Adieu Piraten!
I
Für jemanden, der sich nie vorstellen konnte, mal in eine politische Partei einzutreten, ging es 2009 bei mir dann doch erstaunlich flott. Ich hatte schon ein paar Monate vorher über einen Arbeitskollegen (natürlich IT'ler) von den Aktivitäten dieser ominösen Piratenpartei gehört und verfolgte seitdem im Netz sporadisch deren Aktionen. Was die da sagten und taten, schien so gar nicht in den herkömmlichen Parteienzirkus zu passen, der mich als überzeugten Nichtwähler schon lange einfach nur ankotzte. Besonders gefiel mir der Slogan "Nicht links, nicht rechts, sondern vorn!". Da gab es also Leute, die das große Theaterspiel auf der politischen Bühne verstanden hatten und nun die Spielverderber sein wollten. Die Piraten sahen sich offenbar mehr als Bürgerrechtsbewegung und Antiparteien-Partei und waren zudem digital gut vernetzte Aktivisten gegen den Überwachungsstaat und für den Schutz der Privatsphäre. Es ging auch um die Bekämpfung von Lobbyismus und Korruption, um freies Wissen, ein zeitgemäßes Urheberrecht, direkte Demokratie und Transparenz in der Politik. Ich glaube, meine eigene Hoffnung, dass da endlich mal eine neue, unbelastete Kraft das System konsequent hinterfragen und von innen heraus angreifen und verändern wollte, wurde von vielen Leuten in dieser Zeit geteilt.
Auf dem Campus der Uni stolperte ich wenig später über einen Infostand der Piraten Jena, an dem Unterschriften für die kommende Bundestagswahl gesammelt wurden. Ich unterschrieb und ein paar Tage später stand ich selbst mit am Stand und sprach Leute an. Ich wurde Parteimitglied. Mein Leben bei den Piraten hatte begonnen.
II
Jeder, der mich persönlich kennt und jeder, der hin und wieder etwas von mir liest, weiß, dass ich (auch) ein politischer Mensch bin. Oder profaner gesagt, so ein Weltverbesserer-Typ, der an den unsäglichen Zuständen auf diesem Planeten immer ein bisschen mitleidet. Wenn ich mich in etwas hineinstürze, dann richtig oder gar nicht. Im nachhinein vergleiche ich den Eintritt in eine Partei mit einer neuen Liebesbeziehung. Am Anfang macht Liebe blind und die ganzen Merkwürdigkeiten und Macken, die einem hätten auffallen müssen, übersieht man nur allzu gern. Auf einem der ersten Stammtische in Jena saß ich neben einem Typ, der mir versicherte, dass er es nicht ertragen könne, wenn ein Mensch ihm zu nahe käme oder ihn gar ungefragt berühren würde. Es gab die unvermeidlichen Nerds und Geeks. Es gab nur sehr wenige Frauen, die ... nun ja ... auch eher nerdig waren. Ich hege eine große Sympathie für alle möglichen Lebensentwürfe und daher ist das überhaupt nicht negativ gemeint. Die entscheidende Frage wurde allerdings schon damals nie gestellt: Was wollen diese eher schrägen Leute in einer politischen Partei? Für wen würden sie Politik machen wollen? Und wollten sie überhaupt Politik machen?
III
Die Partei wuchs rasant. Wir hielten in Jena in einem kleinen historischen Wirtshaus unsere öffentlichen Stammtische ab. In unseren besten Zeiten kamen mehr als 30 Leute, die die ganze erste Etage füllten. Ich erinnere mich an einen dieser Abende, an dem der Kreisverband mal eben ein ganzes Dutzend Arbeitsgruppen aus der Taufe hob. Für jede dieser AGs fand sich irgendjemand, der das jeweilige Thema in Schwung bringen wollte. Es gab nichts, was es nicht gab: Umwelt, Wirtschaft, Wikipflege, Hochschulgruppe, innerparteiliche Demokratie, Eltern-LAN, Teen-Court, Religion und Religionsfreiheit, Pressearbeit, Mitgliederwerbung und so weiter und so fort. Für den Kreisverband einer 100000-Einwohner-Stadt schien es mir dagegen am angemessensten, sich mit der örtlichen Kommunalpolitik zu befassen. Die AG Kommunalpolitik, die ich einige Zeit später als Koordinator übernahm und viele Jahre quasi als mein Steckenpferd betreute, blieb die einzig aktive Arbeitsgruppe des Kreisverbands. Alles andere hatte sich bald in Geschwätz und heißer Luft aufgelöst. ((In regelmässigen Abständen unternahmen wir Versuche, eine Hochschulgruppe zu etablieren. Selbst über Jahre hinweg und mit verschiedenen Werbeaktionen lockten wir damit keinen einzigen Studenten außerhalb des Piratenumfelds hinterm Ofen hervor.))
