
Vielfalt und Unteilbarkeit
Jedes Jahr am 3. Oktober wird die eigene Wahrnehmung fast automatisch auf das Thema Einheit gelenkt. Die Wiederherstellung der deutschen Einheit — mal ganz abgesehen davon, wie sie zustandegekommen ist — habe ich wie viele andere Ossis als positiven Umbruch und persönliche Chance wahrgenommen und verstanden. Die Gründe dafür sind jedoch ganz gegensätzlich zum Einheitsprinzip im Pluralismus der damaligen westdeutschen Gesellschaft zu finden, der rasant auch auf die ehemalige DDR übergriff. Im real existierenden Sozialismus wurde Einheit und Vereinheitlichung groß geschrieben. Nicht nur die Proletarier aller Länder sollten sich vereinigen, auch der Machtanspruch der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands war klar formuliert, flankiert vom Antifa-Block aller anderen Parteien, der aus der 1946 gegründeten Einheitsfront antifaschistisch-demokratischer Parteien hervorgegangen war. Aufmärsche und Massendemonstrationen (da sind wir schon beim 7. Oktober), Weltfestspiele der Jugend, Vereinnahmung sämtlicher Bewegungen und Organisationen politischer und nichtpolitischer Natur unter das sozialistische Banner, die Uniformierung von Kindern (Pioniere), Jugendlichen (FDJ) und Erwachsenen (Kampfgruppen, GST), die Enteignung privaten Landes und dessen Vereinigung in großen LPGs, der eine Plan für die gesamte Wirtschaft, Brigaden und Kollektive — all das sollte die unzerstörbare Einheit der neuen Gesellschaftsordnung zeigen und manifestieren. Hinzu kam die Einheit des Warschauer Pakts, die unverbrüchliche Freundschaft mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten. Wer aus dem einheitlichen Block ausscheren wollte — wie 1968 die Tschechoslowaken — war des Teufels und musste mit Panzern bekämpft werden. Des Teufels war auch die als quasi unmoralisch verstandene Freiheit des imperialistischen Klassenfeinds, dessen — heute würde man sagen bunte — Kultur, Musik und unreglementierte Debatten des alles Sagbaren. Sodom und Gomorrha. Die reine Lehre, die notwendige Propaganda der Politkommissare gegen Profit und Pornografie der verlotterten kapitalistischen Untergangsgesellschaft.
Es ist klar, warum mir das alles gerade jetzt wieder einfällt. #wirsindmehr marschiert in den sozialen Netzwerken und #unteilbar marschierte kürzlich durch Berlin. Mit durchaus bemerkenswerten, wenngleich auch nicht rekordverdächtigen Teilnehmerzahlen. Als jemand, der in der DDR sozialisiert wurde, gehört es für mich zu den erstaunlichsten Phänomenen unserer Zeit, dass diejenigen, die unablässig Buntheit, Offenheit und Vielfalt wie eine Monstranz vor sich her tragen, gleichzeitig eine neue Einheitsfront anstreben. Noch — den Göttern sei Dank — hat diese neue Einheitsfront keine wirkliche Machtbasis, aber sie ist trotzdem laut, real und omnipräsent: in den Zeitungen, Feuilletons und Talkshows, in den politischen Führungsfiguren der Parteien, auf Demonstrationen, in Manifesten politischer Bewegungen, in immer neuen Kampagnen, in den Köpfen einer jungen Generation, die lieber zu Hass, Gewalt und Denunziation greift, um nicht eine andere als die eigene Meinung ertragen zu müssen. Dabei führt das unglaubliche, ich möchte fast sagen brutale, Fehlen einer auch nur minimalen Selbstreflexion dazu, dass man sich unentwegt zu den Toleranten, Guten und Bunten zählt, während man einem Fanatismus, einer Intoleranz, einer Verbohrtheit das Wort redet, wie man sie historisch nur aus totalitären Systemen kennt. Auch wenn man keineswegs Mehrheiten irgendwelcher Art beanspruchen kann, wähnt man sich wieder in einem homogenen Block derjenigen, die einfach dadurch Recht haben, dass sie behaupten, dieses Recht zu besitzen.
