Gut und Böse, das alltägliche Leben und der ganze Rest
Jordan B. Petersons Buch "12 Rules for Life" — eine Rezension
Wenngleich für mich noch relativ unbekannt, so ist doch Jordan B. Peterson für eine formidable Menge an Leuten bereits ein Star — die Zugriffszahlen auf seine Youtube-Videos belegen das. Daher haben vermutlich viele auf die deutsche Ausgabe seines Bestsellers "12 Rules for Life" gewartet. Der Goldmann Verlag hat die Chance auf klingelnde Kassen genutzt ((Die Originalausgabe avancierte 2018 immerhin zur Nr. 1 auf den Bestsellerlisten des Wall Street Journals, der Washington Post, von Reuters U.S., sowie von Amazon in den USA und Kanada.)), die Lizenz erworben und die deutsche Veröffentlichung — verlagstechnisch gesehen — spektakulär versiebt. Obwohl ich die Originalausgabe nicht kenne, wird einem beim Lesen schnell klar, dass die Übersetzung eine Katastrophe ist ((Das fängt schon mit dem Untertitel des Buches an, der nicht dem des Originals entspricht und auch meiner Meinung nach von der Intention her völlig missverstanden wurde!)), insbesondere was die erste Hälfte des Buches anbelangt. Manche Peterson-Fans hat das richtig richtig wütend gemacht, hier und hier zum Beispiel. Selbst dem Verlag ist wohl irgendwann klar geworden, dass der Übersetzer engagiert daran arbeitet, Peterson (absichtlich?) zu versauen. Man hat dann nach dem sechsten Kapitel den Übersetzer gewechselt, ohne den Mist zu korrigieren oder nochmal von vorn anzufangen. Wenn das schnelle Geld lockt, weil alle auf den Titel warten, dann bleibt halt die verlegerische Sorgfalt auf der Strecke. Peinlich und wahrlich keine Empfehlung für Goldmann. So muss sich also der Leser ein ganzes Stück mit einer übertrieben flapsigen bis gewollt aber nicht gekonnt witzigen Ausdrucksweise (und vermutlich vielen mehr oder weniger sinnentstellenden Übersetzungsfehlern) herumplagen, was zum einen dem Inhalt und vermutlich auch dem Autor nicht gerecht wird und zum anderen einen merkwürdigen Kontrast zur zweiten Hälfte des Buches bildet, in dem der neue Übersetzer den Weg auf den Teppich zurückfindet, wenngleich ebenso ohne sprachliche Brillianz. Es spricht für den Autor, dass selbst die dilettantische Verlagsarbeit von Goldmann es nicht geschafft hat, seinen Text so zu verhunzen, dass man die wesentlichen Botschaften nicht mehr verstehen würde. Kommen wir daher zum Inhalt.
Laut Wikipedia ist Petersons Forschungsgebiet die "Psychologie des religiösen und ideologischen Glaubens". Man könnte es auch so ausdrücken: Petersons Hauptthema ist Gut und Böse — und zwar nicht nur auf der individuellen oder psychologischen Ebene, sondern davon abgeleitet genauso in der Gesellschaft überhaupt. Nach eigenen Angaben hat er sich Jahrzehnte intensiv mit den totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts beschäftigt: dem Nationalsozialismus und dem Holocaust, dem Stalinismus und seinem Gulag-System, der Kulturrevolution Maos oder den Greueltaten der Roten Khmer in Kambodscha. Man kann an vielen Stellen herauslesen, dass es ihm ein wichtiges Anliegen ist, Menschen vor jeder Art von Totalitarismus zu bewahren, egal in welche politische Farbe sich dieser kleidet. Jeglicher Kollektivismus ist für Peterson ein Greuel, individueller Nihilismus allerdings auch. Nicht aus grundsätzlichen ideologischen, metaphysischen oder philosophischen Erwägungen, sondern weil beides einem das Leben gründlich zur Hölle machen kann. Im Mittelpunkt all seiner Betrachtungen steht der Mensch als freies Individuum. Er denkt damit mindestens genauso liberal wie er konservativ argumentiert. Die Gefahr eines neuen Totalitarismus verortet Peterson eher links, auf der Seite einer neomarxistischen Postmoderne mit ihrem Zwang zur Political Correctness, Gleichmacherei und ideologischen Anpassung und Unterordnung unter ein vermeintlich progressives Gesellschaftsmodell, das nur in den Köpfen einer bestimmten Art von Elite existiert.