An dieser Stelle kristallisierte sich das nächste Problem der Piraten heraus. Die meisten Mitglieder hatten kein Interesse an anstrengender politischer Arbeit. Pressemitteilungen, stapelweise Dokumente aus dem Stadtrat lesen, Beschlussvorlagen erarbeiten, sich bei verschiedenen Themen erstmal schlau machen, mit anderen politischen Akteuren reden — all das macht Mühe und in der Regel nicht so den piratigen Spaß, den alle in dieser Partei erwarteten. Es gab diesen Trend zu Little-Pony-Videos, Bällebädern, Awareness-Teams und Mumble-Sitzungen, damit sich alle wohlfühlen. Wenn eine Partei es als Aufgabe ansieht, Leute in Antidiskriminierungsstuhlkreisen zu versammeln, die besser in einer Psychotherapie aufgehoben wären, geht etwas gewaltig schief. Dieser Trend war auf den Bundesparteitagen, zu denen ich regelmässig fuhr, noch viel auffälliger zu beobachten.
Auf den Thüringer Landesparteitagen fanden die für die Piraten so typischen GO‑, Satzungs- und Programmantragsschlachten statt. ((GO = Geschäftsordnung)) Es gab endlos Offensiven für irrwitzige Themen, die außerhalb der Partei niemanden interessierten. Wir versenkten ganze drei Landesparteitage in der Tonne, weil es um nichts anderes ging als das Wahlrecht ab 0 Jahre. ((Ja, richtig gelesen. Es ging um die Frage, dass das Wahlrecht für jeden gelten sollte und damit auch für Säuglinge. Der Antrag wurde auf jedem LPT anders verpackt wieder neu gestellt. Und jedes Mal abgelehnt. Zum Schluss einigte man sich darauf, das Wahlrecht ab 14 zu fordern.)) Es bildete sich ein vorrangig von Jenaer und Gothaer Piraten bestückter realpolitischer Kern, der die Politromantiker, Träumer und Spinner regelmässig ausbremste. Zu dritt setzten wir uns wenige Tage vor einem Landesparteitag beim Bier zusammen und betrieben provokatives Brainstorming. Dann fluteten wir den Parteitag mit einem Dutzend Anträgen, unter denen einer zur Auflösung der EU noch der harmloseste war. Die utopische Fraktion, beschäftigt mit dem Gendern der Satzung, Liquid Feedback, Quote und der Moderation der Mailingliste, brachte das zur Weißglut. Es gab nicht wenige Leute, denen es gleichgültig war, ob wir gewählt werden oder nicht. Die Debatten drehten sich oft nur um die eigenen Ideale und ‑ismen, die man in irgendeinen Programmpunkt gießen und damit zementieren wollte. Pragmatiker, die politische Macht in Parlamenten anstrebten, waren in der Unterzahl und lösten regelmässig Unverständnis und Mißtrauen aus.