Die vehement und laut beschworene Vielfalt zeigt sich als Pseudo-Vielfalt, als ein eng begrenztes Spektrum von Schattierungen ein und derselben Farbe. Das hat sich auch bei #unteilbar wieder mehr als deutlich gezeigt. Die "Gesinnungsparade" (Michael Klonovsky) stellte sich als seltsame Mischung aus Initiativen heraus, die sich irgendwo ganz links, im RefugeesWelcome-Aktivismus, in der queerfeministischen Szene oder in irgendwelchen dubiosen kurdischen, palästinensischen oder allgemein muslimischen Flüchtlings- und Migrantenorganisationen verorten, die allesamt eines gemeinsam haben: sie leben und existieren aus staatlichen Fördergeldern, die als Steuern wiederum von denjenigen erwirtschaftet werden, auf die man mit Verachtung herabblickt und deren "Volkstod" man sehnlichst herbeiwünscht. Man kämpft heroisch gegen den angeblich allgegenwärtigen Rassismus, spuckt aber Gift und Galle gegen jeden Ausländer, der sich nicht vereinnahmen lassen will oder gar auf einem Wahlplakat der AfD zu finden ist. #NieWieder, wenn es um jede Form von Antisemitismus geht, aber natürlich sollen sich Juden gefälligst dort politisch organisieren, wo man selber steht, während über die krassen Auswüchse des islamischen Judenhasses hinweggesehen wird. Man schwenkt die Regenbogenfahnen und geißelt jede Form von Homophobie, gefällt sich aber in widerlichen Hasstiraden gegen Homosexuelle wie Alice Weidel oder David Berger, weil diese auf der "falschen Seite" stehen. Genderaktivismus und ein radikaler Feminismus sind in diesen Kreisen Pflichtprogramm, aber wenn es um Burka, Vergewaltigungen, Steinigungen und Ehrenmorde geht, herrscht ein grauenhafter Abgrund des Schweigens. Man brandmarkt die Erbsünde und Schuld der alten weißen Männer, meint aber, dass man die gruseligsten Gewalttaten junger nichtweißer Männer aus Gründen der kulturellen Bereicherung hinnehmen muss. Man verfällt in Schreikrämpfe, wenn es um unerwünschte Komplimente und Bikinis auf Werbeplakaten geht, ignoriert aber die Morde an südafrikanischen weißen Farmerfamilien oder die Hinrichtungen von Frauen in Regimen wie Pakistan, Iran oder Saudi-Arabien.
"Vom Dritten Reich sind Ruinen geblieben. Von der DDR sind Ruinen geblieben. Vom linksgrünen Wahn werden neue Arten von Ruinen bleiben." (Dushan Wegner)
All diese himmelsschreienden Widersprüche sind allgegenwärtig und werden doch in diesen Bewegungen auf eine geradezu pathologische Weise verdrängt. Es ist lachhaft und absurd, wenn man im Aufruf zu #unteilbar "Solidarität statt Ausgrenzung" fordert, aber unentwegt ausgrenzt und zwar jeden, der es wagt, eine eigene Meinung zu äußern oder nur zu haben. Solidarisch ist man nur mit sich selbst, niemals aber mit einem anderen menschlichen Wesen, dass genug Selbstbewusstsein besitzt zu widersprechen. Während man nationale Grenzen für jeden öffnen möchte, zieht man im eigenen, ideologisch verbrämten Geist eine Mauer hoch, die gewalttätiger ist als es jeder Stacheldraht sein könnte. Dafür wird das beliebig gewordene und für alles und nichts verwendbare Schlagwort rechts benutzt, ein stigmatisierendes Etikett, das der Judenstern-Armbinde der Nazis nicht unähnlich ist. Nun ist es möglich, der eigenen kruden Blockwart- und Denunziantenmentalität freien Lauf zu lassen, weil der Wahn ja als "Kampf gegen rechts" ummantelt wird. Und alle diese Autoritären und Totalitären, ganz in den Denktraditionen zweier deutscher Diktaturen verhaftet, entblöden sich nicht, unentwegt von der "freien Gesellschaft" zu faseln. Dabei gibt es nichts, was ihnen weniger am Herzen liegt als die Freiheit. "Vielfältige und selbstbestimmte Lebensentwürfe", die für die #unteilbar-Organisatoren "selbstverständlich sind", reichen gerade mal an den engen Horizont der eigenen Ideologie heran, aber keinen Meter darüber hinaus. Alles was dahinter liegt, ist Kampf- und Feindgebiet, wo man die unterdrückten Gewaltimpulse ohne Strafe ausleben darf. Politik im Zeitalter grenzenloser Infantilität. Es steht jedem frei, sich einzureihen in die Marschkolonnen, in das Wir-Gefühl der neuen Kulturrevolutionäre, in das dumpfe Spießergefühl einer reaktionären Prüderie, in die naiven Gut-und-Böse-Szenarien und eindimensionalen Denkschemata. Für mich kommt das nicht in Frage.
