Fifty Shades of Boredom
"Wir haben keine Begierden. Wir sind die Opfer von Mißbrauch." (Hakim Bey)
Das Modekaufhaus unweit meiner Arbeitsstelle hat seine Schaufenster mit schwarzen und blutroten Klamotten dekoriert, darüber hängen Filmplakate von Fifty Shades of Grey. Die Regionalzeitung, die sonst nicht gerade mit boulevardesken Ausschweifungen glänzt, bringt an einem einzigen Tag vier Artikel zum Filmstart und dazu ein Foto, das die extra produzierte Fifty-Shades-of-Grey-Collection im hiesigen Beate-Uhse-Shop zeigt. Schwarze Augenbinden und Handschellen sind dort jetzt angeblich der Renner. Auf die Titelseite des Provinzblatts hat es eine Umfrage von Forsa im Auftrag des stern geschafft, bei der 24 % der Deutschen gestehen, "sadomasochistische Erotik" reizvoll zu finden. Es besteht kein Zweifel, die Harry-Potter-Welle für Erwachsene ist angelaufen.
Das Geschäft mit den unbefriedigten, uneingestandenen oder verdrängten Bedürfnissen läuft prächtig. Schon die Bücher von E. L. James haben sich weltweit mehr als 100 Millionen mal verkauft. Der Film wird das ebenso locker einspielen. Nun können die Spießer in die Kinos laufen und sich wenigstens einmal lasterhaft und verrucht vorkommen. Nun können all die Ehefrauen, die sich nicht daran erinnern können, wann sie das letzte Mal Sex mit ihrem Mann hatten, vom schönen dominanten Unbekannten träumen, der sie einfach so überwältigt ohne zu fragen. Aber genau da sind wir beim Thema und warum ich mich dazu hinreißen lasse, etwas darüber zu schreiben. Denn die vermeintlichen Tabus werden — wenn überhaupt — nur soweit angetastet, wie es für das Klingeln der Kassen gut ist.
Zugegebenermaßen ist es etwas schwierig, sich dekadent zu fühlen, wenn man gerade Hartz IV bezieht. Auch die überarbeitete Pflegekraft mit dem kaputten Rücken hat es nicht leicht, in die Rolle einer geilen Studentin zu schlüpfen. Dem Kanalarbeiter oder Tiefbauer fällt es sicher ebenso schwer, sich in einen Hugo-Boss-Anzug hineinzudenken und vielleicht ist er nach einer Woche Montage auch zu müde darüber zu grübeln, mit welcher Bondage-Variante er seine Frau gern mal schnüren würde und wünscht sich stattdessen lieber ein Bier. Den schönen Schein zu produzieren ist aufwändig. Aber das Kino wird das schon schaffen. Das hat bisher immer geklappt.
Ich frage Arbeitskolleginnen nach Fifty Shades of Grey. Natürlich haben sie die Bücher gelesen, natürlich sind sie ganz gespannt auf den Film und wollen ihn sich auf jeden Fall ansehen. Ich hake nach, ob sie denn auf BDSM stehen oder es gern mal ausprobieren würden. Würden sie sich beim Sex denn gern mal schlagen lassen? Oooooh! Wie kann er DAS jetzt fragen? Nein, natürlich nicht. Damit haben sie gar nichts am Hut. Das ist doch nur reine Unterhaltung. Achso. Das wusste ich nicht. Kann man von etwas begeistert sein, unter Umständen sogar fanatisch begeistert, das mit einem so gar nichts zu tun hat?
Auf eine gewisse Weise verstehe ich die Frauen. Einfach so Unterwerfungsfantasien zu gestehen, ist so politisch inkorrekt wie nie zuvor. Die Frau von heute soll ja feministisch denken, selbstbewusst und stark sein und keine Projektionsfläche für männliche Sexfantasien bieten. Sie soll im Gegenteil so tun, als würde sie das alles nichts angehen. Macht dir einer ein Kompliment oder guckt dir zu tief ins Dekolleté, dann starte einen #Aufschrei. Hält dir einer ungefragt die Tür auf oder will dir helfen, etwas Schweres zu tragen, lass ihn abblitzen, denn du bist stark genug, das allein zu tun. Läufst du aufgedonnert und im kurzen Röckchen durch die Stadt und Kerle baggern dich an, stell das sofort als anklagendes Video auf Youtube. Kommt dir der OneNightStand aus der letzten Nacht irgendwie komisch vor oder kannst du dich nicht mehr daran erinnern, was passiert ist, weil zu viel Alkohol im Spiel war — warte ein paar Wochen und dann zeig den Typ wegen Vergewaltigung an. Du darfst auf keinen Fall davon träumen, lustvolles "Opfer" in einem einvernehmlichen erotischen Rollenspiel sein zu wollen. Stattdessen bist du lieber ein alltägliches Opfer des bösen Patriarchats, dann kann wenigstens eine Ideologie aus deinen ganz normalen menschlichen Schwächen und Unsicherheiten prächtig Kapital schlagen.