IV
Obwohl man sich als Bürgerrechtsbewegung definiert(e), hatten und haben die Piraten so ihre Probleme mit dem stinknormalen Bürgertum. Hin und wieder verirrten sich einfache Leute zu unseren Stammtischen. Angesichts der dortigen Diskussionen über Liquid Feedback, Linux und PGP-Verschlüsselung, Wiki-Inhalte, Satzungsänderungen und absonderlichen Parteiquark kam keiner von ihnen wieder. Ich erinnere mich an eine gut besuchte Infoveranstaltung für Neupiraten, die wir in einem altehrwürdigen Jenaer Hotel anboten. Die Piraten waren mittlerweile in aller Munde. Als Gäste waren sogar ortsansässige Anwälte zugegen, die offenbar tatsächlich in die Partei eingetreten waren. Doch nach einem hochgestochenen Vortrag über Piratenphilosophie und dem üblichen Überwachungs- und Verschlüsselungsnerdkram wurde von denen nie wieder jemand gesichtet. Das Volk suchte händeringend nach einer Protestpartei und die Piraten gaben sich alle nur erdenkliche Mühe, die — sicherlich zu hohen — Erwartungen zu enttäuschen.
Obwohl man auf der einen Seite mit dem einfachen Volk nicht so richtig warm wurde, konnten sich auf der anderen Seite alle möglichen, selbst sich gegenseitig ausschliessenden Strömungen in der Partei zu Hause fühlen. Die Partei positionierte sich für den Kernkraftausstieg? Sofort gab es eine AG, die als Nuklearia bezeichnet, für das Gegenteil eintrat. Es gab die BGE- und die Anti-BGE-Fraktion. ((BGE = Bedingungsloses Grundeinkommen)) Trat die Partei für den unbedingten Schutz der Privatsphäre ein, erschienen sofort Piraten auf der Bildfläche, die als Postprivacy-Propagandisten das alles für Unsinn hielten. Die Umweltaktivisten fanden ihre Gegner in Gentechnik-Befürwortern, die einen wollten gern digitale Basisdemokratie und wurden sofort von Wahlcomputer-Kritikern und Sicherheitsenthusiasten angegangen. Feministinnen und Gendermainstreaming fanden ihr Gegenüber in Männerrechts-AGs. Man wollte die Partei des Grundgesetzes und der Verfassungstreue sein und zählte haufenweise Radikale in den eigenen Reihen, die das System bekämpften. Die Partei ersoff regelrecht im grenzenlosen Individualismus ihrer Mitglieder. Jeder hielt sein eigenes Süppchen am Kochen. Selbst wenn sich die Partei auf eine Haltung zu einem bestimmten Thema festgelegt hatte, bedeutete das gar nichts. Im basisdemokratischen Schwarm durfte sich jeder zu Wort melden und alles wieder neu in Frage stellen. Was die Bundespartei beschlossen hatte, wurde auf Landesparteitagen wieder ganz anders gesehen und andersherum. Nach außen auf einen gemeinsamen, allgemeinverständlichen und schlagkräftigen Nenner zu kommen, war so undenkbar. Um jeden Halbsatz im Programm wurde gestritten. Die Vorstände sollten nur verwalten und wenn sie sich anmaßten, auch mal das Heft in die Hand zu nehmen, wurden sie bekämpft. Sie sollten zwar die ungeliebte Verwaltungsarbeit machen, aber ja nicht das Maul aufreißen. Selbst wenn sich die Positionen offensichtlich widersprachen, waren alle der Meinung, in der richtigen Partei zu sein. Die noch heute oft gestellte Frage "Wofür stehen die Piraten eigentlich?" war damals schon schwer zu beantworten.