Es ist völlig klar (und damit schliesst sich der Kreis), warum sich gerade die Menschen in den neuen Bundesländern in diesen Tagen als so widerspenstig erweisen. Warum es gerade sie sind, die als Feindbild herhalten müssen, als Pack, als Nazis, als Dunkeldeutschland, das es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt. Ihre Sensoren schlagen Alarm, weil sie schon einmal in einem ideologischen Einheitssystem leben mussten. Weil sie wissen, wie es sich anfühlt zwangseingeordnet zu werden in eine angeblich erstrebenswerte Unteilbarkeit der Gesinnung und weil sie nach der Wende zumindest eine gewisse Zeit lang auch die Erfahrung des Gegenteils gemacht haben. Sie stellen sich quer zur gleichgeschalteten Masse, in der man einfach nur nachplappern muss, was die Agitationsmaschinerie vorgeplärrt hat, um dazu zu gehören. Sie sind der Stachel im Fleisch der schönen neuen Welt, die für uns vorbereitet wird.
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"Während noch nie so volltönend von der „freien Persönlichkeit“ geredet worden ist, sieht man nicht einmal Persönlichkeiten, geschweige denn freie, sondern lauter ängstlich verhüllte Universal-Menschen. Das Individuum hat sich ins Innerliche zurückgezogen: aussen merkt man nichts mehr davon; wobei man zweifeln darf, ob es überhaupt Ursachen ohne Wirkungen geben könne."
(Friedrich Nietzsche, Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, § 5)
Siehe auch:
- Dushan Wegner: 5 Mark und Bratwurst — wenn das System zur Demonstration ruft
- Klaus-Rüdiger Mai: Alles beginnt mit Herkunft — warum Ostdeutschland sich zur Provokation entwickelt
Titelbild:
Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1949 in Budapest-Fahnengruppe der FDJ — Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst — Zentralbild (Bild 183)
2 thoughts on “Vielfalt und Unteilbarkeit”
Wiedereinmal ein sehr guter Kommentar von dir. Vielen Dank dafür.
Ich habe mich schon lange gefragt, wie jemand der doch so energisch für seine Ideale eintritt und vlt sogar seinen letzten Blutstropfen dafür opfern würde, so ignorant und feige agiert aus Angst sich mit "den Falschen" anzulegen.
Einen "Aktivisten" konnte ich einmal auf den wachsenden Antisemitismus ansprechen...Antwort: "Das ist halt deren Kultur"
Völlig unbegreiflich. Warum hört der Kampf dann auf, wenn der Täter Muslim ist?
Selbiges mit den Feministen. Sind die Rechte der muslimischen Frauen nicht schützenswert?
Ist es nicht auch eine Form von Rassismus, wenn man Menschen nur auf Grund ihrer Herkunft maßregelt oder eben nicht?
Hallo Silvio,
du bist offensichtlich ein treuer Leser meines Blogs und ich freue mich immer über einen Kommentar und deine ganz persönliche Sicht auf die Dinge!