Ist es nicht unglaublich interessant und absurd zugleich, dass eine hasserfüllte reine Lehre der Frauenbefreiung medienwirksam einen Feldzug nach dem anderen gegen die "Objektivierung des weiblichen Körpers" führt und selbst Werbeplakate mit zu viel nackter Haut wegen Sexismus verbieten will, während gleichzeitig Millionen Frauen in die Kinos rennen, um sich nur allzu gern — und sei es nur in der Fantasie — als williges Sexobjekt zu fühlen? Mittlerweile habe ich immer öfter den Eindruck, dass diese Gesellschaft in einer atemberaubenden Geschwindigkeit in die scheinheilige Doppelmoral und Prüderie der 50iger Jahre zurückrutscht. Nur dass es damals noch die Kirche und die konservative Vorstellung von Sitte und Anstand waren, die den Maßstab des Verhaltens vorgaben. Heute geben scheinbar intellektuelle, scheinbar alternative, scheinbar befreite, scheinbar zukunftsgewandte Kräfte den Ton an. Doch hinter der modernen Kulisse lauert die gleiche Leibfeindlichkeit, der gleiche dröge Fanatismus, die gleiche Arroganz allen vorschreiben zu wollen, wie sie zu leben, zu denken und zu begehren haben.
Ach, manchmal lob ich mir den ollen Freud. Der hätte heute nicht nur einzelne hysterische Patientinnen als Studienobjekt seiner Psychoanalyse, sondern gleich eine ganze Gesellschaft. Verdrängung, Tabuisierung, unterdrückte Wünsche, Projektionen, Gewalt. Während man fortlaufend an weiteren Verschärfungen des Sexualstrafrechts bastelt, während man bestrebt ist, jeden sexuellen Akt, der nicht auf einer eindeutig erklärten Zustimmung beruht, als Nötigung und Vergewaltigung zu deklarieren und zu ahnden, treibt die Natur des Menschen ihr Millionen Jahre altes Spiel und lässt sich von diesem Mumpitz wenig beeindrucken. Was die Kirche in zweitausend Jahren selbst mit Feuer und Schwert nicht geschafft hat, das werden wohl auch ein paar abgedrehte Ideolog_*Innen und Möchtegern-Moralwächter nicht schaffen. Wie in den fröhlichsten viktorianischen Zeiten wird sich allerdings die miefige Doppelmoral auf eine Weise weiter verhärten, dass man um die psychische Gesundheit einer ganzen Nation fürchten muss. Während man Kinder vor Sex schützen will und sogar unbedarfte Nacktfotos am Strand unter Strafe stellt, versucht man gleichzeitig einen "Aufklärungsunterricht" in frühen Klassenstufen zu etablieren, bei dessen Inhalten selbst Erwachsenen vor Scham die Sprache versagt. Während man Tonnen von Abscheu und Ekel auf Pädophile lädt und wahlweise Kastration oder Todesstrafe fordert, präsentieren uns die Medien ein Schönheitsideal, das nur dünne, kindliche und völlig haarlose Körper akzeptiert. Gleichzeitig überschwemmen japanische Manga- und Anime-Comics den Markt, in denen "Erwachsene", die wie kleine Jungs und Mädchen mit haarlosen Körpern und großen Kulleraugen aussehen, ficken was das Zeug hält. Wie schrieb Freud so schön: "Wenn die anderen die Übertretung nicht ahnden würden, müßten sie ja innewerden, daß sie dasselbe tun wollen wie der Übeltäter." (Totem und Tabu, Kap. 4–2)
Kommen wir zurück zu Fifty Shades of Grey. Was man darüber so lesen kann, bleibt es im Film natürlich nur bei Andeutungen. Wie könnte es anders sein. Ein Schwall von Prüderie, der so geschickt verpackt wird, dass man geradeso dem Irrtum verfallen könnte, hier würde ein Tabu gebrochen. Ein bisschen Nacktheit vielleicht, keine Geschlechtsorgane (Igitt!), etwas Fesseln, aber nichts Gewalttätiges, nichts Animalisches, nichts Obszönes. Dafür umso mehr Romanze, der Traum vom einen Eroberer und seiner liebreizenden Eroberung, von der einen Liebe. Hübsch inszenierte Perversionen, die keine sind und hinterrücks doch nur die Moral von vorgestern transportieren. Ausschweifungen, die nicht stattfinden. Höchstens im Kopf, denn dafür bezahlen ja alle. Ekstase, die gerade noch bis zum Griff ins eigene Portemonaie reicht. Achja, das Geschäft. Das brummt. Unausgelebte Begierden umgemünzt in wohlfeile bunte Ware. Nicht zu teuer, aber auch nicht ganz billig, nach kurzer Zeit langweilig und verramscht, wertlos wie chinesisches Plastikspielzeug.
"Diese haben also zu ihren Tabuverboten eine ambivalente Einstellung; sie möchten im Unbewußten nichts lieber als sie übertreten, aber sie fürchten sich auch davor; sie fürchten sich gerade darum, weil sie es möchten, und die Furcht ist stärker als die Lust. Die Lust dazu ist aber bei jeder Einzelperson des Volkes unbewußt wie bei dem Neurotiker."
(Sigmund Freud, Totem und Tabu, Kap. 4–2)
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