"Damit wir es nicht vergessen: Ideen haben Konsequenzen." ((Peterson, 12 Rules for Life, S. 463))
Durch Petersons Denken zieht sich eine beständige Dichotomie, die nicht nur zwischen Gut und Böse, sondern auch zwischen Individuum und Kollektiv, Liberalismus und Totalitarismus, Gott und Satan, Oben und Unten (in der Dominanzhierarchie), Verantwortung (für das eigene Leben und Tun) und Schwäche (der Versagertypen), Ordnung und Chaos, Männlich und Weiblich, Selbstveränderung und Weltverbesserung unterscheidet. Wenn man bedenkt wie komplex und vielschichtig die Realität (und das eigene Leben!) manchmal sein kann, erscheint mir das ein wenig unglücklich. Wenn es nur zwei Seiten gibt, wird man immer unwillkürlich dazu gedrängt, sich für eine zu entscheiden. Das fällt (zumindest mir) nicht immer leicht. Wenn das Leben dich niedergestreckt hat und du bis zum Hals in der Scheiße steckst, steh auf, mach den Rücken gerade, übernimm Verantwortung für dich selbst und deine Umgebung, räum dein Zimmer auf, such dir einen Sinn, verfolge ein Ziel, drück dich klar aus, sag die Wahrheit, schwöre dem reinen Nutzendenken ab, verzichte auf schlechte Angewohnheiten usw. Die Botschaften sind jedesmal einfach, klar, einleuchtend, vernünftig und von einer sagenhaften Überzeugungskraft. Aber nicht nur, dass aus dem Chaos und den dunklen Seiten des Seins viel Kreativität erwachsen kann, zeigt doch Petersons Tätigkeit als klinischer Psychologe, dass es viele Menschen gibt, bei denen diese — man möchte fast sagen eindimensionalen — Reiß-Dich-am-Riemen-Botschaften nicht oder nicht gut funktionieren. ((Peterson ist ein superkluger Typ und weiß das mit Sicherheit. Ich nehme an, dass er mit Absicht diesen vereinfachenden Stil benutzt, um möglichst verständlich mit größtmöglicher Motivationskraft eine Menge Menschen zu erreichen, denen intellektuelles Denken sonst eher fremd ist. Er unterbreitet ein Angebot und tut dies mit seiner herausragenden Erfahrung im Umgang mit menschlichen Problemen. Es bleibt natürlich jedem selbst überlassen, dieses Angebot zur Lösung der eigenen Probleme in Erwägung zu ziehen oder nicht.)) Andererseits würde es so manchem selbsternannten Revolutionär oder Aktivisten von heute nicht schaden, Petersons vehementen Appell für mehr Selbstverantwortung ernstzunehmen.
"Machen Sie nicht den Kapitalismus oder linksgrüne Spinner oder die Bosheit Ihrer Widersacher für Ihre Misere verantwortlich. Versuchen Sie nicht, die bestehenden staatlichen Verhältnisse zu ändern, ehe Sie Ordnung in Ihre eigenen Erfahrungen gebracht haben. Ein bisschen Demut kann Ihnen nämlich nicht schaden. Wenn Sie nicht einmal in Ihren eigenen vier Wänden Frieden schaffen können, wie kommen Sie dann darauf, Sie könnten eine Stadt regieren? ((Peterson, 12 Rules for Life, S. 250))