V
Womit wir bei den Linken und damit bei den Sargnägeln der Partei angelangt sind. 2012 entbrannte plötzlich eine Diskussion, ob die Piratenpartei nicht still und heimlich von Nazis unterwandert wurde. "Wie rechts darf ein Pirat sein?" Diese Frage warf hohe Wellen, auch in den Medien. Die Partei war den Mächtigen wohl zu gefährlich geworden. Jetzt musste man sie aus den Angeln heben. Das ging erstaunlicher Weise ganz leicht. Statt zu den eigenen Maximen zu stehen, bekam die Partei Fracksausen. Man hatte Angst sich die angehäuften Sympathien zu verscherzen, in dem man sich nicht eindeutig genug gegen Rassismus, Sexismus, Faschismus usw. aussprach. Wie aus dem Nichts heraus (jedenfalls für mich als Basismitglied) gab es plötzlich innerhalb der Partei Gruppen, die zu einer radikalen ideologischen Positionierung aufforderten. Die Pirantifa erschien auf der innerparteilichen Bühne und wollte nichts weniger als eine Unvereinbarkeitserklärung mit allem, was auch nur ansatzweise jenseits des linken Spektrums agiert. Linksextremismus war allerdings kein Problem. Die Jungen Piraten folgten. Gemäßigtere Parteifunktionäre, die mit solchen Abgrenzungen ein Problem hatten, wurden massiv gemobbt und mit Rücktrittsforderungen konfrontiert. Es passierten hässliche Dinge, die man bei den Piraten nie für möglich gehalten hätte. Die viel gerühmte Schwarmintelligenz versagte. Diejenigen, die am lautesten, penetrantesten, egomanischsten und aggressivsten auftraten, eroberten die Meinungshoheit über die Partei. Die Zeit der Höfinghoffs, Schramms, Lauer, Helms und anderer unsäglicher Gestalten war gekommen — eine Mischung aus Selbstdarstellern, Karrieristen, Radikalen und Weit-Außen-Ideologen, die die Piratenpartei als Surfbrett für ihre wie auch immer gearteten Ziele missbrauchten. Die Durchschnittspiraten waren dem nicht gewachsen. Die Digital Natives fürchteten die Stigmatisierung und den Shitstorm im Netz. Statt für direkte Demokratie und Bürgerrechte zu streiten und den Altparteien einzuheizen, trafen sich nun „Piraten mit weiblichem Vornamen, transsexuelle Eichhörnchen und selbsternannte Piratinnen“ im "Kegelklub" und diskutierten über "Weiblichkeit". Mit den Piraten ging es bergab und jeder konnte es sehen. Die Wähler, die in die Piraten all ihre Hoffnung auf ein überfälliges Update der Demokratie gesetzt hatten, liefen in Scharen davon.
2014 schrieb ich einen Artikel "Piraten: Nicht links, nicht rechts", in dem ich zum ersten Mal klar und deutlich meinen Widerwillen gegen diese Entwicklung zu Papier brachte. ((Noch heute sind die Kommentare darunter lesenswert.)) Ich war beileibe nicht der Einzige, dem es so ging. Wie im Großen, so auch im Kleinen. Selbst im Landes- und Kreisverband setzte eine klar erkennbare Spaltung ein. Auf einem Landesparteitag wurden plötzlich Poster mit Slogans angebracht, die angeblichen Sexismus anprangern sollten. Der Genderwahn griff rasant um sich. Man war links, Antifa, antirassistisch und antisexistisch, antidiskriminierend und überhaupt anti gegen das Übel der Welt. Wollte man sich dem allgemeinen agitatorischen Druck entziehen, gehörte man zum anderen Lager, das bekämpft wurde. Mich irritierte das gewaltig. Waren die Piraten nicht mal als liberale Kraft der digitalen Revolution angetreten? Ging es nicht ursprünglich um Freiheit? Freiheit im Netz? Meinungsfreiheit? Freiheit von ideologischen Scheuklappen? Wollten wir nicht "die mit den Fragen" sein, die offen für die Probleme und Sorgen der einfachen Bürger waren und nach pragmatischen Lösungen suchten? Aus welchem Grund sollte man wohl linker als die Linkspartei sein wollen? Statt endgültig die bundesdeutsche Politik zu entern, wurden die Piraten selbst geentert.
VI
2012 wurde ich als Politischer Geschäftsführer in den Vorstand des Kreisverbands gewählt. Mit Hochdruck arbeiteten wir in der AG Kommunalpolitik an der Vorbereitung der Kommunalwahl 2014, bei der wir in Jena das erste Mal antraten. Wieder war Durchhaltevermögen, Fleiß und Zielgerichtetheit gefragt. Ein wenig Unbescheidenheit muss sein um feststellen zu dürfen, dass es ohne mich das Kommunalwahlprogramm der Piraten Jena inhaltlich und physisch nicht gegeben hätte. Überall in der Stadt waren Piraten politisch am Werkeln: im Umfeld des Stadtrats, im Bürgerhaushalt, im Arbeitskreis Nahverkehr, in Bürgerinitiativen wie "Mein Eichplatz", mit Bürgeranfragen und Einwohneranträgen. Mir hat am Kreisverband Jena immer gefallen, dass es da diesen harten Kern gab, der an den Themen dran blieb und ernsthaft politischen Erfolg anstrebte. Es war nicht die schlechteste Zeit. Wir machten uns Hoffnung auf eine Fraktion im Stadtrat.
