitzenden Touristen sind pikiert. Man sieht es ihren Gesichtern an. Man fühlt sich gestört. Es ist ein bisschen peinlich, was die da mitten in der Stadt abziehen. Man möchte im Urlaub und im Genuss der Dresdner Kulturmetropole nicht gestört werden. Es ist irgendwie schon klar, dass der Redner recht hat. Aber man möchte mit der Realität nicht belästigt werden.
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Wenn man selbst politisch interessiert oder engagiert ist, fragt man sich immer, warum die Zustände in diesem Land so vielen Menschen völlig gleichgültig sind. Die Antwort findet man sehr leicht auf einer Fahrt im Regionalzug irgendwo zwischen Sachsen-Anhalt und Sachsen. Da sind diese zwei fetten, debilen Söhne mit ihrer Mutter. Der eine spielt die ganze Zeit auf seinem Handy. Da sind diese strunzdummen, asozialen jungen Mütter (nein, keine Migranten) mit ihren offensichtlich zurückgebliebenen Kindern, die auch mit fünf oder sechs keinen halbwegs vernünftigen Satz sagen können. Eine dieser Mütter hat drei kleine Mädchen dabei. Sie kennt nur zwei Daseinszustände: auf ihr Handy glotzen oder ihre Kinder anschreien. Es zerreisst einem das Herz zu beobachten, dass es niemanden gibt, der mit diesen Mädchen einfach nur normal redet. Sie haben keine Chance, noch bevor ihr Leben richtig begonnen hat. Die Verblödung ist allen ins Gesicht geschrieben. Damit man mich nicht missversteht. Ich habe eine große Sympathie für die sogenannten einfachen Leute. Ich stamme selbst vom Dorf und aus einer Arbeiterfamilie. Aber das hier ist etwas anderes. Diese Menschen sind mit sich selbst und ihrem Leben hoffnungslos überfordert. Es gibt niemanden, der ihnen beistehen würde. Für die Politik gibt es sie gar nicht. Bildung wird immer ein Fremdwort für sie sein. Sie leben nicht, sie existieren nur. Zusammen mit ihren Handys.
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Auf der Fahrt weiter nach Naumburg neben uns vier junge Leute, vielleicht Arbeitskollegen, die eine Weinverkostung in Freyburg anstreben. Die Frauen dick, die Männer übermäßig zart und feminin, mit blond gefärbten Haaren und Haarspray im Amazon-Rucksack, Marken-Sneaker und weiße Söckchen an den Füßen. Sie trinken Wein. Sie unterhalten sich über Laktose in Lebensmitteln, Netflix-Serien und Instagram. Ihnen steht ins Gesicht geschrieben, dass sie grün wählen oder vielleicht auch FDP. Man kann davon ausgehen, dass sie selbstverständlich gegen rechts sind. Sie machen Fotos mit dem Handy aus dem Fenster und von sich selbst. Sicher machen sie etwas mit Medien oder Verwaltung. Der etwas andere Blick auf die gleiche düstere Zukunft.
Eine Fahrt im Regionalzug reicht aus, um den Glauben an die Menschheit zu verlieren, der Misanthropie-Faktor schnellt in ungeahnte Höhen.
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Belassen wir es dabei. Ab morgen wartet wieder die Mühle auf mich. Und ich werde natürlich ein gehorsamer Hamster im Laufrad sein. Also was spotte ich über andere?
One thought on “Reisebeobachtungen aus der Provinz”
Wieder ein klasse geschriebener Text mit vielen Wahrheiten.
Danke dafür.