Dass Peterson das Chaos als feminin und die Ordnung als maskulin kategorisiert, ist ein gefundenes Fressen für die ganzen Möchtegern-Progressiven, die keine Ahnung von Mythenforschung, Psychoanalyse oder Philosophie haben und keinen Millimeter rechts oder links ihrer ideologischen Scheuklappen denken können. Man muss verstehen, dass wir mittlerweile in einem System leben, in dem jemand zum Feindbild werden kann, der so eine Selbstverständlichkeit wie "Du bist verantwortlich für das, was in deinem Leben passiert." sagt. Es ist ja auch viel bequemer andere oder die ganze Gesellschaft für das eigene Versagen in die Schuld zu nehmen. Wenn man etwa das grandiose Kapitel 5 über den Umgang mit Kindern liest ("Lass nicht zu, dass deine Kinder etwas tun, das sie dir unsympathisch macht."), wird einem klar, warum Peterson sich den Hass derjenigen zuzieht, die ihre eigene Schwäche und Orientierungslosigkeit mit Pädagogik verwechseln und Beliebigkeit mit Erziehung. ((Wenn man heutzutage junge Eltern mit ihrem Nachwuchs beobachtet oder gemeinsam mit ihnen Zeit verbringt, spürt man oft instinktiv, dass hier etwas gewaltig schiefläuft, kann es aber nicht genauer erklären. Kapitel 5 über die Kindererziehung ist deswegen grandios, weil es den Umgang mit und die Erziehung von Kindern wieder auf wenige, funktionierende Prinzipien reduziert und einem plötzlich klar wird, was der Fluch der ganzen antiautoritären Überpädagogik eigentlich für die Zukunft von Kindern bedeutet. Man sollte allen frischen Eltern die Regel 5 in Kopie in die Wiege legen, zumindestens aber den Absatz über die wenigen Einzelregeln auf S. 223))
"Wir müssen Verantwortung übernehmen anstatt unaufhörlich auf unseren Rechten zu beharren. Wir müssen Erwachsene werden anstatt gealterte Kinder." ((Quelle: https://de.sott.net/article/27740-Prof-Jordan-Petersons-Neujahres-Botschaft-an-die-Welt))
Beim Lesen dieses Buches begreift man schnell, dass der Vorwurf, Peterson würde rechte Positionen bedienen oder legitimieren, entweder gewollt bösartig oder schwachsinnig ist. Die Tatsache, dass jemand konsequent zu seinen Überzeugungen steht und dafür auch noch gute Argumente vorbringen kann, macht ihn nicht zu einem gefährlichen Prediger. Das Gefährliche an Peterson ist lediglich, dass er auf eine brillante, einleuchtende und mit dem gesunden Menschenverstand nachvollziehbare Weise einer bestimmten Ideologie in die Quere kommt und allein deshalb zur Verunglimpfung freigegeben ist. Im Gegensatz zu vielen anderen Personen, denen es ebenso ergeht, ist jedoch Petersons Persönlichkeit authentisch und integer, was ihn sympathisch und gegen hasserfüllte, ideologisch motivierte Angriffe unangreifbar erscheinen lässt. Zu dieser Art von Angriffen gehört auch die Behauptung, Peterson wäre quasi die intellektuelle Stimme des alten (wahlweise auch jungen) weißen Mannes und würde vorrangig nur zu dieser Bevölkerungsgruppe sprechen. Das vorliegende Buch entlarvt das für jeden erkennbar als Blödsinn, denn der Autor hat Frauen jeden Alters eine ganze Menge zu sagen und ohne jeden Zweifel profitieren Frauen ebenso wie Männer von seinem Wissen und seiner Philosophie, mit den Widrigkeiten des Lebens fertig zu werden.