Gleichzeitig dissoziierte die Partei immer weiter auseinander. Der linke Flügel gründete die progressive Plattform. Ein Rohrkrepierer. Mit bestimmten Leuten geriet man regelmäßig aneinander. Mir waren das ganze ideologische Geschwätz und die Sinnlos-Diskussionen zuwider. Je mehr ich mich für die Piraten engagierte, umso mehr wehrte ich mich gegen die Abwärtsspirale. Es war zum Verzweifeln. Die Zeit für eine neue Partei war günstig wie nie. Die FDP war aus dem Bundestag geflogen. Die Lücke in der liberalen Mitte der Gesellschaft war offensichtlich. Mir ist heute rätselhafter denn je, warum die Partei lieber mit Vollgas gegen die Wand fuhr, anstatt diese Chancen zu nutzen. Es gab kein Immunsystem in der Partei, das sich hätte wehren können. Später würde man mir vorwerfen, ich hätte durch meinen polemischen Ton den halben Kreisverband vertrieben. Wer an dieser Stelle von mir Reue und Bedauern erwartet hat, den muss ich enttäuschen. Der Vorwurf stammte einfach aus der ideologischen Ecke, die den unerwartet starken Gegenwind von mir und mindestens zwei weiteren alten weißen Männern nicht verwinden konnte.
Bei der Kommunalwahl erreichten wir in Jena 4.6 % und zogen mit 2 Piraten in den Stadtrat ein. Für mich als Nummer Drei auf der Liste reichte es nicht. Angesichts des heutigen Zustands der Piraten und angesichts des unglaublichen Stress- und Arbeitslevels der beiden Stadträte bin ich darüber mittlerweile ganz froh. Für die Ausschüsse brauchte die neue Zählgemeinschaft FDP/Piraten auch sogenannte Sachkundige Bürger, die im Gegensatz zu den gewählten Stadträten nicht stimmberechtigt sind. In dieser Funktion sitze ich immer noch im Stadtentwicklungsausschuss.
VII
Wie zu Beginn, so ist es auch am Schluss mit einer Parteimitgliedschaft wie mit einer Liebesbeziehung. Man spürt schon lange vorher, dass da nichts mehr ist, was zusammenpasst. Man möchte das Ende nicht wahrhaben und zögert es hinaus, bis es fast unerträglich wird. Erst dann findet man die Kraft, um die Reißleine zu ziehen. In Jena ist die gesamte Parteibasis weggebrochen, außer den beiden Stadträten gibt es faktisch keine politisch wahrnehmbaren Piraten mehr. KV und Vorstand sind nicht mehr handlungsfähig und werden ab Januar satzungsgemäß auch den rechtlichen Boden unter den Füßen verlieren. Als letzter Strohhalm wurde vom Land die Gründung eines Regionalverbands Weimar-Jena vorgeschlagen. Allerdings wäre das auch nur eine verwaltungstechnische Notlösung, die an der insgesamt prekären Situation der Partei nichts ändern würde. Wenn eine Partei fortgesetzt und beharrlich die Auseinandersetzung damit verweigert, warum man quasi die gesamte eigene Wählerschaft verprellt hat und daraus keine Konsequenzen ziehen will, gibt es keine politische Zukunft für diese Partei. Die von mir so oft gestellte Frage, für wen wir eigentlich Politik machen wollen, scheint nach wie vor nur wenige Kommunalpiraten umzutreiben, während die Partei als solche weiter ideologisch vordefinierten Utopien und Parallelwelten hinterherrennt. Die Tatsache, dass man sich dabei als äußerst wichtig und unverzichtbar empfindet, täuscht nicht darüber hinweg, dass man Lichtjahre von der Realität, dem Leben und den Nöten ganz normaler Leute entfernt ist. Das hat auch die kürzliche Pressemitteilung der Bundespartei zur G20-Razzia, in der man sich völlig undifferenziert und pauschal hinter linksradikale Gewalttäter stellt, wieder eindringlich gezeigt. Das Außenbild, das man sich damit gibt, entspricht nicht meiner politischen Überzeugung und ich habe auch keine Lust mehr, mich in meinem privaten und kollegialen Umfeld für so etwas zu rechtfertigen.
VIII
Nicht zuletzt, weil die beiden Jenaer Piraten-Stadträte eine in meinen Augen ausgezeichnete Arbeit machen, habe ich lange mit mir gehadert, die Piraten zu verlassen. Mir ist in den letzten Monaten immer mehr klar geworden, dass ich zu viel Kraft und Energie lediglich in die Hoffnung und Erwartungshaltung vergeudet habe, dass sich nochmal etwas bei den Piraten ändert und eine Rückbesinnung auf die eigenen Werte durch die Partei geht. Stattdessen wird lediglich der Untergang tapfer verwaltet. Dieser Verlust an Energie ohne Rückkopplung hat sich negativ auf meine Gesundheit und mein sonstiges Leben ausgewirkt.
Die zurückliegenden Jahre waren für mich außerordentlich wertvoll. Ich habe viel über politische Arbeit gelernt, interessante und wertvolle Menschen kennengelernt und immer mit Idealismus und Engagement für die Sache gestritten. Dass die Piraten das einzigartige historische Fenster, das sich für sie geöffnet hatte, nicht genutzt haben oder nicht nutzen konnten, ist halt so wie es ist. Ein Versuch war es wert. Und die Fehler, die gemacht wurden und weiterhin in der Partei gemacht werden, muss sich jeder Pirat auch selbst auf seine Fahne schreiben. Das gilt natürlich für mich genauso. Ich kann mir vorstellen, dass ich für einige ein unbequemer oder gar anstrengender Mitstreiter gewesen bin. Eine Partei ist kein Ponyhof und keine Selbsthilfegruppe.
IX
Nicht nur innerhalb der Partei, auch außerhalb der Partei hat sich viel verändert. Auch mein eigenes politisches Denken hat sich verändert, ist werteorientierter und konservativer geworden. Vielleicht ist das auch ein Stück weit das Ergebnis meiner Erfahrungen in einer Partei, die mal ursprünglich etwas ganz Anderes und Neues versuchen wollte und dann doch nur eine Bruchlandung als digitale MLPD hingelegt hat. Eine andere neue, dieses Mal rechte Partei, bündelt nun den berechtigten Protest, die Hoffnungen, Sorgen und Erwartungen der Bürger. Das ist eine logische Entwicklung und auch eine Folge des Versagens der Piraten. Ich könnte mir vorstellen, dass wir angesichts der Probleme in diesem Land mal an einen Punkt kommen, wo man eine moderate, vernünftige, liberale und bürgernahe Piratenpartei hätte gut gebrauchen können. Leider werden dann vermutlich ganz andere Kräfte das Schicksal dieses Landes bestimmen. Man kann nicht ins Wasser springen, um sich anschliessend zu wundern, dass man nass geworden ist. Die Radikalen mit ihren großen Ideen und Projektionen haben die Welt noch nie zum Besseren verändert. Eher trifft das Gegenteil zu. Und Leute, hört endlich auf, bunte Bildchen mit Hashtags mit Politik zu verwechseln.
X
"Es gibt aber, nicht nur in der deutschen Kultur, aber in ihr ganz besonders, die Versuchung zum Kurzschluß zwischen Romantik und Politik. Ein Verkennen der Grenzen der politischen Sphäre, in der pragmatische Vernunft, Sicherheit, Übereinstimmung, Friedensstiftung, Gerechtigkeit maßgeblich sein sollten, nicht Abenteuerlust, Wille zum Extrem, Intensitätshunger, Liebe und Todeslust. [...] Das Romantische liebt die Extreme, eine vernünftige Politik aber den Kompromiß. Wir brauchen beides: die Abenteuer der Romantik und die Nüchternheiten einer abgemagerten Politik. Wenn wir die Vernunft der Politik und die Leidenschaften der Romantik nicht als zwei Sphären begreifen und als solche zu trennen wissen, wenn wir statt dessen die bruchlose Einheit wünschen und uns nicht darauf verstehen, in mindestens zwei Welten zu leben, dann besteht die Gefahr, daß wir in der Politik ein Abenteuer suchen, das wir besser in der Kultur finden, oder daß wir, umgekehrt, der Kultur dieselbe soziale Nützlichkeit abfordern wie der Politik. Wünschenswert aber ist weder eine abenteuerliche Politik noch eine politisch korrekte Kultur." ((Rüdiger Safranski; Romantik — Eine deutsche Affäre; Frankfurt/M. 2009, S. 346f. und 392f.))