"Die dominante Kultur rückt immer weiter weg vom gesunden Menschenverstand, also braucht es jemanden, der dafür kämpft. In Zeiten, in denen ideologischer Druck herrscht, gewisse Dinge zu sagen und andere Dinge nicht zu sagen, und in denen die Leute in ihrem Herzen wissen, welche Dinge wahr sind, steht die Bühne weit offen für solche Denker." (Jonathan Haidt) ((Quelle: https://www.nzz.ch/feuilleton/er-ist-ein-anhaenger-der-evolutionaeren-psychologie-und-die-leute-haengen-an-seinen-lippen-aber-hat-jordan-peterson-auch-recht-ld.1425352))
Die Prämisse, die das ganze Buch durchzieht, lautet schlicht und ergreifend: Das Leben, das ganze Sein, die Existenz ist (immer auch) Leiden. Es kommt der Tag, an dem du nicht weiter weißt und wenn du nicht vorbereitet bist, hast du kaum eine Chance wieder auf die Beine zu kommen. Deswegen musst du charakterstark sein, einiges abkönnen und nicht nur für dich, sondern auch für andere einen Halt bilden. Das Leben ist nichts für Jammerlappen. "Reiß dich zusammen. Härte dich ab!" ((Peterson, 12 Rules for Life, S. 492)) Um uns hilfreiches Rüstzeug für das Überleben an die Hand zu geben, holt Peterson gewaltig aus. So gewaltig, dass das Buch teilweise inkonsistent wirkt, weil man nicht mehr weiß, an welcher Stelle der Gedankenkette man sich gerade befindet und warum man dort ist. ((Ein Beispiel dafür ist das Kapitel 11 "Störe nicht deine Kinder beim Skateboard fahren". Es beginnt mit einer Geschichte darüber, wie man jungen Leuten das Skateboardfahren in der Öffentlichkeit aberziehen will. Es folgt eine weitere persönliche Geschichte, ein Exkurs über Gleichmacherei, ein umfangreiches Zwischenstück über die politische Weltanschauung des Autors und die neomarxistische Postmoderne, danach etwas zur Benachteiligung von Jungen und der Rolle von Müttern, über männliche Gruppendynamik und die Notwendigkeit der Abhärtung. Es ist nicht einfach, diesen Bogen wirklich auszuhalten und um das Verständnis zu ringen, was genau Peterson an dieser Stelle eigentlich sagen will.)) Er erzählt Geschichten, von Patienten und aus dem eigenen Leben, er zitiert Nietzsche, Freud, Adler und Jung. Und er liebt den religiösen Diskurs, die Bibelexegese und das mythische Denken. Für Leute, die so ihre Schwierigkeiten mit dem Christentum haben oder gar für Atheisten macht das die Lektüre an manchen Stellen unter Umständen anstrengend. ((Peterson soll irgendwo gesagt haben, dass er nicht an Gott glaubt, sich aber so verhält, als gäbe es einen. Er greift jedoch so oft und ausführlich auf die Bibel und die christliche Heilsgeschichte zurück (inkl. langer Bibelexegese-Vorträge auf Youtube), dass man ihm diese Aussage kaum glauben mag. Sein Faibel für die christliche Religion ist offensichtlich. Allerdings besitzt er ein großes Talent, die metaphysische oder psychoanalytische Essenz aus den religiösen Mythen herauszuschälen und für seine Argumentation ins Feld zu führen.))
"Glaube hat nichts zu tun mit kindlichem Wunderglauben — aus Unwissenheit oder vorsätzlichem Nicht-wissen-Wollen. Glaube bedeutet vielmehr erkennen, dass der tragischen Irrationalität des Lebens mit einem gleichermaßen irrationalen Beharren auf den essenziell guten Seiten des Daseins begegnet werden muss." ((12 Rules for Life, S. 184))
Wenn man sich von all diesen kleineren und größeren Schwierigkeiten nicht abhalten lässt, kann "12 Rules for Life" ein wirklich gewinnbringendes und für das eigene Leben fruchtbares Buch sein. Man merkt ihm an, dass es nicht aus einem Guss geschaffen, sondern aus den Beiträgen in einem Online-Forum zusammengestellt wurde. ((Bei diesem Forum handelt es sich um das Portal quora.com.)) Es hat so viele Ebenen, dass manchmal weniger etwas mehr gewesen wäre. Auf der anderen Seite gibt es reichhaltig geniale Sätze und Botschaften, die das eigene Leben und Verhalten zur Disposition stellen und wirklich etwas bewirken können. In meinen Augen hat das Buch nicht dort seine Stärken, wo es philosophisch und psychoanalytisch weit ausholt (auch wenn das Petersons Faible ist), sondern in den konkreten Lebensbezügen, den Geschichten, den Erfahrungen eines Psychologen, Ehemannes und Familienvaters, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht, in den gesunden, nachvollziehbaren Argumenten für ein besseres Leben und einer geradezu heilsam wirkenden Erdung in einer Zeit, die immer verrückter wird. Diese Lektüre ist erstaunlich anders und lässt einen beeindruckt zurück. Sie hat tatsächlich das Potential das eigene Leben zu verändern. In diesem Sinne kann ich es interessierten Lesern mit gutem Gewissen empfehlen.
Foto Jordan B. Peterson: Foto by Gage Skidmore (Quelle Wikimedia Commons — Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Generic)