Warum muss ich bei diesen klugen Sätzen immer an die Piraten denken?
XI
"Laß die Welt ihren Gang tun, wenn er nicht aufgehalten werden kann, wir gehn den unsern."
(Friedrich Hölderlin)
Siehe auch:
- Augen zu und weiter so
- Whisky und Piraten
- Profilschärfung
- Krieg ist sexy
- Ohne Bürger wird das nichts
6 thoughts on “Adieu Piraten!”
100% Zustimmung.
Leider wieder ein Pirat weniger in der gleichnamigen Partei. Pirat bleibst Du dennoch.
Wenn Du mal in Berlin bist geht der erste Drink auf mich.
Simon
Ich habe ganz ähnliche Erfahrungen gemacht und bin ebenfalls vor der Bundestagswahl 2009 eingetreten, allerdings seit mehr als 1,5 Jahren nicht mehr dabei.
Ich kann deine Ausführungen um einen Punkt ergänzen, und zwar dass zu vielen Mitgliedern selbst die grundlegendsten Regeln sozialen Verhaltens abgingen. Das zeigte sich nicht nur bei (durchaus auch kleinen) Konflikten, für die diese Leute überhaupt keine Lösungsansätze bis auf Mobben, Ausgrenzen und Verbaliniurien hatten, sondern auch im normalen Betrieb, wo auf menschliche Situationen nicht adäquat reagiert werden konnte (z. B. Trauerfälle etc.). Ich kam mir streckenweise vor wie in einem Camp für sozial Auffällige, wobei es natürilch auch Ausnahmen gab.
Ich bin nur noch froh, dass ich aus dem Laden raus bin. Mit einigen Ex- und Noch-Piraten bin ich immer noch befreundet, aber wenn es auf Twitter heißt "na, vielleicht kommst du ja wieder", dann kann ich nur ganz müde lächeln.
Anne, du verklärst aber die Vorgänge ganz schön. Ich möchte das Verhalten von Einzelnen auch gegenüber dir nicht beurteilen, da ist sicher vieles falsch gelaufen, aber was ich sicher weiß ist genau dein asoziales Verhalten, selbst erlebt bei Sitzungen wo du nichts anderes kanntest als andere als unfähig und Honks zu bezeichenn. Lies mal deine Mails dazu und frage dich mal selbst was du zu der Eskalation beigetragen hast. Du hast monatelang andere beleidigt, gemobbt ... Traurig wie man sich die Sache schönreden kann. Genau an diesem unnachgiebigen Verhalten sind die Piraten gescheitert.
Trotzdem einne guten Rutsch und alles Gute
Ein ziemlich guter Abriss woran und warum die Piraten gescheitert sind. In Rückblick bin ich nur froh schon 2012 mich zurückgezogen zu haben und mehr oder weniger den Niedergang beobachtend zugesehen hat. Wenn man überlegt wieviel Leute hier soviel Energie im gegenseitigen Niedermachen aufgewandt haben und reale Politik "liegen blieb". Was hätte man erreichen können wenn nur ein Bruchteil des gegeseitigen "Hasses" in Unterstützung der Abgeordenten oder Aktionen geflossen wäre. Auf der einen ist es schade wie es gelaufen ist auf der anderen Seite bin ich nur froh dass gewisse Gestalten nie in ein Parlament gewählt wurden. Leider haben vielel immer noch nicht verstanden warum die Piraten fast keiner mehr wählt.
Alles Gute hätte es mehr Leute deines Schlages gegeben wären die Piraten jetzt im Bundestag.
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